11. Januar 2019
"Das Berliner Publikum ist schwierig"
Interview geführt von Manuel BergerSchon mit ihrer ersten Solo-Single "No Roots" hinterließ Alice Merton nachhaltigen Eindruck in der Popwelt – längst nicht nur in Deutschland, wo sie studiert und ihr eigenes Label gegründet hat, sondern auch international. So ist sie eine von nur neun Frauen, die es auf Platz eins der US-amerikanischen Billboard Alternative Charts schaffte. Mit ihrem Debütalbum "Mint" zeigt die in Kanada aufgewachsene Musikerin, dass sie weit mehr als nur ein Song ist.
Scrollt man durch Alice Mertons Social Media-Accounts wirkt es fast, als wäre die 25-Jährige in den USA ansässig. Denn obwohl sie ihr Hauptquartier in Berlin aufgeschlagen hat, verbrachte sie einen Großteil des Jahres 2018 in den Staaten, tingelte von einem Festival zum nächsten und trat unter anderem bei Jimmy Fallon auf. Kein Wunder, dass sich der Releasetermin ihres Albumdebüts verzögerte. Zwischen all die Touraktivitäten auch noch Aufnahmesessions zu schieben ist wahrlich kein Pappenstiel. Just am Vortag unseres Interviews wurden jedoch endlich alle "Mint"-Masterings final. Sichtlich erleichtert mümmelt Merton auf einer Couch in den Räumlichkeiten ihres Labels Paper Plane Records International und empfängt im Beisein vieler Minzpflanzen die Journaille.
Wie ich höre hast du dich gerade köstlich über Klaas Heufer-Umlaufs "Hype Tour" durch Berlin amüsiert. Was würdest du denn zeigen, falls du mal eine Stadtführung machen solltest?
Nicht die typischen Touri-Sachen. Auf jeden Fall Burgermeister! Davon war ich anfangs total begeistert.
Welchen von beiden?
Den unterm Schlesi (eine zum Burgerladen umgebaute ehemalige öffentliche Toilette; Anm. d. Red.). Hm, was noch...? Mein Lieblingscafé in Kreuzberg: Atlantic. Sieht aus wie eine Studentenkneipe, aber ich fand es immer total geil, dort zu sein. Und den Botanischen Garten! Ich muss aber selbst noch mehr von Berlin entdecken, fällt mir gerade auf. Ich muss mal länger hier sein und mir wirklich die Zeit dafür nehmen. Es gibt so viel in der Stadt zu entdecken, aber wenn man jeden Tag drin arbeitet, tut mans halt nicht.
Apropos: Wir sitzen ja quasi gerade in deinem Büro bzw. dem deines Labels. Wie oft bist du eigentlich noch hier?
Diese Woche zum ersten Mal, weil wir Montag und Dienstag noch für Promo in England waren. Und gestern sind wir mit dem Auto durch die Gegend gefahren, um alle Masters anzuhören. Man muss schauen, ob die Songs auch im Auto gut klingen – das ist für mich der endgültige Test. (lacht) Aber letzte Woche war ich zweimal hier.
Also versucht du, doch recht häufig herzukommen? Es wirkt immer, als wärst du kontinuierlich in der Welt unterwegs.
Naja klar, wir waren jetzt lange auf Tour und in Amerika kann ich nicht mal eben ins Büro hüpfen. Aber wenn ich in Europa bin, komme ich tatsächlich öfter her. Mein Manager arbeitet hier und meine beste Freundin Sarah, die ebenfalls seit zwei Jahren bei der Plattenfirma dabei ist, unser Praktikant David und Anna im Marketing.
In mehreren Ländern stehen mittlerweile deine Singles in den Charts, du hast Gold/Platin-Auszeichnungen bekommen, selbst in die US-amerikanischen Billboard Hot 100 hast du es geschafft. Welchen Markt findest du momentan am interessantesten?
Keine Ahnung. Das wird sich mit der Zeit herausstellen, glaube ich. Momentan ist Italien ein super Markt für uns. Gerade am Anfang natürlich auch Deutschland. Europa generell war ein super Markt. Und in den USA sind wir vor einer Woche Gold gegangen!
Bemerkst du Unterschiede in den Reaktionen der Menschen auf deine Songs, je nachdem in welchem Land du gerade tourst?
Ja, da gibt es schon deutliche Unterschiede in den Ländern. Ich finde zum Beispiel Berlin sehr schwierig. (lacht) Ich liebe Berlin wirklich, aber das Publikum fand ich bisher am schwierigsten.
Meist ziemlich ruhig, stimmts?
Mhm! Aber Köln war krass. Prag war super. In Polen gabs tolle Reaktionen. In Boston und Washington ebenso. Das sind meine Lieblingsorte bislang. Und Istanbul in der Türkei! Sehr, sehr geiles Publikum dort. Genauso in Bratislava und in Serbien.
Du bist zwar nicht wirklich eine deutsche Künstlerin, aber zumindest kann man sagen, dass du aus der hiesigen Infrastruktur kommst. Von der Popakademie Mannheim über Berlin raus in die Welt sozusagen. Woran liegt es deiner Meinung nach, dass Künstler aus Deutschland eher selten über die Landesgrenzen hinauskommen. Am Wille? Oder ganz einfach an der Sprache?
Manchmal liegt es, glaube ich, tatsächlich an der Sprache. Man muss halt echt mit der Aussprache aufpassen. Milky Chance zum Beispiel haben beim Singen keinen deutschen Akzent und das ist bestimmt einer der Gründe, warum sie auch in anderen Ländern gut ankommen. Aussprache ist sehr wichtig. Trotzdem glaube ich, dass es ein deutscher Künstler im Ausland schaffen kann. Es kommt auf deine Bühnenpräsenz an und darauf, wie deine Musik ist. An der Popakademie haben auch viele gesagt: "Aus Deutschland heraus international Musik zu machen wird nicht funktionieren. Das passiert nicht." Das stimmt nicht.
Sieht man.
Ja! Wie du sagtest: Bei mir kam die Infrastruktur auch aus Deutschland. Klar, die erste Reaktionen kamen leider nicht aus Deutschland, sondern aus dem Ausland – von Playlistenmachern in Amerika und internationalen Bloggern. Aber gewachsen ist es zuerst in Deutschland. Dann kamen Österreich, die Schweiz, Italien, Frankreich hinzu und irgendwann ganz Europa. Deshalb finde ich falsch zu sagen, dass es gar nicht funktionieren kann.
Hast du dein Label von Anfang an mit internationaler Perspektive ausgerichtet?
Auf jeden Fall, ja. Wir wollten uns nicht nur auf ein Land beschränken. Mir war wichtig, dass die Musik in verschiedenen Ländern funktionieren kann. Klar, wenn du auf Deutsch singst, kann deine Musik vielleicht nur in Deutschland, Österreich und der Schweiz funktionieren. Aber "99 Luftballons" hat es auch irgendwie ins Ausland geschafft. Keiner weiß, was es heißt, aber es ist passiert. (lacht)
Es gibt ja inzwischen auch englische Versionen des Songs.
Eine neue, ne?
Echt?
Ja! Ich war neulich in einem amerikanischen Victoria's Secret-Laden und irgendeine Frau hat dort "99 Luftballons" auf Englisch gesungen. Klang furchtbar.
Live?
Nicht live, nee. Im Radio kam das. Schrecklich...
"'No Roots' beschreibt mein Leben"
Kommen wir zu "Mint". Ursprünglich sollte das Album ja schon im Frühjahr erscheinen oder?
Nee, Herbst war mal angedacht. Aber ich war nicht hundertprozentig zufrieden.
Also waren die Gründe, den Release zu verschieben, musikalischer Natur?
Genau. Es lag einfach daran, dass wir so viel getourt sind und all das. Wir dachten mal, eine Woche im Studio reicht. Aus einer wurden zwei, drei, und es reichte immer noch nicht. Das alles war die Arbeit von zwei Leuten – mein Produzent und ich. Wenn einer von uns ausfällt, weil wir krank oder fertig sind, fällt die Session eben aus. Wenn es nicht gerade ums Mixing geht, kann halt nicht mal einer allein weiterarbeiten. Selbst beim Mixing machen wir das Meiste zusammen. Deshalb war die Planung etwas schwierig. Nach der US-Tour war ich ein paar Tage einfach total fertig, sollte aber eigentlich schon im Studio sein. So brauchten wir mehr und mehr Zeit, bis wir irgendwann gesagt haben: "Okay, wir machen das erst 2019." Dabei bleibt es hoffentlich. (lacht) Aber wir sind ja bekannt dafür, unsere Releasetermine zu verschieben.
Bis auf einen Track ist inzwischen ja alles gemischt und gemastert oder?
Nee, der ist jetzt auch fertig! Heute ging alles raus. Ein sehr erleichterndes Gefühl. Naja, bei "No Roots" haben wir verschoben, die EP haben wir verschoben ... ich glaube, das ist unser Ruf. Es würde mich nicht überraschen, wenn... Nee, es WIRD im Januar rauskommen. (lacht) Außer es läuft noch irgendwas ganz furchtbar schief.
Du und dein Produzent – das sind Alice Merton und Nicolas Rebscher?
Genau. Für einen Song habe ich mit John Hill gearbeitet. Aber alle anderen Produktionen sind von Nico.
Wie kam es zur Zusammenarbeit mit John Hill?
Das lief über das Label, mit dem wir in den USA zusammenarbeiten. Die haben mich mit ihm zusammengebracht. Er hat ja einen Haufen bekannter Sachen gemacht, zum Beispiel "What Kind Of Man" von Florence And The Machine und "Feel It Still" von Portugal. The Man. Mich interessierte, was passiert, wenn unsere Stile aufeinander treffen. Das Ergebnis war "Funny Business". Mir hats gefallen, mein Label in Amerika mochte es sehr gern, also sagten wir: "Okay, lass uns das veröffentlichen!"
Warum hast du dich eigentlich entschieden, "No Roots" noch mit auf das Album zu nehmen, obwohl es bereits seit zwei Jahren draußen ist?
Es war wichtig für mich, weil es der Ursprung von allem ist. Das ist der Song, der mein Leben beschreibt und der auch ein bisschen von dem erklärt, was danach kommt. Hör dir mal "Homesick" an. Das ist quasi eine Reaktion auf "No Roots". In "No Roots" sage ich: "Mein Zuhause ist nicht on the ground.". In "Homesick" sage ich: "Ich kriege kein Heimweh. Ich sehne mich nach 'Dir'" Das kann meine Familie sein, meine Freunde, wer auch immer.
War das immer so, dass du kein Heimweh hattest?
Früher hatte ich schon Heimweh. Aber seitdem ich 15, 16 Jahre alt war, nicht mehr. Ich vermisse Menschen, aber keinen Ort.
Findest du das gut oder schlecht?
Sag du's mir, ich weiß es nicht. (lacht) Es gibt Vor- und Nachteile. Ich werde zwar nie wirklich ein Zuhause vermissen, aber dafür ist mein Zuhause dann "in" Menschen. Und wenn dieser Mensch mich verlässt oder stirbt, ist es für mich, als würde ich ein Zuhause verlieren. Das ist sehr, sehr krass.
Du greifst bei verhältnismäßig vielen Songs des Albums auf dasselbe Rezept zurück – treibender Bass, funky, eben das wofür man dich seit "No Roots" kennt. Man könnte einerseits sagen, dass alles sehr ähnlich klingt, andererseits stellt das natürlich auch deinen Stil dar. Gehst du bewusst weiter in diese Richtung, um deinen Stil klarer herauszubilden oder fürchtest du, dass so auf Dauer, der Impact von "No Roots", "Hit The Ground Running" etc. verloren gehen könnte? Zum Beispiel "Back To Berlin" funktioniert ja wiederum ganz anders.
Ja, ich habe schon darauf geachtet, dass ich nicht nur basslastige Songs aufs Album packe. "Learn To Live" ist für mich zum Beispiel keiner. "Homesick" auch nicht und "Honeymoon Heartbreak" sowieso nicht. Ich wollte eine Mischung reinbringen. Aber ich liebe Basslines. Ich liebe richtig gute Guitar-Lines und Hooks. Aber keine erfundenen Hooks.
Was sind erfundene Hooks?
Naja, so Synthie-Kram. Ich mag organische Instrumente und will diese dann auch für richtig coole Gitarrenriffs verwenden! Das hat nicht nur bei "No Roots" eine große Rolle gespielt, sondern auch bei allen anderen Songs. Deshalb fand ichs einfach geil. Bei "Trouble In Paradise" hatte ich diesen Michael Jackson-Groove im Kopf – ich weiß gerade nicht mehr, ob es "Beat It" oder "Billie Jean", war... Diesen Groove hier: (trällert die Bassline von "Billie Jean") Das hat mich wahnsinnig inspiriert. Mein erstes Album hat nun also eben eher diese treibenden Sachen. Denn das spiegelt wider, wie ich mich momentan fühle, was ich gerade erlebe. Ich wollte kein langsames, folkiges Album machen, sondern das, was mir Spaß macht, live zu performen.
Da du das Organische schon angesprochen hast: Mir kam es beim Hören manchmal so vor als wolltest du heutigen EDM-Pop mit deinem Ansatz auf eine organische Basis herunterbrechen.
Nicht absichtlich zumindest, denn ich höre eigentlich nie EDM. Aber krass! Ich würde es aber anders beschreiben: Ich wollte "tanzige" Musik, die heute eben sehr viel im Bereich EDM/Popular Dance Music gemacht wird, auf organische Basis umwandeln. Aber nicht, weil ich elektronische Popmusik nicht gut finde, sondern weil ich einfach organische Instrumentierung mag. Ich stehe drauf, mit echter Gitarre und echtem Bass zu arbeiten und ganz lange an der Gitarre herumzuschrauben, bis man endlich den richtigen Sound findet. Trotzdem soll es tanzbar sein – für mich und auch die Leute im Publikum. Das macht am meisten Spaß.
In der Vergangenheit als Songwriterin abseits deiner Solokarriere hast du aber durchaus an Musik gearbeitet, die zumindest elektronische Elemente in sich trug. Für Fahrenhaidt zum Beispiel.
Stimmt, für Fahrenhaidt habe ich viele Songs geschrieben. So viel Elektronik war da aber nun auch wieder nicht dabei. Nature Pop haben sie das damals genannt. Ich war eher im Hintergrund aktiv, immerhin hieß das Projekt ja Fahrenhaidt. Ich mag es, verschiedene Stilrichtungen auszuprobieren. Als Songwriterin sollte man keine Angst haben, neue Sachen auszuprobieren. Das werde ich immer machen. Ich werde mich immer weiterentwickeln und mehr Stile ausprobieren. Manche hören bei mir bluesige Elemente, andere rockige. Für mich ist "Learn To Live" zum Beispiel eher rockig, "Homesick" mit seiner Instrumentierung eher folkig.
Ich gehe mal davon aus, dass du auch als du noch für andere Künstler komponiert hast, nebenbei Songs nur für dich geschrieben hast. Wie unterschied sich je nachdem dein Ansatz an ein neues Stück?
Für mich mache ich meistens alles sehr persönlich. Das ist alles autobiographisch. Für andere versuche ich eine Emotion zu finden, mit der sie sich identifizieren können und schreibe dann um diese Emotion herum. Denn am Ende soll der Song ja nicht für mich sein, sondern zu der- oder demjenigen passen. Meine eigenen Songs münze ich dagegen gezielt auf das, was ich erlebe. "I Don't Hold A Grudge" ist eine persönliche Geschichte. In "Homesick" singe ich: "I was scared of dogs / I was scared of dance in the weather / Never went on a field trip / Scared I'd lose my mother and father". Ich weiß nicht, ob das jemand anderes singen würde. Die erste Frage wäre wohl: "Hä, warum habe ich Angst vor dem Wetter?"
Man könnte sich eine schöne Geschichte dazu ausdenken.
Könnte man! (lacht) Aber Lügen haben kurze Beine. Irgendwann vergessen sie, warum sie Angst vor dem Wetter haben. Ich weiß, warum ich Angst vor dem Wetter habe.
Warum?
Das ist ein Geheimnis. (grinst) Nee, ich hatte immer Angst vor Tornados und Hurrikans. Und in Kanada hatten wir ganz schlimme Winter, mit so viel Schnee, dass oft das Auto nicht funktioniert hat. Du konntest nirgendwo hinfahren. Toronto hat sehr krasses Wetter. Deswegen hatte ich Angst vor dem Wetter. Nicht jeden Tag, aber ich hatte immer wieder den Traum, dass ich von einem Tornado hochgeweht werde und sterbe.
Alice im Wunderland.
Fast. Aber krasser. Ich bin jedesmal gestorben.
Ich bin froh, dass es offenbar doch gut ausgegangen ist.
(lacht) Ich bin aufgewacht auf jeden Fall!
"Wenn ich Angst habe, ist das Einzige was mir hilft Minze"
Ich hörte, eine deiner Inspirationsquellen sind Supermärkte, weil dort immer alles so ordentlich ist. Dabei spricht man doch immer vom "kreativen Chaos" ...
Ja, aber wahrscheinlich gerade weil ich im Kopf so chaotisch bin, mag ich, wenn etwas superordentlich aussieht. Meine beste Freundin zum Beispiel hat eine total ordentliche Wohnung. Ich bin immer fasziniert davon und möchte alles anfassen. Und ich liebe Supermärkte. Wenn ich irgendwas Schönes sehe... Weil alles so ordentlich aussieht... Wenn ich durch die Keksabteilung laufe ... In Amerika gibt es "Whole Foods" – dort könnte ich Stunden verbringen! Biomärkte mag ich auch.
Na dann von Bio zu Minze. Beziehst du den Albumtitel "Mint" in erster Linie auf 'mint condition' oder hat er tatsächlich was mit Minze zu tun?
Es hat wirklich was mit Minze zu tun. Wir haben hier ganz viele Minzpflanzen, wie du siehst. deutet auf den Couchtisch neben sich) Sogar Minzetee! Möchtest du welchen? Ehrlich gesagt, wusste ich zuerst nicht, warum ich das Album "MINT" genannt habe. Ich bin einfach eines Tages aufgewacht und wusste, dass es so heißen soll. "Cool", dachte ich und habe ein bisschen drüber nachgedacht. Irgendwann habe ich dann herausgefunden, warum. Minze hat immer eine große Rolle in meinem Leben gespielt – vor allem, wenn es um meine Ängste geht. Wenn ich Angst habe, ist das Einzige, was mir hilft, Minze – sei es in Form von Minztee, Kaugummi oder was auch immer. Vor Auftritten und Interviews wurde mir früher öfter schlecht. Wir mussten oft anhalten, wenn wir dafür zum Beispiel nach Hamburg oder so gefahren sind. Irgendwie schien diese Minze doch tief in mir verankert zu sein. Also habe ich es einfach "Mint" genannt.
Das heißt, du beschäftigst dich auf der Platte auch mit deinen Ängsten oder?
Auf jeden Fall. "Learn To Live" handelt nur davon. Der ganze Prozess in den letzten drei Jahren mit der Plattenfirma war mit vielen Risiken verbunden. Klar hat man dann mit Angst zu tun. "Trouble In Paradise" handelt von einem Streit mit meinem Produzenten. Bei "No Roots" geht es um die Angst vor Verlorenheit – davor, nie zu wissen, wo man sein Zuhause hat.
Ist Angst dein Hauptantrieb, Dinge in Songs zu verarbeiten?
Ich hoffe nicht! Ich möchte die Ängste eigentlich loswerden.
Aber das ja durchs Songschreiben oder?
Durchs Songwriting und dadurch, dass man wirklich reingeht in die Angst und versucht, zu verstehen, warum man ausgerechnet vor dieser einen Sache Angst hat, und auch dadurch, dass ich mich zwinge, so viel herumzureisen. Ich habe zum Beispiel auch große Flugangst. Mit den Jahren wurde es besser, aber es gab schon sehr schlimme Zeiten – auch wegen der Trennung von meiner Familie. Unsere Familie war sehr eng untereinander, wir sind ja immer zusammen umgezogen. Wenn du keinen Ort hast, dem du dich verbunden fühlst, bindest du dich wie gesagt an Leute. Das war meine Familie.
Bemerkst du Veränderungen in deinem eigenen Verhalten, nachdem du Bestimmtes in Songs verarbeitet hast?
Die Songs sind quasi wie Notizen – so, als würde ich mir einen Zettel an den Kühlschrank hängen, auf dem steht: "Du hast keine Wurzeln. Aber es ist nicht schlimm, denn dein Zuhause war nie auf dem Boden." Oder zu "Why So Serious": "Vergiss nicht zu lächeln!" Oder zu "Homesick": "Vergiss nicht: You don't get homesick. You're just sick when you're not with a certain person." Solche Sachen. Dadurch, dass man das immer wieder singt und sich einredet: "Hey, alles ist okay" oder "Learn to live – du darfst nicht immer Angst haben, sonst wirst du niemals leben." Das sind Reminder.
Durch die stetige Wiederholung auf Tour sicher keine schlechten Reminder.
Es funktioniert nicht immer. Aber meistens. (grinst)
Da du eben schon "Why So Serious" erwähnt hast: In welchen Bereichen des Lebens sollte man deiner Meinung nach weniger 'serious' sein?
Ich glaube, man sollte sich selbst nicht so ernst nehmen. Mich darf man nicht so ernst nehmen. Außer wenn ich Interviews gebe! Im Job. Wobei ich schon ziemlich serious im Job bin. Ich nehme Musik schon ernst. Aber ich nehme mich selbst nicht so ernst. Man darf sich auch nicht in Problemen verlieren. Man muss versuchen, das große Bild zu sehen. Streits sind okay, aber man darf darüber nicht das Big Picture vergessen.
Du meinst, die Gefahr liegt darin, von einem Streit gleich auf alles andere zu schließen?
Genau. Damit tue ich mir manchmal schwer. Aber durch die Songs habe ich ja Reminder! (lacht)
Wir müssen zum Ende kommen, deshalb die letzte Frage: Was hat es mit diesem Gerüst auf sich, dass du bei Liveauftritten öfter vor der Brust trägst?
Früher, ja! Ich habe es mein "Schutzschild" genannt. Eine Freundin von mir ist Designerin, sie hat das entworfen und ich fands total geil. Damit habe ich mich immer stärker gefühlt. Ich hatte so Angst, vor so vielen Leuten zu singen. Aber irgendwann habe ich mich dran gewöhnt. Und jetzt benutze ich es fast gar nicht mehr. Jetzt kann ichs auch ohne Schutzschild.
In der Tonight Show bei Jimmy Fallon hattest du es an.
Jaja, bei Fallon hatte ich es an. Oh Gott, da hatte ich so Angst! Aber es lief ganz gut. Hat Spaß gemacht, ihm hats gefallen – war ein sehr, sehr cooler Tag.
Fallon hat eine der größten US-amerikanischen TV-Shows. Das zeigt auch, dass du nicht nur ein bisschen über den deutschen Tellerrand guckst, sondern es selbst dort drüben wirklich geschafft hast oder?
Es zeigt einfach, dass Musik wachsen kann. Es zeigt, dass Musik sich verbreiten kann und nicht auf ein Land beschränkt ist. Es zeigt, dass Leute sich mit Sounds identifizieren. Wir haben enorm von unserem guten Team drüben in Amerika profitiert, das mit seiner Promotion den Leuten meine Songs gezeigt haben, bis wir irgendwann bei Jimmy Fallon spielen durften! Wir waren Nummer eins in Amerika! Ich glaube sogar, es war das erste Mal seit Lorde, dass es wieder eine Frau auf Nummer 1 der Alternative Charts geschafft hat.
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