13. September 2017

"Ich habe begriffen, dass ich ein Alien bin"

Interview geführt von

Wie reagiert man, wenn jemand vor einem sitzt und erklärt, dass er ein Alien sei? Hätte man mich das vor dem Interview gefragt: Mir wäre sicher ein kurzes Lachen über die Lippen gekommen. Dann sitzt Benjamin Clementine vor dir. Ein Gesicht wie gemalt, hohe Wangenknochen, mit ruhigen, tiefen Augen und einem irgendwie traurigen Blick - und erklärt dir ebendies. Er sei ein Außerirdischer, und man selbst auch. Okay, akzeptiert.

Benjamin Clementine hat eine Art an sich, die den Raum einnimmt. Dabei verhält er sich gar nicht mal sonderlich extrovertiert. Er spricht langsam und leise, flüstert fast. Der Brite mit den gha­na­ischen Wurzeln wirkt, als wäre er in seiner ganz eigenen Welt und würde sich dort selbst nicht ganz zurechtfinden.

Irgendwie ist er einfach anders. Schwer einzuordnen, nicht greifbar, aber eben faszinierend. Seine Musik ist das auch. Er selbst sieht das jedoch ganz anders. Ein Gespräch über die Definition von Popmusik, gierige Künstler und - ja - Aliens. Sein drittes Album "I Tell A Fly" erscheint am 29. September.

Dein neues Album handelt davon, ein Alien zu sein. Woher kommt diese Idee?

Das ist keine Idee, es ist Realität.

Realität?

Ich habe begriffen, dass ich ein Alien bin.

Glaubst du, wir sind alle Aliens - oder du im speziellen?

Ich glaube nicht, ich weiß.

Okay. Und woher hast du dieses Wissen?

Ich realisierte es, als ich mein amerikanisches Visum beantragte.

Setzen wir den Begriff Alien mal in den Kontext "anders sein" ...

Ich kann Alien nicht als Andersartigkeit ansehen. Ein Alien ist ein Alien. Du bist einer, ich bin einer. Wir sollten wissen, dass wir Wanderer sind. Sei nicht überrascht, wenn du irgendwann hörst, dass ich in China lebe. Denn das ist es, was Aliens tun: Aliens wandern.

Du bist tatsächlich schon viel gereist. Das ist sicher sehr inspirierend.

Natürlich hilft Reisen bei der Ideenfindung, aber ich bekomme meine Inspiration vom Leben. Ich will gar nicht Idee sagen, denn ich weiß wirklich, dass wir Aliens sind. So wie ich mein Leben bisher gelebt habe, was ich aufgenommen und gesehen habe, von anderen Menschen und meiner Umgebung, kann ich nur zu einer Schlussfolgerung kommen: Wir sind Aliens und wenn wir das begreifen, ist das besser für uns alle.

Somit ist das Album biografisch?

Wenn du ein menschliches Wesen bist ...

Davon gehe ich aus.

... dann solltest du damit was verbinden können. Wenn nicht, seis drum. Aber es ist ein Kommentar dazu, wie weit wir gekommen sind und wie weit wir gehen werden. Wir reisen schon seit der Zeit des Homo Erectus, der Neandertaler und der ganzen Typen. Wenn Leute heutzutage reisen, sollten wir nicht auf sie hinabschauen und denken: Die suchen noch ihren Platz. Wir haben das alle getan - über Jahrhunderte. Darum geht es auf dem Album.

"Ich will Musik in den Hinterkopf bringen"

Ich finde die Songs auf "I Tell A Fly" großartig. Die Einleitung "Farrell Sonata" stellt den Hörer vor eine kleine Herausforderung, man muss erst mal einen Zugang finden.

Das verstehe ich nicht.

Moderne Popmusik ist oft sehr simpel und eingängig gestrickt. So einfach wie möglich, damit es ja jeder sofort kapiert. Bei deiner Musik will und muss man zuhören, das macht sie für mich so interessant.

Also erstmal: Ich will, dass meine Musik so einfach wie möglich ist. Immer. Ich will, dass Leute meine Songs sofort verstehen. Das ist mein Traum. Das Problem ist: Die Leute sind so daran gewöhnt, eine bestimmte Art von Musik zu hören, dass sie denken, es wäre der einzige Weg. Ich hoffe, in 100 Jahren ist meine Musik so wie deren Musik heute - denn in meinen Augen mache ich Popmusik.

Hörst du aktuelle Chartmusik?

Ich höre viele ältere Sachen. Gerade ist mir aber nicht danach, weil ich mit mir selbst beschäftigt bin. Ich treffe lieber Menschen, von ihnen kann ich lernen. Leute wie Damon Albarn, Produzenten, Techniker im Studio - die bringen mir viel bei. Das ist sehr wichtig, wenn ich meine Kunst voranbringen will. Ich bin eher an Leuten interessiert, die Töne produzieren, als an Leuten, die Musik machen. Denn ich glaube, das ist der nächste Schritt für mich. Wenn du Kopfhörer aufsetzt, hörst du Musik nur mit dir. Ich bin daran interessiert, Musik in den Hinterkopf zu bringen.

Klingt herausfordernd.

Das ist es. Aber was für einen Sinn hätte es, nicht ambitioniert zu sein? Jetzt bin ich hier, habe ein zweites Album, das hoffentlich auf eigenen Beinen steht. Ich möchte kein Album machen, das wie das vorige klingt. Das wäre Zeitverschwendung, sinnlos.

Dein neues Album wirkt auf mich lauter, aggressiver. Stimmst du dem zu?

Mir wäre es lieber, wenn du das selbst entscheidest. Denn genau das möchte ich erreichen: Dass Leute ihre eigene Meinung haben. Eine meiner Inspirationsquellen ist Ernest Hemingway. Er wollte immer, dass seine Leser das Geschriebene an einen anderen Ort bringen - nur dadurch kann man entdecken. Ich habe mit dem Album lediglich einen Kommentar abgegeben.

Du sprichst politische, gesellschaftliche Themen an. Siehst du es als Aufgabe eines Künstler an, das Weltgeschehen zu kommentieren?

Politik sollte nicht in der Konversation eines Künstlers vorkommen, ich jedenfalls möchte damit nichts zu tun haben. Ich bin kein Politiker, okay? Die Kommentare, die ich mache, handeln von Menschen. Es geht nicht um einen Status Quo. Ich zahle Steuern, das ist genug Politik für mich.

"Künstler sind oft gierig"

Dann lass uns über Konzerte reden. Du warst lange Straßenmusiker. Genießt du es, jetzt größere Konzerte zu geben?

Ich stand schon immer auf der Bühne. Nur weil ich auf der Straße sang, heißt das nicht, dass mir das keine Bühne geboten hat.

Lass es mich so formulieren: Geht es dir darum, Musik zu veröffentlichen, oder genießt du es genauso sehr, eine Bühne zu haben?

Dafür lebe ich: Performen. Ich habe schon immer die Vorstellung geliebt, etwas zu schaffen und weiter zu geben. Man kann das mit einem Kind vergleichen, das etwas aus Sand formt und seiner Mutter bringt. Es ist eigentlich nichts, aber es ist wunderschön. So ist das auch mit einer CD. Ein Stück Plastik. Ich gebe etwas, das nichts ist, aber trotzdem etwas.

Vielleicht kannst du sogar was daraus lernen - sonst kommt es halt in den Müll. Wenn du einen Song skippst, wirfst du ihn quasi in die Mülltonne. Aber der Verfasser hat vielleicht fünf Jahre seines Lebens daran gearbeitet ... Es gehört also auch viel Glück dazu, das gefällt mir.

Verändert die Digitalisierung unser Hörverhalten?

Es gibt - wie bei allem - Pro und Kontra. Ich denke aber, Digitalisierung gibt mehr Menschen die Möglichkeit, Musik zu machen. Musiker müssen nicht mehr nach einer bestimmten Musikrichtung aussehen, man muss in keine Schublade mehr passen. Man muss nicht mehr blond, groß und schlank sein, um eine Katy Perry zu sein - oder wie auch immer sie heißt. Du musst nicht mal mehr dein Gesicht zeigen. Es zählt nur, dass die Leute deinen Song mögen.

Negativ daran ist, dass ... weißt du, wenn ich einen Diamanten auf die Straße lege, wird sich wohl keiner dafür interessieren. Lege ich den Diamanten aber ins Schaufenster von Tiffany's, wollen die Leute ihn kaufen. Wenn man etwas online veröffentlicht, wird man als eine Art Bettler angesehen.

Ich finde Spotify schon in Ordnung: Du zahlst deine 20 Dollar oder so und fertig. Jeder sollte die Musik hören können, die er mag. Es ist Musik, sie sollte weiter gegeben werden!

Aber Künstler müssen davon leben.

Die einzigen, die momentan Geld verdienen, sind die Künstler, die noch Millionen an Platten verkaufen. Aber für mich ist das okay. Wie viel Geld braucht man denn? Ich persönlich habe das Gefühl, Künstler sind oft gierig. Trete live auf, bezahle dein Label und verdiene im besten Fall so viel, dass du dir ein Häuschen leisten kannst.

Nach dem ersten Album sagtest du, dass du kein Zuhause brauchst.

Ich bin mein Zuhause. Ich, Benjamin. Ich habe einen Platz in London, ich habe einen Platz in New York - weil ich klug bin. Man braucht schließlich einen Ort, wo man bleiben kann, wenn man alt ist. Also sollte man sein Geld nicht zum Fenster rauswerfen, sondern clever einsetzen. Ich werde aber niemals an einen bestimmten Ort gehören, sondern immer unterwegs sein. Denn ich bin ein Alien.

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