11. Dezember 2025
"Wir konnten mit dem selbst entfachten Feuer nicht umgehen"
Interview geführt von Philipp KauseRoland Gift ist in England ein bekanntes Gesicht der Achtziger. Die Musikvideos der Fine Young Cannibals fielen in die einflussreichen Jahre von MTV.
Parallel dazu übernahm der Sänger, Komponist und gelernte Saxophonist auch Schauspielrollen in Fernsehserien. Die Coverversionen der Cannibals des Elvis-Hits "Suspicious Minds" und von "Ever Fallen In Love (With Someone You Shouldn't Have)" der Buzzcocks gaben den alten Nummern ein willkommenes neues Antlitz.
Die eigenen Songs wie "Johnny Come Home" oder "She Drives Me Crazy" schrieben Charts-Geschichte und hielten sich lange im Radio-Airplay. Bestandteile aus "She Drives Me Crazy" wurden oft ungeniert geklaut. Die Macher sind längst von der Bildfläche verschwunden. Von Gitarrist Andy Cox ist lediglich bekannt, dass er noch lebe, wohl derzeit in London. Die Profile seiner letzten Band Cribabi sind 2013 eingefroren. Multiinstrumentalist David Steele hat ebenfalls keine auffindbaren Social Media-Adressen. Seine Spuren sind lange verwischt. Ko-Produzent David Z, beteiligt an zwei Markenzeichen-Songs, soll auch noch am Leben sein, irgendwo in Kalifornien.
Derweil hätte Sänger Roland Lee Gift sich einen größeren Output immer gewünscht. Er erklärte sich bereit, ein Gespräch über die alten Zeiten zu führen. Denn er erhofft sich davon, an früher anzuknüpfen und noch einmal durchzustarten. Anlässlich der neuen Remix- und Bonus-Box "FYC 40" stellte der Lizenzinhaber der alten Songs, die französische Electropop-Firma Because TV, einen Kontakt her. Das nachdenkliche Gespräch gibt einen seltenen Einblick in die Story der Fine Young Cannibals und nebenbei auch in die britische Ska-Szene und Gesellschaft.
Welchen Unterschied nimmst du zwischen eurer großen Phase in den Eighties und heute wahr?
Als die Cannibals unterwegs waren, war ein Hauptunterschied zu heute, dass jeder wusste, was auf Eins der Charts war. Heute können dir das die wenigsten sagen. Weil es auf eine Art 'fragmentiert' ist. Damals wusste man auch, wo man die Massentrends findet. Es gab eine Chart-Show namens "Kids In The Morning" in Großbritannien, und da war immer eine Band zu Gast. Heute verteilt sich das ja online.
Du meinst diesen Effekt, wenn am Samstagabend eine Fernsehshow war, sprach am Montag jeder drüber - in den Achtzigern.
Ja. Es gab 'The Tube'. Diese Show lief freitagabends und war eine der ersten, in der wir als Cannibals auftraten. Wer freitagnachts ausging, hatte oft das Gesprächsthema: 'Hast du 'The Tube' gesehen? Hast du die und die Band gesehen?' Und dort brachten sie sogar Gruppen ohne Plattenvertrag. Die Leute teilten viel mehr kollektive Erfahrungen als heute.
Große nationale TV-Sendungen bei euch sprangen sogar auf Ska auf - in Deutschland eine Nische. The Selecter performten bei Top Of The Pops. Deine Wurzeln liegen ebenfalls in der Ska-Szene.
Richtig. Mit den Akrylykz spielte ich im Vorprogramm von The Beat, und das war die Initialzündung dafür, dass sich die Fine Young Cannibals gründeten. Denn Andy Cox und David erinnerten sich daran, dass es mich gab. Inzwischen wurden die alten Demo-Aufnahmen der Akrylykz wieder gefunden und vom Kassetten-Rauschen befreit, tauchten zeitweise bei Tunecore irgendwo wieder auf.
Ich hätte ja große Lust sie zu restaurieren und offiziell heraus zu bringen, einfach um des Spaßes willen und zum Zwecke des Kuratierens. Es wäre schön, diese Musik veröffentlicht zu haben, als Teil der Geschichte.
Einen Plattenvertrag hatten wir, mit Red Rhino. Aber so wie damals Verträge gemacht wurden, taten wir das auch. Zwei Mitarbeiter von Red Rhino brachten einen Kasten Bier mit, und wir tranken das Bier ... Irgendwie tauchten dann zwei Songs von uns bei Polydor auf. Inzwischen gibt es sie auf Cherry Red-CD-Compilations. Ich forderte Cherry Red auf, mir die Papiere zu zeigen, denen zufolge ihnen die Aufnahmen gehören. Da kam bis heute nichts. Wahrscheinlich haben sie einfach ein Paket an Songs aufgekauft und gemeint, diese seien enthalten. (Anm. d. Red.: Red Rhino Records brachte das Debüt von Pulp heraus. Nach einem Jahrzehnt Geschäftstätigkeit meldete die Firma Insolvenz an und wurde liquidiert. Die Aufnahmen wurden seither X Mal verhökert.)
Das ist ja nicht alles so ganz transparent mit den Lizenzen manchmal. Ihr hattet, habe ich gelesen, sogar ein Vertragsangebot für ein Album als The Akrylykz bei Polydor, einen Entwurf.
Naja, das weiß ich gar nicht mehr so genau, ob das so konkret war mit dem Album. Weißt du, in Hull, wo wir wohnten, da gab es damals diese Professionalität gar nicht, Leute, die gewusst hätten, wie das Business läuft. Wären wir in Birmingham gewesen, hätten wir ein bisschen besser abgeschnitten.
Hull befindet sich ja um einen großen Fluss herum. Ich hatte förmlich das Gefühl, das Ska-Schiff lege von dort ab ins Meer. Wir aber verpassten die Abfahrt des Bootes und guckten dem von den Docks aus hinterher. Wir kamen nicht zeitig genug an Bord.
Du bist Saxophonist. Das ist im Ska eine Schlüsselposition. Wo hast du das Spielen gelernt?
Also, ich war Saxophonspieler - damals. Meine Mutter hatte ein Second Hand-Geschäft. Da arbeitete ich einen Sommer lang. Als Belohnung gab meine Mutter mir das Geld für ein Saxophon. Mein bester Kumpel war Sean Pepper, und sein Vater, der hieß Jack Pepper. Und der sagte: Ein Saxophon steht dir, die schaust gut damit aus. Und ich begann ja während der großen Zeit des Punk.
Singen war da nicht notwendigerweise Gesang. Punk-Vocals waren nicht gesungenes Singen. Mit war es wichtig, in dieser Zeit etwas mit echten Skills zu machen. Singen war auch nicht wichtig. Die Worte waren schon wichtig, aber nicht wie sie vorgetragen wurden. Oder: Man versuchte eben gerade nicht zu singen.
Das war ja manchmal das Statement.
Genau, ja, es war auf gewisse Art bewusst 'reaktiv'.
Was heißt das?
Mit einer Band wie den Akrylykz oder den Fine Young Cannibals traten wir nicht gegen andere Stile an. Da verbrüderten wir uns ja eher mit früheren Stilen. Punk reagierte auf das Bestehende und war dagegen. Wir jedoch legten Wert darauf, eine Hommage an frühere Musik zu spielen.
In deiner besagten ersten Band, bei den Akrylykz, warst du von Kunststudenten umgeben. Die hatten ja dann sicher echte Skills.
(Zögert, lacht) Manche von denen... Die Band hieß erst The Akrylykz Vyktymz. Und der Grund war, dass man den Studierenden untersagte, Ölfarben in der Malerei zu verwenden. Sie mussten auf Acryl ausweichen. Daher nannten sie sich so.
Mit den Akrylykz machten wir anfangs Ska und punky Reggae, dann stiegen wir tiefer in den Ska ein.
Ihr habt sogar Aufnahmen mit dem legendären Desmond Dekker gemacht. Wie war das?
Oh, das war großartig! Seit meiner Kindheit hatte ich Desmond Dekker-Platten zuhause. Mit ihm zu arbeiten war dann etwas wirklich Besonderes. Sehr aufregend.
Er war der erste, der Reggae nach England brachte.
Ja, und wahrscheinlich auch der erste in Amerika.
Galt Ska damals beispielsweise in Birmingham als exotisch? Immerhin war ja John Peel bei der BBC großer Fan dieses Stils und der Gruppen aus dieser Szene.
Also, ich denke nicht, dass Ska allzu exotisch war, weil die Musik damals nicht sonderlich 'ghettoisiert ' war. Die Charts waren sehr durchmischt. Es konnte gleichzeitig ein Engelbert Humperdinck auf Nummer Eins stehen, gefolgt von einem der Beatles auf Platz Zwei, und dann war Jimi Hendrix auf Drei und als nächstes ein Klarinetten-Instrumental.
Die Leute wussten von Reggae. Ska war kein Alien für die Bevölkerung. Skinheads gaben sich schon Jahre vor den britischen Ska-Bands dieser Musik hin. Anfang der Achtziger gab es eher den Effekt, dass Ska das zweite Mal aufkam.
Ska und Reggae berührten oft den Post-Punk. Mit den Fine Young Cannibals hast du 1986 die Buzzcocks gecovert. Hattet ihr nach deinem Gefühl dasselbe Publikum wie die, also solche, die auch auf deren Konzerte gingen?
Nein, wahrscheinlich war unsere Hörerschaft jünger. Ich selber ging in meinen Teenager-Jahren zu Buzzcocks-Konzerten. In meinen Twens machte ich mein eigenes Ding. Unser Publikum war zwar schon altersgemischt, aber insbesondere ziemlich junge Leute, und dann wieder deutlich ältere als bei den Punks.
"Ich habe mehr Tage hinter als vor mir."
Ihr hattet eine große Reichweite. Ihr kamt in die Top Ten von Neuseeland, Kanada, und fast flächendeckend Europa westlich des Eisernen Vorhangs, in den USA auf Platz Eins. Auf eurem Peak stopptet ihr das ganze Projekt. Wie ging das, deiner Erinnerung nach, vor sich?
Wir erschufen etwas, und mit der Hitze oder Aufgeheiztheit, die wir entfachten, konnten wir selbst nicht umgehen. Und wir hatten keine fähigen Manager. Sie beherrschten es nicht, daraus etwas zu machen und mit dem Erfolg aktiv zu arbeiten. Die Plattenfirma selber hatte vergleichsweise sonst keinen solchen Erfolg wie mit uns. Für sie war das auch etwas Neues. Niemand wusste damit umzugehen. Es gab Leute bei London Records, die uns sagten, na, dann kann oder muss sich das nächste Album noch besser verkaufen.
Was wirklich dumm war. Danach (Ann. d. Red.: "The Raw & The Remix", alte Songs, neue Mixes von teils hochkarätigen DJs) gingen etwa ein Viertel so viele Exemplare wie bei "The Raw & The Cooked" über den Tresen. Das war eine Schande. Gerne hätte ich mehr gemacht, ich wünschte, es wäre so gekommen. Ich wünsche mir im Rückblick, dass ich besser darin gewesen wäre, uns selbst zu managen und zu organisieren. Aber das waren wir nicht. Das ist schlecht.
Habt ihr dann mehr Material für ein potenzielles weiteres Album komponiert?
Nicht wirklich, nein. Naja, es gab "The Flame", das war die letzte Single.
Wir hörten offiziell nicht auf, zu bestehen, aber wir traten nicht mehr aufs Pedal. Bedauerlich, beschämend. Denn wir hätten das sicher gekonnt.
Nun hattest du ja auch die Saxophon-Skills, aus der Band davor. Hast du dich bei den Fine Young Cannibals bewusst nur auf die Rolle des Lead-Sängers fokussiert?
Bei den Akrylykz spielte ich für gewöhnlich Saxophon, aber ich war neidisch auf den Sänger und auf all die Aufmerksamkeit, die er erhielt. Zudem war ich der Ansicht, ich könnte das besser als er.
Ein lokaler Promoter, der mit mir eine Aufnahme gemacht hatte, schlug vor, dass ich der Sänger sein sollte oder jedenfalls mehr Gesang machen sollte. Das war für mich eine Ermutigung. Und wie du zuvor gesagt hast, ich sah in dem Instrument auch eine Kompetenz, nämlich früherer Musik gewachsen zu sein. Das war etwas, das der Punk gar nicht wollte, um sich abzugrenzen.
Wie veränderte sich denn die politische Situation im United Kingdom zu der Zeit deiner Hits? Deine musikaktive Zeit fällt ja weitgehend in die Jahre der eisernen Maggie Thatcher. Deine Kollegen von The Beat hatten ihr den Song "Stand Down, Margaret" zum Einstand geschenkt - also "Tritt ab, Margaret". Eines ihrer Markenzeichen wurde das Privatisieren staatlicher Aufgaben und Betriebe, das sich danach auch deutsche Regierungen zum Vorbild machten.
In den frühen Achtzigern lebte ich in Kingston Upon Hull. Es war die Zeit, in der es los ging, einen Plattenvertrag unterzeichnen, nebenbei arbeiten gehen. Mit den Einnahmen aus beiden Quellen, als Musiker plus dem Brotjob, ließ sich ein Lebensunterhalt bestreiten. Allzu viel Luxus war nicht drin, aber man konnte am Leben teilhaben.
Erst in den späteren Eighties, als ich schon in London wohnte, verdiente ich nennenswert. Dort machten sich zu dieser Zeit aber die Auswirkungen des Thatcherism bemerkbar. Obwohl ich zu dieser Zeit nicht einem regulären Angestellten-Job nachging, wo du womöglich mehr von den Rahmenbedingungen fremdbestimmt wirst - auch solchen des Regierungskurses - nahm ich vieles wahr. Da wandelte sich einiges, immerhin betraf es mich nicht so sehr.
Nun stamme ich aber aus einer Familie, in der wir nicht viel Geld hatten. Eine wirtschaftliche Delle, ein Abschwung der Volkswirtschaft, wäre sowieso an uns recht spurlos vorbei gegangen, denn wir waren arm und hatten sowieso keine Kaufkraft. Beispiel: Der Ölpreis ging hoch - uns war das egal, denn wir hatten gar kein Auto. Thatcherism hatte auf mich ganz persönlich keine relevante Auswirkung.
Was war denn dein allererster Job?
Oh, ich arbeitete auf dem Bau, für einen Typen, der die Straße runter seine Firma hatte. Sein Name war Bernard. Meine Mutter nannte ihn scherzhaft Saint Bernard - ich weiß nicht, ob ihr Bernhardiner-Hunde kennt, die heißen bei uns Saint Bernard. Der Typ saß nämlich eine Zeitlang im Gefängnis ein. Dort entdeckte er Religion und Glauben für sich. Da wurde er frommer Christ und ließ sich einen langen Bart wachsen.
Nun, bezüglich Thatcher. Die ganzen Privatisierungen waren mit Sicherheit nicht gut. Ich gebe euch ein Beispiel, das Gesundheitssystem mit dem National Health Service. Meine letzte Ehefrau hatte Krebs. Manchmal benötigte sie Paracetamol.
Die junge Assistenzärztin sagte ihr: 'Schauen Sie, Paracetamol bekommen sie frei verkäuflich in der Apotheke. Wenn Sie sich das selbst kaufen, kostet Sie das 50 Cent. Wir müssen jedoch zwölf Pfund für die Packung bezahlen, wenn wir sie verordnen.' Das illustriert, welche Verhältnisse Thatcher für lange Zeit geschaffen hat.
Es müsste ja umgekehrt sein: Dass die Klinik nur fünf Pfund zu zahlen hat, weil sie zu einer so großen Organisation gehört und so viel Bestellmenge beziehen. Hier zeigt sich die Schattenseite der verstaatlichten Industrie. Und das regte die Leute auf. Nun bin ich überhaupt kein Anwalt für Thatcherism, gar nicht, aber jetzt kommt das Gegenbeispiel.
Mein Cousin arbeitete für die hiesige Telekom, die GPO - General Post Office, für die Telefonanlagen. Wenn er samstags arbeitete, erhielt er doppelt so viel Geld. Entsprechend ließ er sich samstags einteilen.
Und das lief dann so ab: Er schraubte während der Arbeitszeit an seinem privaten Auto herum, dann machte er Frühstückspause, las dann Zeitung und wandte sich schließlich wieder seinem Auto zu. Es folgte das Mittagessen. Dann ging er heim. Für diese Samstage erhielt er dann extra Zuschläge.
Und sowas passierte oft. Viele Großbetriebe in staatlicher Hand hatten einfach ein schlechtes Management. Das ist aber trotzdem kein Argument für die Privatisierungen. Denn beim National Health Service war es dann so, dass er zum Outlet für zweifelhafte Pharmazieprodukte wurde. Wir müssen einen Weg finden, dass diese Situation besser wird.
Der Brexit trägt dazu mutmaßlich nichts Positives bei, oder?
Nein. Weder für EU-Angehörige noch für andere hätte man Ein- und Ausreiseregeln so schwierig gestalten sollen. Ich denke, sie haben es in voller Absicht schwierig gemacht.
Nun, heben wir die Stimmung mit Musik. Und da gab es im Punk und gerade an der Schnittstelle zu anderen Genres viel Politisches. Nehmen wir The Clash, deren Worte in "Guns Of Brixton" sich im Jahr nach der Veröffentlichung in der Wirklichkeit bewahrheiteten. Sogar Jimmy Cliff nahm den prophetischen Song später auf. Insgesamt gab es ja eine starke Interdependenz zwischen Punk, Reggae, Post-Punk, Dub, Ska, New Wave, Funk, viele Wechselwirkungen. Die Talking Heads trieben das auf die Spitze. Stiff Little Fingers hatten manchmal Riffs und Breaks und Bridges mitten in Tracks, wo man sich die Ohren reibt, weil plötzlich ein One Drop-Riddim in ihr explosives Punk-Spiel hinein schneit.
Ja. Nun, was ich an Musik mag, übrigens auch als Schauspieler an Drehbüchern, ist zunächst mal: Sobald ich daran arbeite, weiß ich nicht, was am Ende dabei heraus kommt. Das ist das Interessante, und das ist das, was ich daran mag. Popmusik ist so 'inklusiv', wenn man das so sagen kann, dass sie allen erdenklichen Einflüssen erlaubt, in ihr ausgedrückt zu werden. Das ist großartig.
Gerade in England in den späten 80ern und frühen, mittleren 90ern hat man diesen Melting Pot-Effekt. Das trifft ja auch auf elektronische Spielarten zu, viele hatten einen karibischen Background. Du hast auch einen familiären Bezug dazu.
Mein Vater kam von Saint Kitts, was eine britische Kolonie in der Karibik war und erst später, 1983, unabhängig wurde. Er war britischer Staatsbürger. In seiner Plattensammlung war Calypso, gleichwohl der ja großenteils trinidadisch ist. Dass mein Vater Reggae gehört hätte, ist mir nicht aufgefallen, zumindest habe ich das nicht in Erinnerung.
Der Titel eurer zweiten LP "The Raw & The Cooked" bezieht sich auf Claude Lévi-Strauss, einen bedeutenden Anthropologen. War "The Raw And The Cooked" eine Konzept-Überschrift für einen Song-Zyklus? Das ist ja ein kreativer, unüblicher Name für ein Album. Es gibt aber keine zugehörige Textstelle in den zehn Tracks.
Unüblich, das stimmt. Der Vorschlag des Albumtitels kam von Andys Frau. Die Songs hatten wir bereits fertig, dann aber stellte sich die Frage, wie wir das Ganze nennen. Es gab also kein Konzept, Songs auf diesen Titel zuzuschneiden. Das Verfahren war eher, viel Malfarbe auf die Leinwand zu klecksen, und danach zu erklären, warum grün hier, blau dort ist. (Anm. d. Red.: Die Songs verteilten sich dann unter den Überschriften "The Raw" und "The Cooked" auf die Running Order der Tracklist.)
Der Plattentitel passte auch gut zum Bandnamen.
Der passte.
"Hausbesetzung machte Musizieren erschwinglich."
Was kommt dir spontan zu den alten Tracks von "The Raw & The Cooked" in den Sinn? Angefangen mit dem Opener und der Hit-Single vom Dezember 1985, "She Drives Me Crazy".
Das war die erste Idee, um eine mögliche Platte zu machen, was dann zum Album führte. Und das war einer der Songs, der am längsten brauchte um geschrieben zu werden. Sehr lang. Mindestens sechs Monate.
Beschäftigst du dich damit, wenn heute eine Künstlerin wie Dua Lipa kommt und in einer Handtaschen-Werbung zu "She Drives Me Crazy" die Lippen formt und die Hüften schwingt und die Hookline singt? Hörst du dir dann Dua Lipa weitergehend an, die allgemein viele Referenzen zu den 80ern zieht?
Doch, ja, ich mag ihren Liebessong "If These Walls Could Talk". Ich fühle mich ja geschmeichelt, dass sie diesen Werbespot so gemacht hat. Das ist gut, denn damit stellt sie FYC vielen jüngeren Leuten vor.
Was war denn an "She Drives Me Crazy" ursprünglich so schwierig, dass ihr so lange daran gefeilt habt? Rhythmus? Text?
Alles. Und wie sich alle Teile zusammen fügen. Wohingegen "Good Thing" binnen fünf Minuten fertig war. Bei "Good Thing" spielte David am Klavier, und ich schrieb den Text dazu, und dann war das praktisch fertig.
Sozusagen in Echtzeit.
Mehr oder weniger, ja.
"I'm Not The Man I Used To Be"...
Das ist mein Favorit! Inzwischen verstehe ich, was er bedeutet. Das wusste ich nicht, als ich ihn schrieb.
Was bedeutet er?
Jetzt bin ich in einer Position, in der ich weniger Tage zum Leben vor mir als hinter mir habe. Es ist ein anderer Blickwinkel als ich es gewohnt war, "used to be". Oder anders herum: Ich habe mehr Tage hinter als vor mir.
Ich bin für einen Schwimmverein in Wettbewerben geschwommen. Als ich jetzt wieder in ein Schwimmbecken eintauchte, stellte ich fest: Da waren Leute, die ich überrundet hatte, und nun schaffe ich das nicht mehr. Die alte Zeit scheint mir dann weit weg zu sein. Obwohl ich mich so weit wie möglich gegen diese Veränderung auflehne: Gegen die Effekte des Lebensverlaufs und Ängste, Sorgen, und wie Erfahrungen dich altern lassen.
Mich beeindruckt deine sonore Stimme in diesem Gespräch, auch weil ich sie nach dem Falsett mancher Stücke von damals so jetzt nicht erwartet hätte. Nun klingst du so tief, charismatisch tief. Kam das mit dem Alter?
Ich schätze, das war immer meine Sprechstimme. Meine Singstimme hat sich aber mittlerweile daran angepasst. Die alten Songs singe ich immer noch, aber anders als damals.
"I'm Not Satisfied" - was fällt dir zu diesem Stück ein?
Ich mag den Song. Wir haben ihn im Paisley Park aufgenommen. Das war gut. David Z rief die Session-Leute zusammen. Die kamen und machten ihr Ding. Wirklich zügig. Und gut! Es war beeindruckend, das zu erleben.
"Tell Me What"?
Das ist in sehr ausgeprägter Weise eine Art Retro-Song, ein trauriges Trennungslied. Darüber zu erkennen, wie du eine Beziehung nicht mehr zurück holen, nicht mehr kitten oder wieder herstellen kannst.
"Don't Look Back"?
An dem Titel hänge ich irgendwie nicht so. Live spiele ich ihn nicht.
Sind die Fine Young Cannibals eigentlich mal in Deutschland aufgetreten?
Wir spielten mal in Berlin. Ich erinnere mich, nach Ost-Berlin gegangen zu sein, zum Checkpoint Charlie. Es fühlte sich so an, als sei der Westen abgeriegelt wie Guantánamo Bay in Kuba. Dadurch fühlte sich der Osten weit weg an. Das spürte ich erst vor Ort wirklich.
Das hatte ja auch einen Einfluss auf die Musikszene. Nach dem Mauerfall waren viele Gebäude im grenznahen Bereich dann ungenutzt. In besetzten Kellern boomten Rave-Partys.
Ja, das Prinzip findet sich öfter, dass Leute Häuser besetzten, dass es Squats gab und man sich dadurch überhaupt das Musizieren leisten konnte, dass es erschwinglich wurde, überhaupt in einer Band zu sein und zusammen zu proben. In London gab es das auch eine Zeitlang. (Anm. d. Red.: Ein berühmtes Beispiel einer hausbesetzenden Band war Chumbawamba, die als Wohngemeinschaft lebten.)
Das gleiche gilt wohl für New York. Leere Schauplätze gestatteten es Leuten, sich in der Großstadt aufzuhalten. Das ist das Manko, wenn Städte so sehr gentrifiziert werden. Da gibt es dann keinen Raum mehr, überhaupt irgend etwas zu veranstalten.
In den Neunzigern warst du dann im weiteren Verlauf TV-Schauspieler. 2002 brachtest du doch noch ein weiteres - gutes - Album heraus, das war solo, 45 Minuten, meiner Ansicht in einem ziemlich ähnlichen Stil, wie die Fine Young Cannibals klangen.
Stimmt, das war nicht gerade meilenweit entfernt. Manche der Songs darauf mag ich wirklich, habe auch welche davon live gespielt, aber in keiner guten Reihenfolge, wodurch manche Gigs ziemlicher Müll wurden. Und das Album hatte keinen rechten Zuschnitt, keinen klaren Blickwinkel, keine Identität.
Immerhin, du hattest Producer, die sonst in jener Zeit für Christina Aguilera und Rihanna tätig waren und eine Erfolgsformel hatten. Für die Zeit, in der er es entstand, finde ich es ein relativ gutes Album.
Ja, wir arbeiteten mit Carl Sturken und Evan Rogers auf vier Tracks. Was sie mit anderen machten, wich stilistisch ab und war ganz anders. Die Arbeitsweise war jedenfalls sehr unmittelbar: Sobald wir geschrieben hatten, gingen wir zur Aufnahme über. Ich möchte nicht sagen, dass das Album schlecht war. Aber ich wusste nicht, wer ich zu dieser Zeit war. Manchmal bin das auch nicht wirklich ich, sondern stelle ich nur jemanden dar, der diese Songs präsentiert.
Das heißt, du kannst dich damit nicht identifizieren?
Doch, das schon. Denn diese Songs passen dazu, wo ich mit meinem Körper und Geist und meiner Seele damals war, und da segelte ich auf dem offenen Meer, so fühlte es sich an. Allerdings war ich wohl nicht in der Lage, genau diese Art von Person zu sein, die es gebraucht hätte, um diese Lieder überzeugend darzustellen.
Was machten Andy und David von den Fine Young Cannibals im weiteren Verlauf?
Ich weiß, dass Andy eine Gruppe namens Cribabi hatte und David eine, die hieß Fried. Aber sie machen wohl nichts mehr.
Was habt ihr denn in den 2010ern getrieben?
Also, ich steckte da in einer Stagnation, ich war inaktiv. Da habe ich nicht viel gemacht. Aber ich habe aktuell einen neuen Weihnachtssong. Es wäre schön, wenn du ihn erwähnen würdest. Ich habe ihn vor ein paar Tagen das erste Mal im Radio gehört. Das fühlte sich gut an.
Na, dann erwähnen wir ihn. Herzlichen Dank für das Gespräch. Es war interessant, mal Hintergründe zu erfahren.
Sehr gerne!


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