laut.de-Kritik
Trotz der Schweizer WM-Niederlage wurde kräftig gefeiert.
Review von Andreas BättigMan war sich als Schweizer am Freitag auf dem Openair St. Gallen nicht ganz sicher, über was man sich mehr ärgern sollte: Über den schwachen Auftritt der Schweizer Nationalmannschaft und deren Ausscheiden in Südafrika oder über den unsäglichen Auftritt der Strokes. Dass Julian Casablancas kein Kind von Fröhlichkeit ist, war ja noch weitgehend bekannt. Und natürlich gehört es zum unverwechselbaren Sound der New Yorker, dass er in echter oder auch gespielter Langeweile die Textzeilen ins Mikrophon nuschelt. Aber muss man deswegen gleich sein Publikum verspotten ("Oh, ich liebe es, auf Festivals zu spielen - lächerlich", "Power to the people!!")? Die Crowd wiederum verstand offenbar seine Seitenhiebe entweder nicht, oder war an diesem Abend zu gutmütig - The Strokes wurden trotzdem abgefeiert. Andernorts wären bei einem solchen Auftritt bestimmt Gegenstände geflogen.
Natürlich waren die Songs an sich trotzdem ein Knüller. Die Band performte einmal querbeet ihre zahlreichen Hits, vom Debüt "Is This It" bis zum bisher letzten Album "First Impressions Of Earth", das auch schon wieder fünf Jahre alt ist. Vor einer riesigen LED-Wand waren die fünf Musiker meistens nur als Schatten zu erkennen. Casablancas, in engen Röhrenjeans und Nieten-Lederjacke, kratzte solide die Textzeilen runter. Da war dann auch seine Laune für eine kurze Zeit vergessen. Denn The Strokes sind eben doch eine Liveband, die das Publikum mitzieht. Nach gerade mal 60 Minuten plus Zugabe war dann aber Schluss.
Dass es auch ganz anders geht, zeigten am Samstag 2 Many DJs als letzter Act morgens um eins auf der Hauptbühne. Die kommunizierten nämlich einfach gar nicht mit dem Publikum. Stattdessen ließen die Dewaele-Brüder eine Show auf die tobende Meute los, die es in sich hatte. Sowohl musikalisch als auch optisch bildete dieser Auftritt einen der Highlights des Festivals. Eine riesige Leinwand kündigte jeweils das folgende Sample an. Und dazu gehörten Hits von Gossip, Daft Punk, Mr. Oizo, Justice und zu guter Letzt Joy Division. Als "Love Will Tear Us Apart" durchs Sittertobel hallte, schoss vorne am Bühnenrand weißer Papierregen in die Höhe. Das Publikum war außer sich und ravte noch den letzten Rest Energie aus sich raus.
Ebenfalls gut angekommen ist der Auftritt von Tocotronic wenige Stunden zuvor. Ohne anbiedernd zu wirken, hatten Dirk und Co. offenbar wieder mal eine Scheiß-Freude an ihrem Gig, was sich auf charmante Weise auf die Stimmung des Publikums übertrug. Auch Tocotronic griffen beherzt in die Truhe mit den alten Hits und brachten so das Publikum zum leidenschaftlichen Mitsingen. Ansonsten präsentierte sich das Schweizer Traditionsfestival schlechthin wie immer gut gelaunt als surrealer Mikrokosmos mit eigenen Regeln. Der Übergang zwischen Bühnen- und Zeltareal beispielsweise war erneut fließend - campiert wurde keine fünfzig Meter neben der Hauptbühne.
Das von Fluss und Wald umgebene Naturschutzgebiet verwandelte sich dabei für rund vier Tage in ein Vergnügungsmekka mit beinahe dörflichem Charakter. Es ist fast schon unmöglich, an diesem Festival keine bekannten Gesichter anzutreffen, vor allem, da die meisten Besucher aus der Region stammen. Wer dennoch alleine hinzieht, findet schnell neue Freunde.
Das Bier floss nicht zuletzt aufgrund der beinahe tropischen Temperaturen in Strömen, die große Schlammschlacht blieb - entgegen dem verregneten Vorjahr - glücklicherweise aus: Kein Tropfen Regen fiel auf die sonnengebräunten Körper. Einziger Stimmungsdämpfer: Eine Gruppe gewaltbereiter Fußballfans verkraftete die schlechte Leistung der Schweizer Nationalmannschaft offenbar nicht und nervte die ansonsten friedlichen Festivalgänger mit Rauchpetarden und Pöbeleien. Ob Vuvuzelas als Schlaginstrument zum Einsatz kamen, ist unbekannt.
Seltenheitscharakter hat auch die Tatsache, dass das Festival mit insgesamt 82.000 Besuchern einmal nicht ausverkauft war. Ob hierfür das Sonisphere-Schlammdesaster eine Woche zuvor verantwortlich war? Womöglich lag es eher am dürftigen Line-Up.
Es mangelte nicht nur an großen Namen, auch die Darbietungen der als Headliner taxierten Gruppen blieben über weite Strecken uninteressant. Die Indie-Briten von Kasabian beispielsweise lieferten zwar einen souveränen Auftritt ab, verkamen jedoch wegen der viel zu geringen Lautstärke ihrer Show bestenfalls zu Statisten. Keine Ahnung, welcher Soundtechniker auf die hirnrissige Idee kommt, die Amps auf MP3-Boxen-Niveau herunterzuschrauben.
Ein ähnliches Bild bei den wiederauferstandenen Stone Temple Pilots: Der völlig zugedröhnte Scott Weiland (er lallte zwischendurch irgendetwas über Schmetterlinge) musizierte komplett am Publikum vorbei. Das mit zahlreichen Klassikern gespickte Set lebte größtenteils von der Nostalgie, die bei dem viel zu jungen Publikum verständlicherweise gar nicht vorhanden war. Es reagierte dementsprechend verhalten oder gar komplett gelangweilt.
Überraschend hingegen der exzessive Auftritt der maskentragenden Italo-Raver von Bloody Beetroots Death Crew 77 nachts um drei Uhr. Wer zu dieser späten Stunde auf der Suche nach Vollmondromantik war, wurde schnell eines Besseren belehrt: Das dichte Gedränge vor der Sternenbühne verwandelte sich ab den ersten Bässen in ein regelrechtes Rave-Massaker. DAS war wahrer Discopogo, oder um es mit den Worten eines Festivalbesuchers zu sagen: "Was da abging, war einfach nur krank". Weitere Höhepunkte waren nebst der wilden Zirkusshow von Bonaparte (nackte Frauen wrestlen auf der Bühne!) der sphärische Indie-Rock von White Lies zur heißen Samstagnachmittagsstunde und natürlich Fettes Brot.
Unter dem Strich bleibt die überraschende Feststellung: Mit 2 Many DJs und Bloody Beetroots sorgten auf dem Festival mit Fokus auf rockigere Klänge ausgerechnet zwei Electro-Acts für die beste Stimmung.
Co-Autor: Adrian Meyer
Ausführliche Foto-Galerien zu den Bands folgen.