30. Juni 2014

"Wir machen Urlaub in Deutschland"

Interview geführt von

Das letzte Album der Manic Street Preachers ist kaum acht Monate alt, da scharrt schon das nächste mit den Hufen. "Futurology" wird am 4. Juli das Licht der Welt erblicken. Die Band aus Wales befindet sich gerade wieder in Deutschland auf Tour, beste Gelegenheit für ein Gespräch mit Bassist Nicky Wire.

Nachmittags in der Live Music Hall zu Köln. Die Bühne ist bereits fertig aufgebaut, der Raum nur schummrig erleuchtet. Mein Weg führt mich in den Backstage-Bereich, rechts neben der Bühne vorbei und die Treppe hinauf in eine Küche. Dort kurz warten und das wunderschöne Fliesentisch-Ambiente genießen. Immerhin verschiedenfarbige Mosaiksteinchen, es könnte noch schlimmer sein. Eine Köchin und ein Koch sind bereits damit beschäftigt, das Abendessen vorzubereiten.

Ein gut gelaunter und freundlicher Nicky Wire empfängt mich in seiner Garderobe. So sieht's also aus bei den Rockstars der Welt: drei mal vier Meter als Durchgangszimmer, dazu zwei durchgesessene rote Stoffsofas und ein kleiner Tisch. Dem Bassisten scheint's nichts auszumachen. Entspannt blickt er mich durch seine rötlich getönte Sonnebrille an und gibt bereitwillig Auskunft.

Hallo Nicky. Wie läuft die Tour bisher, seid ihr zufrieden?

Ja, aber es ist körperlich schon sehr fordernd. Ich will mich sicher nicht beschweren. Du vergisst dein Alter oft, dein Körper allerdings nicht. Naja. Berlin war fantastisch. München auch, und das war nicht immer der Fall. Vielleicht hat es damit zu tun, dass Bayern gerade das Pokalfinale gewonnen hat. Es war dieser Samstagabend.

Habt ihr nach dem Spiel angefangen oder seid ihr parallel aufgetreten?

Ziemlich zeitgleich, aber das hat sich beim Publikum nicht bemerkbar gemacht.

Gibt es Unterschiede zwischen dem Publikum in Deutschland und dem in Großbritannien?

Inzwischen nicht mehr so, aber in den Neunzigern haben die Leute sehr befremdet darauf reagiert, dass wir nie Zugaben spielen - speziell in Deutschland. Sie haben einfach nicht verstanden, warum wir nach einem großartigen Gig nicht mehr auf die Bühne zurückkamen. Wir haben trotzdem nie eine Zugabe gegeben. In Japan drehen sie dafür komplett durch. Hier in Deutschland haben wir inzwischen eine gute Fan-Basis. Tausend Leute kommen eigentlich immer, die uns gerne mögen. Es gibt aber kaum Fluktuation. Dieses Mal war Helsinki super, der erste Abend der Tour, die wildeste Meute bisher. Nur devote Manics-Fans offenbar. Wohingegen im UK alles auf größerer Ebene stattfindet.

Wie viele Zuschauer zieht ihr da?

Auf der letzen Tour sind zu den acht Konzerten 45.000 Leute gekommen.

Gibt es für euch denn noch Gegenden, wo ihr gerne mal auftreten würdet? Wo ihr noch nie gewesen seid?

Südamerika, speziell Argentinien. Ich war immer schon von Argentinien fasziniert. Ich habe deren Fußballmannschaft aus der WM 1978 geliebt. Es gibt sogar eine walisische Kolonie in Patagonien. Ansonsten sind auch nicht mehr viele Orte übrig, wo wir noch nicht waren. Nord-Korea? (lacht)

Hat es eigentlich einen Grund, warum ihr dieses Mal in etwas kleineren Läden hier in Deutschland auftretet als auf der letzten Tour?

(Entspannt) Nein, das ist einfach so, wie es ist. Man vertraut auf den Promoter. Ich glaube, jede Band, die heute noch vor 1.200 bis 1.600 Leuten pro Abend spielen darf, kann sich glücklich schätzen. Wir sind Realisten, wir tun nicht so, als könnten wir in großen Arenen auftreten.

Lass uns doch etwas über die Musik sprechen. Als ihr "Postcards From A Young Man" rausgebracht habt, hieß es im Vorfeld: 'This is our one last shot at mass communication'. Das klang für mich etwas verzweifelt. (Wire lacht.) Gab es in den letzten Jahren Momente, in denen ihr ans Aufhören gedacht habt?

So ziemlich jede Woche. Man wird älter und es gibt eine Menge Probleme. Ich bin seit zwanzig Jahren verheiratet und habe zwei junge Kinder. Sean hat drei, James auch ein kleines. Und dann kommen noch die Probleme dazu, die man halt hat, wenn man in einer Band ist. Das digitale Zeitalter und die Menge an Kram, die man machen muss. Es ist anstrengend. Das Musikmachen nicht, das fiel uns immer leicht, aber das ganze Drumherum ist in den letzten Jahren deutlich schwerer geworden.

Mir hat an euch immer gefallen, dass sich jedes Album vom Vorgänger unterscheidet. Wo nehmt ihr nach all den Jahren noch neue Inspirationen und Ideen her?

Wir sind halt immer noch musikbesessen. Alte Musik, neue Musik, es macht keinen Unterschied. Wir sind mit der romantischen Vorstellung groß geworden, dass Rock'n'Roll-Musik dein Leben verändern kann. Das wirkt bis heute nach. Jedes Album ist daher eine neue Chance, unsere Liebe zu bestimmten Musikarten zum Ausdruck zu bringen. Oder auch für Literatur, Kunst und Film. Das treibt uns immer noch an.

Was die musikalischen Einflüsse angeht: Auf dem letzten Album hattet ihr den Song "(I Miss The) Toyko Skyline". Versucht ihr, die Einflüsse von den ganzen Konzertreisen in die Songs einzuarbeiten?

Auf jeden Fall, wir lassen uns von Orten und Stimmungen gerne mitreißen. Das wird sich auf "Futurology", dem neuen Album, noch stärker zeigen. Da geht es um das Reisen durch das Herz von Europa. Wir haben eine Menge germanische Anspielungen drauf, sei es an Musik oder Kunst. Was Tokyo angeht, wir fahren da seit 22 Jahren immer wieder hin. Und das hinterlässt natürlich einen bleibenden Eindruck, eine Narbe auf dir. Das Band zwischen unseren Fans aus bestimmten Orten und der Band ist wirklich stark. Es lässt dich nicht kalt, wenn du diese Orte dann wieder verlassen musst.

"Ich weiß nicht mehr, wen ich wählen soll"

Ihr seid dafür bekannt, eure politischen Ansichten offen zum Ausdruck zu bringen. Ich sehe kaum noch Bands da draußen, die ähnlich deutlich sind. Macht es euch manchmal nachdenklich, dass ihr die letzten Dinosaurier in dieser Hinsicht seid?

Das tut es. Aber in Großbritannien ist alles so kompliziert geworden. Politik hat sich zu einer grauen Masse entwickelt, die nur noch auf die Mitte ausgerichtet ist. Als ich aufgewachsen bin, gab es noch links und rechts, schwarz und weiß, deutliche Ansichten in jeder Richtung. Heute seh ich nur noch beschissenen Mainstream. Auch Deutschland war viel radikaler, als wir zum ersten Mal hier waren. Aber dafür seid ihr sehr erfolgreich, solltet wohl glücklich sein, was? (lacht) Naja... ich habe einen Abschluss in Politik und war immer sehr dran interessiert. Aber jetzt ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich so desillusioniert bin, dass ich nicht mehr weiß, wen ich wählen soll.

Beteiligst du dich denn an den Wahlen zum Europäischen Parlament?

Ich bin immer wählen gegangen. Jetzt bin ich zu dem Zeitpunkt entweder in Paris oder Belgien, ironischerweise. Ich kann mich gerade echt nicht erinnern, ob ich Briefwahl gemacht habe. James hat sein Briefchen abgeschickt, das weiß ich, aber bei mir bin ich mir nicht so sicher. Ich hoffe, ich habe. Momentan bin ich etwas verärgert über mich selbst, weil ich nicht weiß, wen ich wählen kann. Ich habe immer an die Demokratie geglaubt, aber gerade fehlt mir die Richtung.

Das geht mir ganz genauso. Schwenken wir lieber schnell zum noch aktuellen Album und zum bald erscheinenden. Ich finde ja, dass "Rewind The Film" euch in neuer Stärke gezeigt hat.

Es war eine mutige Platte für uns, weil sie so feinfühlig und intim ist. Sie klingt nicht so, wie wir sonst klingen. Keine großen Gitarrenriffs oder dicke Streicher. Wir wollten bewusst etwas runterschalten. Alben wie "Nebraska" von Bruce Springsteen oder "On The Beach" von Neil Young haben uns immer gefallen. Und so hat es sich entwickelt, dass wir auch kleinere Lieder geschrieben haben. Texte, die so klingen, als würde man sich selbst im Spiegel betrachten und sich mit dem Älterwerden anfreunden. Was besonders hart ist, wenn man in einer Rockband spielt.

Meinst du, ihr habt es auf "Postcards From A Young Man", dem Album davor, etwas übertrieben?

Ja, aber bewusst. Es war im Sinne von: Komm, lass uns mal alles draufhauen, was an Gitarrenspuren und Geigen da ist und jede Melodie besonders fett machen. Und es hat funktioniert. Im UK hat sich das Album sehr gut verkauft. 150.000 Scheiben in der heutigen Zeit sind doch richtig super.

Die angestrebte 'mass communication' hat also geklappt?

So weit sie bei einer Rockband in unserem Alter möglich ist: ja, ich finde, das war erfolgreich. Ich bin nicht sicher, ob wir das noch mal hinbekommen werden. Das digitale Zeitalter hat so viel verändert, Bands suchen nach neuen Möglichkeiten, klarzukommen. Mehr Touren geht natürlich, aber das ist was für die jüngeren Leute. Als wir 1992/93 in Deutschland gespielt haben, waren das jeweils vierwöchige Touren am Stück, teilweise in die entlegendsten Orte. Ich glaube nicht, dass wir das heute noch schaffen würden. Wenn du jung bist, ist das kein Problem.

Auf "Rewind The Film" hattet ihr ja eine Menge Gast-Auftritte von anderen Musikern. Nach welchen Kriterien habt ihr die ausgewählt?

Eigentlich immer nach dem gleichen Muster. Zunächst müssen das Leute sein, die wir wirklich gerne mögen. Und dann überlegen wir uns, in welchen Song sie reinpassen würden. Anschließend fragen wir die Künstler, manche winken dann schon ab, weil sie keine Lust haben. Von Cate LeBons letzter Platte war ich begeistert, deshalb musste sie dabei sein. Und James ist gut mit Richard Hawley befreundet, den wir auch toll finden. Das entwickelt sich alles auf natürlichem Weg. War früher auch schon so. Bei Ian McCulloch von Echo & The Bunnymen, der auf dem Debüt und auf "Postcards" zu hören ist, da waren wir einfach große Fans und haben nett gefragt. Es ist immer schön, wenn es dann klappt. Wenn man so viele Songs geschrieben hat wie wir, bekommen sie dadurch eine neue Note, eine neue Farbe.

Wie darf man sich das vorstellen, greift ihr einfach zum Telefonhörer und ruft die an?

Ja, so ziemlich. Das sind auch nur Menschen wie du und ich. Wir mögen sie und bieten ihnen die Songs an. Eigentlich sind es weniger Kollaborationen als 'Hey, möchtest du in unserem Song mitsingen?'.

"Rewind The Film" und die bald erscheinende "Futurology" sind zu großen Teilen aus denselben Aufnahmesessions. Warum habt ihr euch für die Aufteilung entschieden, anstatt beispielsweise ein Doppelalbum rauszubringen?

Wir haben natürlich überlegt, ob wir den "White Album"-Ansatz wählen. Ehrlich, wir haben da keinen roten Faden reinbekommen. Die Songs sind alle so komplett unterschiedlich und harmonieren nicht gut miteinander. Wir haben Testversionen pressen lassen, aber es hat einfach nicht funktioniert. Textlich und musikalisch sind beide Alben völlige Gegensätze. "Futurology" ist lyrisch gesehen recht optimistisch.

Die Texte auf "Rewind The Film" waren hingegen ziemlich melancholisch.

Das ist aber noch nett ausgedrückt (lacht). Ich würde sagen, sie sind ziemlich trostlos. Auf "Futurology" geht es mehr um die Dinge, die wir lieben. Musik, Kunst, Reisen, Bewegung, Punk und Krautrock - das wird alles auf dem neuen Album stattfinden.

Klingt so, als wäre das neue Album noch diversifizierter als das letzte.

Ich beschreibe die neue Platte immer als Post-Punk-Disco-Rock. Besser kann ich die Songs nicht zusammenfassen. Es gibt Elemente von Dance Music, gleichzeitig ist das Album aber auch rauh und irgendwie erhebend. Wir sind ja nicht so die erbauliche Band normalerweise. Bei den Manics findet immer auch Melancholie in den Liedern statt.

Ihr mischt das meist gekonnt. Die Musik tendiert schon mal zur fröhlicheren Seite, die Texte sind dann aber dunkler und introvertierter.

Ja, das empfinde ich auch so. Scheint in uns Walisern auf natürliche Weise drinzustecken. Eine eingebaute lyrische Melancholie, sozusagen. Waliser sind realistische Leute. In den Iren steckt mehr Romantik und Optimismus, Schotten sind oft stolz und trotzig. In Wales sind wir eher besessen von unseren eigenen Unzulänglichkeiten (lacht). Aber das ist eine gute Sache. Die besten Gedichte aus Wales haben etwas Selbstanalytisches, das gefällt mir sehr.

Wo kommt denn eigentlich dieses neue Interesse an Deutschland und der deutschen Sprache her? Im Video zu "Take Me To The Bridge" spielt ihr deutlich auf "Lola rennt" an. Und in "Europa geht durch mich" sind Teile des Textes auf Deutsch.

Das war immer schon da, um ehrlich zu sein. Die ersten Touren in Deutschland waren ziemlich hart, aber so ab 1996 sind wir auch als Urlauber wiedergekommen und haben die Familien mitgebracht. Außerdem spielte natürlich die Faszination für deutsche Musik eine Rolle. Diese ganzen Phase von Stockhausen über Kraftwerk bis hin zu Neu!, einfach großartig.

Die Faszination kommt also aus der Kunstperspektive?

Für mich ja. Aber James beispielsweise findet deutsches Essen spitze (lacht). Ich bin die Antithese, für mich ist Essen überbewertet. Er steht total drauf. Aber die Kunst war wichtig. Die Architektur, die ganze Bewegung der 'Brücke', der Expressionismus, auch Bauhaus, das alles waren wichtige Einflüsse für das Album. Aber speziell die besagte Musikphase. Da war alles so neu, so weit seiner Zeit voraus, so weit allen musikalischen Entwicklungen in der Welt enteilt.

Wie überträgt man denn Bauhaus und die 'Brücke' auf Songs?

Naja, bei der 'Brücke' finde ich das nicht so schwer. Die Idee dahinter: Expressionismus ist Gefühl. Es bedeutet, dass es wichtiger ist, was du fühlst, als was du siehst. Das klingt jetzt ziemlich prätentiös (lacht). Aber so versuchen wir, zu arbeiten. Auf dem Album gibt es das Stück "Between The Clock And The Bed", das spielt auf ein Mönchsgemälde aus Oslo an und verdeutlich gut unsere Vorstellung vom Expressionismus dieser Zeit. Es ist einfach aufregend. Oder man geht zu einer Ausstellung von Gerhard Richter oder Anselm Kiefer. Ich bin großer Kiefer-Fan. Wenn man älter wird, versucht man auch, mehr dieser Dinge in sich aufzunehmen als einfach nur ein Konzert zu spielen.

Hast du auf Tour Zeit dafür, mal zu einer Ausstellung zu gehen?

Manchmal, ja. Als ich das letzte Mal in Berlin war, bin ich zu einer Richter-Ausstellung gegangen. Im Kunsthaus war auch eine interessante Reihe. Neben der Musik hatte ich auch immer andere Interessen. Auf meinen Solo-Album gibt es ein Stück namens "Sehnsucht". Ich liebe dieses Wort, es lässt sich nicht richtig übersetzen.

Wie du schon gesagt hast, habt ihr für "Europa geht durch mich" mit Nina Hoss zusammengearbeite, die die weiblichen Vocals beisteuert. Ich wusste gar nicht, dass sie auch Sängerin ist.

Wir auch nicht (lacht). Es war eine merkwürdige Kette von Ereignissen. Wir mögen ihre Filme sehr gerne, speziell "Barbara", ein Meisterwerk. Alex Silva, den wir aus den Aufnahmen zu "The Holy Bible" damals kennen, ist nach Berlin gezogen und hat mit Grönemeyer gearbeitet. Seitdem hat er einen eigenen Bereich in den Hansa-Studios in Berlin. Wir wollten gerne wieder mit ihm aufnehmen, also sind wir nach Berlin geflogen. Nina Hoss ist die Lebensgefährtin von Alex Silva. Der Plan war, "Europa geht durch mich" zweisprachig zu gestalten. Jetzt ist mein Deutsch leider ziemlich scheiße (lacht). Nina kam zufällig vorbei, da haben wir sie um die Übersetzung des Teils gebeten. Und wo sie schon mal da war auch, ob sie nicht was für uns singen möchte. Ihr Gesang war genau das, wonach wir gesucht hatten: streng und dominamäßig.

Für mich klingt ihr Gesang so ein bisschen 'Berlin Anfang der 80er Jahre'-mäßig. Sie hat sowas Rauhes und Direktes.

Ja, genau! Sie hat neulich in Berlin mit uns gesungen, es war brillant. Sie hatte auch wieder dieses Rauhe, toll. Vielleicht schaffen wir es, sie dieses Jahr mit nach Glastonbury aufs Festival zu nehmen.

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