15. September 2008

"Ich will die Welt verändern!"

Interview geführt von

Berlin, Hauptbahnhof, K7 Büro: Interview mit Matthew Herbert. Als laut.de-Autor Volker Rueß eintrifft, ruht sich Matthew noch aus.Er ist von Kent im Süden Englands mit dem Zug bis nach Berlin gefahren: 12 Stunden lang. Fliegen mochte er nicht, weil dabei zu viel Kerosin in die Luft gejagt wird.

Die amerikanischen Truppen verlassen den Irak, wahrscheinlich bis 2011. Was hältst du davon?

(überlegt lange) Das ist schwierig. Amerika hat ein großes Chaos im Irak angerichtet. Deshalb sagt ein Teil von mir, dass sie das wieder säubern sollten, während der andere Teil aber sagt, dass sie so schnell wie möglich verschwinden sollten, wie jeder andere auch. Aber um ehrlich zu sein, sind die Truppen nur ein Aspekt der amerikanischen Invasion. Der größte Aspekt ist die ökonomische Invasion. Deshalb wird Amerika den Irak mit einer sehr gefährlichen Konstitution verlassen, die privaten Firmen viel Macht überlässt. Und diese Firmen sind größtenteils von außerhalb. Die Ölindustrie wurde zum Beispiel sofort privatisiert und die Kontrolle an Firmen wie Shell und BP, Esso und Tamoil übergeben.

Die Truppen können gerne heimkommen, aber es wäre besser wenn die Ölfirmen heimkommen und Halliburton heimkommt. Amerika hat einige der größten Truppenstützpunkte und eine riesige Botschaft im Irak gebaut, ein unglaublich großes Gebäude, wofür sie illegale, billige Produkte aus China verwendeten. Also scheint es eigentlich nur, als ob sie gehen, aber das betrifft lediglich einen Teilaspekt.

In Deutschland herrscht eine überwiegend negative Stimmung gegenüber den USA. Wie ist das in England?

Ich denke, es gibt eine Menge Wut auf Amerika rund um die Welt. Weil es mit zweierlei Maß misst. Die USA sagen eine Sache und macht die andere. Und die Leute sind davon einfach genervt.

Glaubst du an Politik, an deine Regierung?

Ich glaube sehr stark an einige Strukturen, wie das allgemeine Wahlrecht, egal welches Geschlecht oder welche Rasse jemand hat. Für das Recht zu wählen wurde lange gekämpft, für das Recht in einer Vereinigung zu sein und für das Recht auf kostenlose Gesundheitsversorgung. An diese Dinge glaube ich, und dass jeder die Chance auf Bildung haben sollte und auf frische Luft. Und an die Strukturen, die die Gesellschaft zusammenhalten. Aber andererseits ist die britische Regierung immer noch sehr weiß und sehr männlich. Wir haben immer noch die Königin und wir haben immernoch eine Monarchie. Die Autorität liegt oberhalb der Regierung, obwohl es immer Spannung zwischen diesen Polen gab, die aber aus Parlamentariersicht nie wirklich gelöst wurden.

Ich denke, es ist viel falsch, es gibt viele Probleme. Aber ich glaube immer noch, dass wenn die Leute zusammenkommen um zu wählen, dass das die Macht hat, etwas zu bewegen. Viel Macht wurde an Firmen und an private, geheime Organisationen gegeben, von denen wir nichts wissen. Es ist korrupt, teilweise schrecklich. Wenn man allerdings nach China oder Syrien reist, wo es z.B. ernste Bestrafungen dafür gibt, wenn man seine Meinung äußert, dann sieht man, dass wir noch ein paar Freiheiten haben.

Wie viel Einfluss hat eine einzelne Person?

So viel Einfluss, wie du möchtest, wirklich! Hitler war eine Person, Ghandi war eine Person, Martin Luther King war eine Person, Margreth Thatcher, die ich nicht mag, war eine Person, George Bush. Er scheint nicht sehr besorgt darüber, wie viel Macht eine Person hat, er weiß genau, wie viel er möchte, wie viel er braucht und was er damit will. Es gibt keine Grenze.
Aber wir bekommen beigebracht, mit der Gesellschaft zu agieren bedeute, Dinge zu kaufen. Und in diesem Sinne haben wir sehr wenig Macht. Wenn ich mit dem Zug hierher komme, weil ich nicht fliegen will, dann habe ich im Zug die Wahl zwischen Coca Cola und Pepsi. Und selbst wenn ich dann das Wasser nehme, ist es auch von Coca Cola geliefert. Wir haben wenig Macht, wenn es um das Tun von Firmen und Märkten geht. Das ist beunruhigend.

Wenn du in England z.B. 15 Leute zusammen kriegst, die alle den selben Brief an die Regierung schreiben, dann muss es als eine Frage im Parlament formuliert werden, dann ist ein politisches Thema. Das könnte jeder Scheiß sein. Das Recht eines DJs, eine Baseball-Mütze zu tragen, oder das Recht, die Königin zu stürzen. Auch wenn wir das nicht oft nutzen, ist es eine stark politische Struktur, um deine Stimme hörbar zu machen - während es so etwas in der Wirtschaft nicht gibt. Alles was man machen kann, sind Blogs oder Briefe an Zeitungen. Und manchmal haben Aktionäre Einfluss. Aber es gibt keine Struktur, um eine Beziehung zu diesen Unternehmen aufzubauen.

"Nur Plastikmüll hat Bestand"

Wie viel Einfluss hast du selbst?

Ich habe einen großen Einfluss. Ich schreibe Musikstücke, die einen Titel haben. Ich könnte also einen Titel nehmen wie "Britische Milchbauern bekommen weniger gezahlt als vor 50 Jahren". Und überall, wo ich hingehe und Interviews gebe, sprechen wir dann über Milchbauern. Und das ist nur der Titel, bevor ich irgendetwas gemacht habe, bevor ich die Musik gemacht habe, bevor ich Fotos gemacht habe.

Ich hab eine unglaubliche Macht, das ist manchmal beängstigend. Weil damit auch viel Verantwortung zusammenhängt. Es wäre viel einfacher, diese Verantwortung zu vermeiden und die Leute einfach zum Tanzen zu bringen. Oder ein schönes Stück Musik zu machen, das die Leute hören, während sie im Café sitzen. Wenn man nämlich anfängt, wirklich darüber nachzudenken, welchen Platz Musik in der Gesellschaft hat, dann wird es sehr schwierig. Das ist viel gefährlicher. Du läufst Gefahr, wie ein Depp auszusehen, schlechte Musik zu machen, mit deiner Meinung nicht auf Gegenliebe zu stoßen, dich falsch auszudrücken.

Auf einem unserer Alben haben wir den Israelisch-Palästinensischen Konflikt angesprochen. Wenn ich das früher machte, bekam ich eine Menge aggressiver und gewaltandrohender Emails von sehr pro-israelischen Menschen. Das macht es für mich gefährlicher. Wenn ich z.B. kritisch gegenüber dem Staatschef von Saudi-Arabien wäre, würde ich dort keine Interviews mehr bekommen, und vielleicht sogar eingesperrt. Du fängst an, mit größeren Themen umzugehen, woraufhin auch die Gefahren größer werden.

Was ist die Aufgabe von Musik?

Ich bin nicht sicher, dass sie eine Aufgabe hat. Ich behaupte nicht, die Welt funktioniert so und so und die Musik hat diese spezielle Aufgabe darin, damit sie funktioniert. Ich glaube, Aufgabe ist nicht das richtige Wort. Aber sie hat verschiedene Funktionen. Sie hat die Möglichkeit, unser tägliches Leben zu transzendieren; die Möglichkeit, dass die Leute flüchten können von ihrem normalen Leben. Es ist die Andeutung einer anderen Welt, die Andeutung auf etwas Abstraktes, Schönes.

Es kann eine intellektuelle Übung sein, um dein Gehirn zu stimulieren, um anders über die Welt zu denken. Es kann um die Technologie gebaut sein, die dich dazu inspiriert, anders über dein Verhältnis zur Technik zu denken, oder wie du Technologie in dein Leben einbinden kannst, um eine neue Perspektive zu finden. Es kann dich dazu inspirieren anders zu sein, dein Verhalten zu verändern, und natürlich kann es der Soundtrack für eine Revolution sein, oder eine Revolution an sich. Es kann genutzt werden, um Dinge zu verkaufen, um das Ego aufzublasen, um Idole und Ikonen zu kreieren.

Musik ist einfach eine komplexere Organisation von Geräuschen, deshalb glaube ich nicht, dass es eine bestimmte Aufgabe oder einen bestimmten Fokus hat. Und ich glaube nicht, dass Musik nur politisch sein sollte, dass sie nur versuchen sollte, die Welt zu verändern. Ich glaube, sie kann schön sein, fluchthelfend, schwierig. Das Problem, das wir heute haben, ist aber, dass es nur um das Genre zu gehen scheint: Das ist ein House-Song, das ist ein Rock-Song, das ist ein Opernstück, das hier ein Stück Country, dies dort Hip Hop usw. Als ginge es vorrangig darum, die Strukturen zu unterstützen, die die Musik stützen.

Popmusik ist nur da, um Platten zu verkaufen, um den Künstler als jemanden darzustellen, der klüger ist als der ganze Rest. Und klassische Musik ist da, um historische Vorfahren zu restaurieren und Perspektiven der Elite zu transportieren. Und Dance-Musik ist einfach gemacht, um zu Drogen zu passen. Es hängt davon ab, welche Droge du nimmst, welche Dance-Musik du hörst. Es scheint keinen andere Ambition zu haben, als die Leute zum Tanzen zu bewegen, so lange wie möglich. Ich finde nicht, dass das eine inspirierende Vision von Musik ist.

Ist das auch der Grund, warum du unter so verschiedenen Namen arbeitest?

Ein bisschen, obwohl ich damit aufgehört habe. Ich hab mit Dr. Rockit aufgehört und denke, von jetzt an wird alles unter Matthew Herbert laufen. Ein Grund, unter verschiedenen Namen zu arbeiten, ist, verschiedene Stile auszuprobieren und deine Identität zu finden und durch eine sehr komische Musikindustrie zu navigieren. Die Musikindustrie ist sehr komisch in der Art, wie sie funktioniert. Mittlerweile habe ich meine Stimme gefunden, meine Identität, meine Musik. Es ist einfacher für mich aufzustehen und zu sagen: "Okay, das bin ich!"

Die Angst der Mächtigen vor der Kraft der Musik

Was willst du mit deiner Musik erreichen?

Ich will die Welt verändern!

Kein leichtes Unterfangen.

Ja, natürlich wird es fehlschlagen! Aber genau das ist meine Ambition, ich will die Welt verändern. Ich will zu Interviews kommen und (zeigt auf Getränke und Snacks auf einem Tisch) keine Milch finden, die mit Hormonen gefüllt ist. Es ist mir wichtig, eine Relation zu erschaffen dafür, was gutes Wasser ist und was nicht. (Zeigt auf die Äpfel) Hoffentlich sind das deutsche Äpfel, weil gerade Apfelsaison ist. Die sind wahrscheinlich aus Amerika oder Neuseeland oder so. Aber ich hoffe, die Dinge zu verändern, die mich umgeben, über die ich Kontrolle habe.

Und glaubst du, dass dein Album das erreicht?

Das tue ich. Weil wahrscheinlich 300 Leute an diesem Album gearbeitet haben. Also wenn sonst nichts passiert, habe ich immer noch 300 Leute zusammengebracht, die vorher noch nie zusammen waren, um ein Stück Musik zu kreieren. In diesem Sinn habe ich eine positive Gemeinschaft geschaffen. Ich bin der erste Künstler, von dem ich weiß, der Politiker aufgenommen hat. John Major, unser letzter Premierminister (1990-1997, Anm. d. Red.) ist drauf. Und ich habe Geräuschaufnahmen aus Palästina, die ich so vorher noch nicht gehört habe. Das bedeutet etwas für die Palästinenser, was ich persönlich gar nicht komplett verstehen kann. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, als Teil einer Besatzung zu leben. Aber sie tun es, und ich gebe ihnen eine Stimme.

Ja, ich glaube, dass es etwas zum Besseren verändert hat, selbst wenn die zwei-, drei-, vierhundert Leute sich nie wiedersehen. Ich habe das Album selbst bezahlt. Es ist also möglich, du brauchst keine riesen Menge Geld. Leute kommen freiwillig zusammen, geben ihre Zeit her. Und du wirst meine Musik nicht in einer Nike-Werbung finden, oder Coca Cola oder was auch immer. Und es gibt nicht mal Werbeartikel, wie T-Shirts, auf denen Matthew Herbert Big Band steht, oder DJ-Taschen oder so.

Es geht um den Prozess, nicht ausschließlich das Produkt. Die Gesellschaft sieht die Welt nur durch Produkte. Wir trinken eine Cola und werfen die Dose weg. Aber so einfach funktioniert die Welt nicht. Coca Cola kommt von irgendwo, sie wurde von jemandem gemacht. Jahre später könnte es negative Folgen auf deine Gesundheit haben, weil der Zuckergehalt so hoch ist und es Inhaltsstoffe hat, von denen du nichts weißt. Gleichzeitig unterstützen wir eine Firma, die z.B. in Indien sehr ausbeuterisch ist, Wasser von friedlichen Gruppierungen stiehlt. Oder in Kolumbien Paramilitärs benutzt, um humanitäre Helfer zu töten. Es hört da nicht auf, Coca Cola ist eben nicht nur ein Produkt. Genauso wie Musik. Musik ist ein Prozess, nicht nur ein Produkt. Produkte existieren eigentlich gar nicht in der Welt. Vielleicht ein Stein, aber das stimmt auch nicht. Nichts ist dauerhaft. Das einzige, was Bestand hat, scheint Plastikmüll zu sein.

Du hast für dein Album ein 'Yes' von verschiedenen mächtigen Menschen aufgenommen und dafür auch bei der Queen angefragt. Sie hat abgelehnt.

(Grinst) Ich hab mir eine Fünf-Prozent-Chance gegeben. Fragen kostet ja nichts. Und ich finde es gut, dass sie nein gesagt hat. Das fasst genau zusammen, was die Beziehung von Macht zu einem Künstler ausmacht. Sie meinte, sie kann es nicht machen, weil sie viele solcher Anfragen bekomme. Aber ich wette, ich war der erste, der sie jemals gebeten hat, einfach nur 'ja' zu sagen. Es muss demnach einen anderen Grund geben.

Aber was ist der andere Grund? Die Regierung wollte mich nicht in ihrem Haus aufnehmen lassen, weil ich es in Verruf bringen könnte. Ich könnte das House of Commons (Unterhaus des britischen Parlaments, Anm. d. Red.) schlecht aussehen lassen. Das ist sehr aufregend, weil es bedeutet, dass Musik immer noch die Möglichkeit hat, Machtstrukturen zu beeinflussen, sie anzugreifen. Ich dachte, es wäre ihnen scheißegal, aber dem ist offensichtlich nicht so. Sie denken, Musik hätte die Macht, etwas zu verändern, ihre Autorität in Frage zu stellen. Musiker glauben das oft selber nicht. Das ist sehr komisch.

Was machst du jetzt in Berlin, wie lange bist du hier?

Ich bin nur heute da, für Interviews.

Wirklich? Das war aber eine lange Reise nur für Interviews.

Ja, so ist es eben. England ist weit weg von Deutschland. Wenn man nicht fliegt, dann versteht man wirklich, was Entfernungen bedeuten.

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