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Hendrik Bolz - "Nullerjahre"

Worum gehts?

Ein junger Mann, geboren 1988, als die DDR in den letzten Zügen lag, rekapituliert seine Kindheit und Jugend im Stralsund der Nachwendejahre. Von den versprochenen blühenden Landschaften: keine Spur, statt dessen regiert im Osten das Gefühl, ausverkauft, abgehängt und vergessen worden zu sein. "Nullerjahre" beschreibt eindringlich und erschreckend nachvollziehbar, was enttäuschte Hoffnungen, geplatzte Träume und fehlende Perspektiven mit Menschen, einem Viertel, mit ganzen Regionen anstellen. Obendrauf kommt das Erbe eines menschenverachtenden Systems, an dem auch die nächste Generation noch schwer zu schleppen hat. Wer hier zuhört, lernt Mechanismen verstehen, die aus unsicheren Jungs Gewalttäter machen, aus lauter Angst, anderenfalls selbst zu den Opfern zu gehören.

Wer hats geschrieben?

Hendrik Bolz wurde unter dem Namen Testo als eine Hälfte des Rap-Duos Zugezogen Maskulin bekannt. Sein Buch jedoch spielt lange vorher, und sein Autor schont sich nicht. Er unternimmt nicht den leistesten Versuch, sich in ein vorteilhaftes Licht zu rücken. Ungeschönt beschreibt er sich selbst als das, was er war: kein Sympath, weder cool noch mutig, eher ein Mitläufer. Ein normaler Junge eben, der lange genug erzählt bekommen hat, dass er seine gefühlvolle Seite unterdrücken müsse, um mitspielen zu dürfen. Einer, der im Zweifel vorgezogen hat, schwächerer Leute Fressen zu polieren als selbst aufs Maul zu bekommen. Einer, der versucht hat, seine Zweifel in Alkohol zu ersäufen oder mit allerlei anderen Drogen zum Schweigen zu bringen, und irgendwann feststellen musste, wie schlecht das letzten Endes funktioniert hat.

Wer solls lesen?

Wer sich für die deutsch-deutsche Geschichte interessiert, sich fragt, warum die Menschen im Osten ticken, wie sie ticken, wer verstehen will, wie Angst Gewalt gebiert, und die Gewalt wieder neue Angst, ist bei Hendrik Bolz in guten Händen. Doch, Obacht: Spaziergang wird das keiner, eher ein Gewaltmarsch die Memory Lane hinunter.

Das beste Zitat:

"Das Kung-Fu-Training war, wie sollte es anders sein, beherrscht vom Thema Gewalt. Ich war mit Abstand der Jüngste, bei den meisten der anwesenden Jugendlichen ging es vor allem ums Gewalterleiden und Gewaltvermeiden, viele klagten darüber, sich abends gar nicht mehr auf die Straße zu trauen, und erhofften sich vom Training ein Stück Selbstvertrauen. Schnell sollte Abhilfe geschaffen werden und so lernte man anfangs neben einfachen Abwehrtechniken vor allem: Wachsam sein! Aus dem Weg gehen! Nicht in die Augen schauen! Nicht provozieren! Ein vermiedener Kampf ist ein gewonnener Kampf. Falls es doch mal Ärger gibt: Laut und deutlich »STOP!« schreien! Passanten ansprechen! »LASS MICH IN RUHE!« Kampfposition einnehmen! Starken Gegnern mit aller Kraft in die Eier treten! Ich machte die Schreiübungen mit und kam mir dabei komplett dämlich vor, mit meinen Vorstellungen von Coolness passte dieser ständige Opferhabitus überhaupt nicht zusammen. »LASS MICH IN RUHE!« Einigen Jungs flatterten die speckigen T-Shirts um die krummen Skelette, bei den Partnerübungen krachten fleischlose Knochen aufeinander, bis sie ganz blau wurden, andere keuchten nach zwei Liegestützen, hatten riesige weiche Bäuche und hohe Mädchenstimmen. »LASS MICH IN RUHE!« Was für eine traurige Freakshow, wenn ich einmal richtig groß wäre, wollte ich vor nichts und niemandem Angst haben."

Wertung: 4,5/5

Text von Dani Fromm

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Hendrik Bolz - "Nullerjahre"*

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