Drogen, Gewalt und Langeweile: Testo von Zugezogen Maskulin rekapituliert seine Nachwende-Jugend im Osten. Von wegen blühende Landschaften!

Stralsund (dani) - Schon immer habe er dieses Buch schreiben wollen, erzählt Hendrik 'Testo' Bolz im Interview, "spätestens seit dem Song 'Plattenbau'". Das Bedürfnis, der öffentlichen Debatte seine Sicht der Dinge hinzuzufügen, durchdringt die Biografie des Zugezogen Maskulin-Rappers entsprechend auch von der ersten Sekunde an. "Nullerjahre" (Kiepenheuer & Witsch, 336 Seiten, gebunden, 20 Euro) gerät auf ganzer Länge so packend wie seine Einstiegsszene. Der Autor nimmt seine Leser*innen mit auf eine Fahrt in seine alte Heimat. Einer der Kumpels von früher hat zu seinem Junggesellenabschied geladen. Mit jedem der rasant zurückgelegten Kilometer kommen auch Bilder und Erinnerungen zurück, und urplötzlich stecken wir alle mittendrin im Stralsund der Nullerjahre.

Das Tempo der Geschichte wirkt doppelt rapide, erzählt sie doch von einer in endloser Langeweile simmernden Jugend, deren einziges Bestreben darin zu bestehen scheint, mit allen verfügbaren Mitteln Kopf und Herz abzuschalten, um wenigstens halbwegs klarzukommen, irgendwie. Bolz wird 1988 geboren, die DDR liegt in ihren allerletzten Zügen. Den kurzen euphorischen Jubel, der dem Zusammenbruch folgte, verpasst er knapp, nicht aber die sich anschließende Orientierungslosigkeit, die den Osten in den Nachwendejahren fest im Griff hält.

Role Models: Faschos und Gangsterrapper

"Nullerjahre" beschreibt eindringlich und erschreckend nachvollziehbar, was enttäuschte Hoffnungen, geplatzte Träume und fehlende Perspektiven mit Menschen, einem Viertel, mit ganzen Regionen anstellen. Obendrauf kommt das Erbe eines menschenverachtenden Systems, an dem auch die nächste Generation noch schwer zu schleppen hat. Wer hier zuhört, lernt Mechanismen verstehen, die aus unsicheren Jungs Gewalttäter machen, aus lauter Angst, anderenfalls selbst zu den Opfern zu gehören.

Allzu leicht lässt sich nachvollziehen, wie attraktiv erst Neonazi-Strukturen und später das kaum weniger gewaltverherrlichende, chauvinistische Gebaren von Gangsterrappern auf kleine Buben wirken müssen, die sich endlich auch einmal groß und stark vorkommen wollen. Vergegenwärtigt man sich die umgebende Tristesse und zudem das herrschende Bewusstsein, demzufolge Gefühle ohnehin nichts als weibischer Mumpitz sind, erscheint auch der bereitwillige Griff zu jeder gerade verfügbaren berauschenden Substanz verständlich.

Alles hängt zusammen

In Testos Schilderung seiner Jugendzeit platzen immer wieder per Rückblende Kindheitserinnerungen herein. Die Zeitsprünge lassen einen leicht den Faden verlieren. Als hilfreiche Anker und Orientierungspunkte dienen aber Passagen, die (damals) aktuelles politisches Tagesgeschehen behandeln. Das erleichtert nicht nur, sich wieder richtig auf dem Zeitstrahl einzunorden, sondern stellt zwischen dem Erzählten und den gesellschaftlichen Auswirkungen einen wechselseitigen Zusammenhang her.

Die Darstellung wirkt vor allem deswegen durch und durch glaubwürdig, weil Bolz nirgends auch nur den leisesten Versuch unternimmt, sich selbst als etwas anderes dastehen zu lassen, als er war: kein Sympath, weder cool noch mutig, eher ein Mitläufer. Ein normaler Junge eben, der lange genug erzählt bekommen hat, dass er seine gefühlvolle Seite unterdrücken müsse, um mitspielen zu dürfen. Einer, der im Zweifel vorgezogen hat, schwächerer Leute Fressen zu polieren als selbst aufs Maul zu bekommen. Einer, der versucht hat, seine Zweifel in Alkohol zu ersäufen oder mit allerlei anderen Drogen zum Schweigen zu bringen, und feststellen musste, wie schlecht das letzten Endes funktioniert hat.

Gnadenlos - vor allem mit sich selbst

Hendrik Bolz schont sich nicht. Er erzählt von pubertären Dummheiten, Ausfälligkeiten und Fehlentscheidungen genau so tabulos wie von den psychischen Folgen, die die Kombination aus Selbstverleugnung und Drogenkonsum ihm bescherte. Je weiter man in diesem Buch fortschreitet, desto verzweifelter stellt man sich die Frage: Wie, um Himmels Willen, hat dieser Mann bloß den Absprung aus diesem braunen, toxischen Sumpf geschafft? (Dass er ihn geschafft hat, ist ja bekannt.) Unaufhaltsam steuert das Buch zudem auf den Crash seines neuen Lebens mit dem zurückgelassenen alten zu.

Nein, "Nullerjahre" bietet keine erbauliche Lektüre, wohl aber eine erhellende. Wer Geschichte verstehen will, muss sie sich auch anhören, selbst wenn es wehtut. Aus dem Blickwinkel einer desillusionierten Nachwende-Jugend ist sie fesselnder, konsequenter und gnadenloser bisher nicht erzählt worden. Lest das.

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Hendrik Bolz: "Nullerjahre - Jugend in blühenden Landschaften"*

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Zugezogen Maskulin

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