Platz 1: Travis Scott - "Utopia"
Wenn man um 2011 angefangen hat, Rap zu feiern, kommt man im Dezember 2023 langsam in ein Alter, in dem man merkt, dass man tatsächlich älter wird, und nicht jeden Tag ein bisschen unsterblicher, so wie vor zehn Jahren noch. Passend dazu geben die Halbgötter von damals ein sehr gemischtes Bild ab: Kendrick macht brillante Musik, die zunehmend das Interesse am Rest von Rap verliert. Schoolboy Q spielt Golf. Kanye sind die letzten Sicherungen durchgebrannt. A$AP Rocky verspürt als Freund von Rihanna nachvollziehbarerweise nicht mehr so den großen inneren Druck, irgendwas zu machen, außer der Freund von Rihanna zu sein. Drake ist eben Drake, das heißt: der erfolgreichste Rapper der Welt und ein verbitterter Fuckboy, weil er eigentlich lieber Kendrick wäre, und das ist zwar unterhaltsam zu verfolgen, aber leider auch ein bisschen erbärmlich.
Travis Scott strebt unterdessen unbeirrt seinem Ziel entgegen, das bombastischste Rapalbum aller Zeiten zu produzieren, und mit "Utopia" ist er diesem Ziel wieder einen Schritt näher gekommen. Man hätte sich als Fan und vor allem als Musikkritiker:in gewünscht, dass das Album nach der Astroworld-Katastrophe, bei der zehn Menschen in einer Massenpanik vor seiner Bühne gestorben sind, ein introspektives, feinsinniges Kunstwerk wird, damit man eine befriedigende Erzählung und einen hübschen Redemption Arc hineinprojezieren kann, aber das ist "Utopia" halt nicht.
So etwas wie tiefergehende Gedanken flackern hier und da kurz auf, aber sie spielen im Kontext des Albums keine große Rolle. Es hat seine melancholischen Momente, aber es handelt sich um eine um neun Uhr Morgens nach zwölf Stunden Party von sich selbst berauschte Melancholie, die nur darauf wartet, dass der nächste Bass droppt, der nächste Beat switcht, der nächste geniale Keychange kommt. Und der kommt immer. "Utopia" hat nicht die rohe Emotionalität von "Donda", aus dessen Sessions es teilweise hervorgegangen ist, dafür sitzen die Drums perfekt, die Featuregäst:innen legen sich ins Zeug, als wäre es ihr letztes, die Synapsen leuchten lichterloh. "Utopia" hören ist, als würde man nachts hochschauen und auf eine Antwort warten, und als Antwort fällt ein vollverchromter Ferrari auf einen drauf. In einem Wort: undeniable. Manche mögen es oberflächlich nennen. Wir nennen es das Rapalbum des Jahres.
Text von Kay Schier
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3 Kommentare mit 3 Antworten
Bis Platz 2 fand ich die Liste semi gut. Aus meiner Sicht gab es nur ein paar Seltsamkeiten wie zum Beispiel Ashnikko, die nicht dem Genre HipHop zurechnen würde. Aber mit eurer Nummer 1 habt ihr meiner Meinung den Wert der Liste ad absurdum geführt. Utopia von Travis Scott ist für mich das banalste HipHop Album des Jahres.
"Muss" das mit meinem Sohn hören. Trap und Ähnliches find ich oft anstrengend bis dösig, dafür geht der Typ echt klar. Gute Produktionen und ein eigener Vortrag. Inhaltliche Meilensteine eher weniger. Aber definitiv gut unterhaltende Musik. Erschreckend übrigens, WIE beschissen die deutschen Pendants hingegen sind. Leben allein vom Equipment.
Hehe. Same situation here.
Hab letztens zum ersten Mal Luciano gehört, da ist mir fast der Sack abgefallen. Kann die teils guten Bewertungen hier null nachvollziehen. Mit dem Geschmack meines Sohnes bin ich aber insgesamt noch echt happy. Bisher hätte es deutlich schlimmer kommen können.
Definitiv. Über seinem Bett hängt ein A$ap Rocky Poster
Ist so ein Konsensding in einem durchschnittlichen Jahr oder?
Das Album tönt bisweilen gan geil, aber auch ein wenig langweilig und er hat das gleiche Problem wie Kanye: Man möchte immer wen anders über seine Beats rappen hören.