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Spur und Abweg

Beginnen wir mit dem versprochenen Buchtipp: Der Name Kurt Tallert mag nicht unbedingt allgemein vertraut klingen. Bescheidwisser*innen wissen aber natürlich: So steht es geschrieben, im Pass von Retrogott. Eben jener hat im Februar ein Buch veröffentlicht, das mir komplett entgangen wäre, hätte nicht der grenzenlos wunderbare Kollege Edgar Einfühlsam ausführlich mit ihm darüber gesprochen. Ich kann dafür nicht dankbar genug sein:

In "Spur und Abweg" versucht Kurt 'Retrogott' Tallert anhand von Briefen, Aufzeichnungen und Gedichten, die er geerbt hat, die Geschichte seines Vaters aufzudröseln. Harry Tallert wurde als Halbjude von den Nazis drangsaliert und inhaftiert. Er überlebte das Vernichtungslager, wurde Journalist und Vater, saß als Abgeordneter der SPD im Parlament und hat, wie es scheint, mindestens einem seiner vier Kinder seine verständlicherweise tiefe Verunsicherung der angeblichen "Normalität" gegenüber vermacht.

Eine richtige Review folgt noch, versprochen, vorab sei nur eine dringende Leseempfehlung ausgegeben: Anschaulicher, als es Tallert, der Jüngere, hier beschreibt, habe ich noch nie vor Augen geführt bekommen, wie Vergangenheit unentwegt in die Gegenwart einsickert, sie überlagert, verformt, verzerrt. Die Erkenntnis, dass, was die einen kaum (noch) tangiert, für andere Menschen tägliche Realiät ist und bleibt, mag banal erscheinen. Der Blick in die Nachrichten oder die Nachbarschaft verleiht dem Vermächtnis Tallerts, des Älteren, jedoch jeden Tag aufs Neue gruselige Aktualität. Er schrieb 1995, eineinhalb Jahre, bevor er starb, in einem Gedicht:

"Ich habe nicht glauben wollen
Dass es so kommen könnte
Ich kann mir nicht verzeihen
Dass ich Besseres glauben wollte
Weil ich Besseres glauben wollte
Habe ich Kinder
Verzeiht mir, meine Kinder
Aber kämpft.
"

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