21. Februar 2018

"Ich war ein Niemand und hatte keine Wahl"

Interview geführt von

Seit über einem Jahrzehnt ist Onra nun schon in der Hip Hop- und Beatmaker-Szene unterwegs und hat sich mit seinem Sample-basiertem Sound einen Namen gemacht. Im Skype-Interview spricht er über seine Produktionsweise, fehlende Anerkennung und Retro-Trends.

Nach einigem Hin und Her und regem Mailverkehr klappt es schließlich doch: Der französische Hip Hop-Producer Arnaud Bernard, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Onra, ist in der Skype-Leitung. Eigentlich als äußerst interviewscheu bekannt, überrascht seine auf Anhieb lockere Art, die trotz der beinahe 9000 Kilometer Entfernung zu seinem derzeitigen Aufenthaltsort Thailand ein entspanntes Gespräch ermöglicht.

Hi! Ich erwische dich in Thailand. Machst du Urlaub oder planst du dort schon dein nächstes Projekt?

Nein, nein. Ich bin rein privat hier, zum Relaxen.

Deine Biographie ist ja durchaus bewegt, was sich auch in deiner Musik widerspiegelt. Könntest du ein wenig darüber erzählen?

Onra: Klar! Meine Mutter ist Französin, mein Vater auch, allerdings ist er vietnamesischer und indischer Abstammung. Er hat in Deutschland für das französische Militär gearbeitet, weshalb ich in Trier geboren wurde. Dann sind wir zurück nach Frankreich gezogen, von aus meine Mutter dann in die Elfenbeinküste ausgewandert ist. Ich wuchs also gewissermaßen zwischen zwei Ländern auf: Frankreich und Elfenbeinküste. Als ich dann zehn wurde, sind wir außerdem nochmal für ein paar Jahre zurück nach Deutschland, weil mein Vater da wieder stationiert war. Wir lebten während dieser Zeit in Landau. Ich bin also viel rumgekommen.

Und wie bist du dann zum Hip Hop gekommen?

Na ja, ich war zehn Jahre alt und Hip Hop wurde immer populärer (Anm.: Onra ist Jahrgang 1981). Das war eigentlich auch die Zeit, zu der ich anfing, überhaupt Musik zu hören. Ich glaube gar nicht, dass ich vor Hip Hop irgendwelche andere Musik gehört habe. Durch Kassetten, kommerziellen Hip Hop im Radio und durch meine Leidenschaft für Basketball hat sich das ergeben. Jedenfalls habe ich mit Hip Hop und R'n'B angefangen und dieses ganze Neunziger-Zeug höre ich nach wie vor.

Ich frage hauptsächlich, weil ich dich vor ein paar Jahren mal als DJ gesehen habe und du nach einigen Hip Hop-Tracks zu Beginn irgendwann auf housigere Sachen und auch Basslastigeres umgeschwenkt bist. Wie kommt dieser Mix zustande? Hört man sich zum Beispiel "L.O.V.E." an, klingt das schon eher nach House als Hip Hop.

Das mag sein: soweit es mich und meine Vision von Musik betrifft, die ich spielen will, ist und bleibt es immer Hip Hop. Das liegt schon allein an der Art, wie ich meine Tracks produziere. Ich sample Zeug mit dem MPC, ich nehme für die Produktion ausschließlich das MPC her, keinen Computer oder sowas. Man kann also sicherlich sagen, dass manches nicht unbedingt nach Hip Hop klingt, für mich bleibt es das aber immer.

Dann lass uns doch mal über deine Produktionen sprechen. Am bekanntesten dürfte definitiv deine "Chinoiseries"-Trilogie sein, deren Teile von 2007 bis 2017 veröffentlicht wurden. Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, in Vietnam und China nach Platten zu suchen?

Das war eigentlich zu keiner Zeit geplant! Ich bin da nur hingefahren, um Urlaub zu machen. Dann habe ich da ein paar Sachen gefunden und mit dem Sampling angefangen. Erstens ging es mir dabei um Spaß, zweitens auch um die Herausforderung. Ich habe versucht, irgendwas aus dem Zeug zu machen, das ich gekauft habe. Ich habe nicht gesagt "Oh Mann, ich liebe asiatische Musik so sehr" oder dass ich damit unbedingt was machen will. Es war mehr ein Spiel für mich. Damals dachte ich nicht, dass ich das veröffentlichen würde. Ich habe es aus Spaß gemacht, an Freunde weitergegeben und auf MySpace veröffentlicht, das es damals noch gab. Es war nichts Ernstes. Es ging mir einfach um den Spielcharakter, ich wollte etwas aus Musik machen, die ich noch nie zuvor gehört hatte, die mir fremd war. Im Endeffekt habe ich deswegen auch mit dem Musikmachen angefangen. Aus Spaß, um mich auszudrücken.

Du hast auch gesagt, dass du nicht besonders glücklich damit bist, oftmals nur auf "Chinoiseries" reduziert zu werden. Nervt dich das? Der Rest deiner Produktionen klingt ja doch anders.

Ja! Ich meine, das war für mich von Anfang an ein Nebenprojekt. Es steht nicht dafür, wie ich mich selbst definiere. Ich will ganz bestimmt nicht, dass die Leute mich hauptsächlich damit identifizieren. Natürlich ist es ein wenig nervig für mich, dass ich damit die ganze Zeit assoziiert werde. Ein Grund dafür ist natürlich auch, dass ich Asiate bin und ich dieses Asia-Hip-Hop-Zeug gemacht habe. Deswegen ist es für Leute einfach naheliegend, zu sagen: "Das ist dieser asiatische Typ, der diesen asiatischen Hip Hop-Sound macht." Aber ich denke, die Leute, die mich und den Rest meiner Arbeit kennen, verstehen schon, wer ich als Künstler wirklich bin.

Dann will ich dich nur noch mit einer Frage zu diesem Thema nerven: Könntest du erklären, was es mit deinem Track "The Anthem" und Coca Colas Werbespot zu den Olympischen Spielen 2008 in Peking auf sich hat?

Ach, das war eigentlich keine große Sache. Irgendeine Londoner Werbeagentur hat den Track damals auf MySpace gefunden. Und da es eben für die Spiele in Peking war, wollten sie etwas haben, das halb westlich und halb östlich ist. Deshalb dachten sie, dass "The Anthem" dafür am besten passen würde. Na ja, das Ende vom Lied ist, dass sie einen Remake gemacht haben, der sich etwas anders anhört. Die Werbung ist also nur eine Kopie meines Songs, ich habe damit rein gar nichts zu tun. Sie haben die Idee abgekupfert und das war's.

Ich habe mir die Werbung heute noch mal angehört und muss sagen, dass die Kopie schon sehr offensichtlich ist. Konntest oder wolltest du da nichts machen?

Ja, die Verbindung ist schon sehr offensichtlich. Aber es ist, wie es ist. Ich war damals verdammt pleite und die haben mir 1.000 oder 1.500 Euro gezahlt und ich dachte mir, dass ich davon ein paar Monate leben könnte. Deshalb habe ich das Geld einfach genommen. Ich hatte keine wirkliche Wahl. Ich war ein Niemand in der Musikindustrie, hatte keine verdammten Kontakte, hatte kein Geld und hab dann einfach "Scheiß drauf!" gesagt und den Scheck genommen. Die haben mich quasi für die Idee bezahlt, das passt jetzt schon.

"Ich hatte einfach nicht die Zeit, andere Produktionsarten zu lernen."

Wir sprachen vorher schon kurz über deinen Produktionsprozess. Warum ist das MPC so ein elementarer Bestandteil für dich? Du benutzt ja immer noch keine digitalen Hilfsmittel, wenn ich richtig informiert bin?

Genau. Das MPC ist das Werkzeug, mit dem ich angefangen habe. Ich bin damit einfach vertraut. Ich habe meine Karriere begonnen, als ich mit dem MPC noch ein Anfänger war. Irgendwie hat es aber trotzdem geklappt und ich bin dahin gekommen, wo ich jetzt stehe. Die Sache mit der Musik hat so schnell Fahrt aufgenommen, dass ich nie die Zeit hatte, andere Techniken oder Produktionsarten zu lernen. Sobald ich ein Album rausbringe, kommt schon wieder das nächste und so weiter. Die ganzen Shows und Touren rund um die Welt lassen mir einfach nicht die Zeit, das Produzieren am Computer zu lernen. Außerdem habe ich ein paar Beispiele im Kopf, deren Namen ich nicht nennen werde, die sich nach dem Umstieg von analogen auf digitale Produktionstechniken nicht wie vorher anhören. Das hat mich schon abgeschreckt: Diese Typen waren so dope mit ihren originalen Instrumenten und haben dann versucht, mit der Zeit Schritt zu halten und sich mit der Technologie weiterzuentwickeln und dabei komplett ihren Sound verloren. Es hört sich komplett fremd an.

Meinst Du damit den glattgebügelten Klang der Computer?

Ja, aber ich ziele nicht nur auf den Klang ab. Alles ist anders: Die ganze Energie, die Ideen, die Art, wie sie ihre Tracks zusammenbasteln. Ich weiß nicht, die hören sich plötzlich beinahe wie andere Personen an.

Lass uns auf deine musikalische Grundidee eingehen. Grundsätzlich würde mich interessieren, warum die meisten deiner Tracks nicht länger als zwei oder maximal drei Minuten sind?

Na ja, weil es halt einfach Instrumental Hip Hop ist, ich weiß nicht. Es passiert einfach nicht so viel in meinen Tracks, es sind hauptsächlich Loops, es ist repetitiv. Ich will einfach nicht, dass das zu lange dauert. Ich denke, ein bis zwei Minuten sind genug. Es ist einfach ein Beat-Tape-Format, um den Hörer eine Idee zu geben, wie die jeweiligen Tracks klingen. Die Sachen müssen dafür nicht extrem lang sein. Auf der ersten "Chinoiseries" hatte ich zum Beispiel 32 Tracks und in der Größenordnung ging das auch bei den anderen Teilen weiter. Wenn die Tracks alle drei Minuten oder länger sind, bleibt dafür schlicht kein Platz mehr auf der Platte.

Wie gehst du denn an deine Alben ran? Welches Konzept hast du da im Kopf? Planst du die Platten tatsächlich als eine Art Soundtrack?

Gewissermaßen schon. Es ist skizzenhaft, als ob du eine DVD einlegst, die ja auch in verschiedene Szenen eingeteilt ist. Ich würde aber nicht sagen, dass das meine Patentlösung ist.

Im Zusammenhang mit Onra stolpert man des öfteren über den Begriff "Future Funk", so auch im Promotion-Text zu deinem neuen Album. Was bedeutet er für dich?

"Future Funk" ist eine Bezeichnung für die Art von Musik, die ich auf "Long Distance" gemacht habe. Ich habe das Genre so genannt. Du sampelst Funk, machst ihn langsamer, komprimierst ihn. Und ich glaube, viele Leute haben den Begriff einfach übernommen, ohne wirklich zu wissen, woher er kommt und wofür er steht. Es hat mit diesem Album angefangen, es gab damals nichts Vergleichbares. Es ist mein Trademark-Sound.

Was fasziniert dich denn derart an dem Eighties-Retro-Sound, mit dem du arbeitest?

Schwierig zu sagen! Es hört sich einfach so gut an, weißt du? Die Akkorde, der Klang der Synthesizer, das Programming der Drum Machines, die Vocals klingen verdammt sauber. Einfach stark! Es ist so eine kultige Dekade, alleine, was die Ästhetik anbetrifft. Der Soul und R'n'B aus den Achtzigern ist genial. Aber ich mag und sammle verschiedenste Arten von Musik, versuche Samples zu finden, die noch niemand benutzt hat. Chinesisch, indisch, Boogie, Funk, Soul, R'n'B. Im Moment habe ich zwischen 4.000 und 5.000 Platten und etwa 2.000 CDs.

"Jetzt ist doch alles Neunziger!"

Kommen wir zu deinem neuen Album "Nobody Has To Know". Schließt es mit seinem Retro-Sound an "Long Distance" an?

Nicht wirklich. Ich denke, die beiden Alben sind sehr verschieden. Technisch sind sie sicherlich ähnlich, vom Sound und der Energie her aber nicht. Wenn Leute in der Musikrichtung aber nicht so versiert sind, ist es klar, dass sie die beiden Alben in denselben Topf werfen. Wenn man aber ein bisschen drin ist, kann man klare Unterschiede erkennen. Die Verbindung wäre aber definitiv, dass es derselbe Typ ist, der die Alben mit den gleichen Maschinen aufgenommen hat.

Und es ist wieder ein Konzeptalbum geworden, wie der Großteil deiner restlichen Produktionen. Wie kommt das und wie funktioniert deine Arbeitsweise?

Ich weiß eigentlich auch nicht genau, wie das zustande kommt. Aber manchmal habe ich einfach Ideen für ein Projekt, das mich interessiert. Dann folge ich meinem Instinkt und agiere aus dem Moment heraus. Die meisten Alben habe ich in zwei oder drei Wochen gemacht. In der Zeit häufe ich tonnenweise Tracks an und bin anschließend für Monate leer. Es ist total spontan, ich realisiere erst hinterher: "Scheiße, ich habe ein Album gemacht." Aber während des Produktionsprozesses merke ich gar nicht, was ich da eigentlich tue. Einfach einen Track nach dem anderen.

Und das Konzept von "Nobody Has To Know" ist eine geheime Affäre?

Nun, ich würde nicht sagen, dass das das Konzept ist. Eher das übergeordnete Thema. Es gibt zwei verschiedene Dinge: Das Thema des Albums ist eine verbotene Liebesgeschichte. Du hast einen Partner und verliebst dich in jemand anderen, das ist so eine Art Grundmotiv. Das Konzept bezieht sich aber auf den Sound. Und das ist, Beats aus Samples der späten Achtziger und frühen Neunziger zu machen.

Und wie griffen Thema und Konzept dann ineinander?

Das lief ganz natürlich ab. Ich habe eben wieder Track um Track gemacht und mir dann diejenigen ausgesucht, die ich am meisten mochte. Dann ist mir aufgefallen, dass sie etwas gemeinsam haben, aus dem ich was machen kann. Man kann sie alle in die Richtung interpretieren, dass sie über eine Art verbotene Affäre sprechen. Liebe in allen ihren Erscheinungsformen wird eben immer das Hauptthema der Musik sein. Deswegen war es für mich auch klar, dass das Album irgendwie in diese Richtung gehen musste.

Was mir beim Hören gleich auffiel, waren die anspruchsvollen Synthesizer-Parts. Hast du die selbst eingespielt? Ich habe gelesen, dass du den ein oder anderen besitzt.

Ja, ich habe schon einige und benutze sie auch auf dem Album. Bei technisch versierteren Teilen wie Solos habe ich allerdings Hilfe von Freunden bekommen. Das war auf fünf Tracks der Fall.

Die zeitgenössische Popkultur kann von Revivals ja gar nicht genug bekommen. Auch außerhalb des musikalischen Sektors erleben wir mit "Stranger Things" und ähnlichen Auswüchsen gerade wieder starke Achtziger- und Neunziger-Tendenzen. Wie stehst du dazu?

(Lacht) Das ist einfach der Lauf der Dinge. Die Achtziger sehe ich momentan gar nicht. Die sind für mich schon erledigt. Das Daft Punk-Album von vor drei Jahren ging noch in diese Richtung. Jetzt ist doch alles Neunziger! Ob Musik, Ästhetik, Grafikdesign, Fashion, überall! Vielleicht bin ich einfach schon etwas voraus (lacht).

Vielleicht ist das der Grund, warum andere deine Ideen stehlen. Darüber hast du dich ja beschwert, wie ich gehört habe.

Na ja, was heißt stehlen. Ideen zu übernehmen ist ja schön und gut. Ärgerlich ist aber dann, wenn man die Anerkennung dafür nicht bekommt, die einem eigentlich zustehen würde. Es geht alles so schnell heutzutage. Wenn ein Typ eine Idee hat, kommt ein anderer und übernimmt sie von ihm, dem das Gleiche dann mit einem Dritten passiert. So geht das ewig weiter. Das ist einerseits eine schöne Sache, andererseits wäre es aber auch nett, wenn die Leute, die mit etwas Neuem angekommen sind, wenigstens eine Würdigung bekämen. Schau dir nur mal Kaytranada an, der vor ein paar Jahren seinen Janet Jackson-Remix mit etwas mehr Tempo gemacht hat. Auf einmal hat wirklich jeder versucht, sich genauso anzuhören. Das war so schwach!

Das ist der Mechanismus, ja.

Es ist einfach ein Jammer. Plötzlich will jeder wie Kaytranada klingen, ohne zu wissen, dass der Typ das Ding ins Rollen gebracht hat, diesen Groove als Erster gemacht hat. Ich finde das abgefuckt!

Man merkt, dass dir Authentizität und Individualität sehr wichtig sind. Darauf muss man ja auch aufpassen, wenn man sich an älteren Vorlagen bedient.

Ja! Ich denke aber, das ich das hinbekomme. Beim Sampling kombiniere ich altes Zeug zu etwas Modernem, Frischem. Daran ist nichts verkehrt. Das hoffe ich zumindest. Originalität und Authentizität sind da auf jeden Fall wichtig. Das lässt einen ja auch aus der Masse herausstechen. Mehr als Talent, mehr als alles andere. Originell zu sein ist heute aber richtig schwer, weil du von so Vielem inspiriert werden kannst. Das Internet ist so zugänglich, weswegen es schwer ist, sein eigenes Ding durchzubringen oder etwas Neues zu versuchen. Manche tun das, aber die meisten kopieren einfach nur jemand anderen.

Das Letzte, was du also wollen würdest, wäre etwas Altes aufzuwärmen?

Das kommt drauf an. Wenn ich morgens aufwache und mir in den Kopf gesetzt habe, einen 90s-Hip-Hop-Track zu machen, dann gibt es dafür ein Rezept. Du nimmst Breaks, einen Loop und so weiter. Weißt du, das habe ich nicht erfunden. Es kommt also ganz darauf an, was du wirklich machen willst. Wenn du dich ausdrücken, du selbst sein willst, dann ist das cool und du sollst es machen. Wenn du aber 90s-Hip Hop machen willst, ist das auch cool. Für meine Alben versuche ich allerdings immer etwas Originelles zu machen, eben ein Konzept zu haben.

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