7. Juni 2011

"Viele wissen nicht mal, dass Island existiert"

Interview geführt von

Um Retro Stefson weht der süße Duft des Hypes. Die isländischen Newcomer unterschrieben im Frühling bei Universal, am 6. Mai 2011 erschien das Major-Debüt "Kimbabwe". Bereits im März supporteten sie The Go!-Team auf ihrer Deutschlandtournee.Wie uns der Promoter vor dem Interview stolz berichtet, spielten Retro Stefson die Engländer knallhart an die Wand. Das deutsche Publikum tanzte ab und zeigte sich überrascht von ihrem Mix aus Afrobeat, Metal, Disco und fröhlichem Indie-Pop.

Musik also, die so gar nicht zum Bild eines kalten, bankrotten Islands passt. Wir treffen Haraldur (Perkussionist und Rampensau) und Unnsteinn (Sänger, Gitarrist und Kopf der Band) im Hamburger Schanzenviertel.

In drei Sätzen: Was bedeutet es, in Reykjavik in einer Indie-Band zu spielen?

Unnsteinn: Ok. Es bedeutet, du hast kein Geld. Du spielst immer vor den gleichen Leuten. Und du hast großartigen Spaß.

Ihr seid alle um die 20 Jahre alt, habt aber schon als Kinder in Bands gespielt. Bei eurem ersten Konzert als Retro Stefson wart ihr gerade mal 14 bis 16 Jahre alt. Ist das typisch für Reykjavik? Spielen alle Kids in Bands?

Unnsteinn: Es ist wirklich typisch. Jeder kennt jeden.

Haraldur: Das ist sicherlich ein Vorteil. Wenn wir zum Beispiel dringend einen Amp brauchen, rufen wir einfach unsere Freunde an.

Unnsteinn: Wenn eine Band ins Ausland reist, haben wir ... nun ja, nicht wirklich Benefizkonzerte, aber man versucht, Geld zu sammeln für die Flugtickets und dann spielt man zusammen Musik. Solche Sachen.

Also gibt es keine Rivalitäten unter den Bands?

Unnsteinn: Nein, nein. Vor zehn Jahren war das mal so, mit Nu-Metal Bands. Also eigentlich gab es gar keine wirklichen Beefs, aber eine Band meinte mal, sie muss jetzt einen starten. Das einzige Problem dabei war, dass keine andere Band bei diesem Spiel mitmachen wollte! Aber im Ernst, es gibt wirklich keine Rivalitäten. Weil jeder mit jedem verwandt ist! Streitereien zwischen Bands könnten darum problematisch sein.

Woher kommt diese Tradition, in Bands zu spielen?

Unnsteinn: Ich kann es mir nicht wirklich erklären. Eine Sache, die ich aber weiß, ist, dass es in den vergangenen Jahren sehr beliebt wurde, in Bands zu spielen. Es wurde daher auch einfacher, selber eine Gruppe zu starten, weil es so viele nette Bands in Island gibt.

Haraldur: In Island gibt es auch einen sehr beliebten Bandwettbewerb. Wenn du den gewinnst, schenken sie dir Studiosessions. Das ermutigt einen sehr. Das Ganze wird von der Stadt Reykjavik organisiert.

Unnsteinn, in einem Interview im Magazin Dazed and Confused sagtest du, dass die Isländische Musikszene einen hohen Standard hat. Man muss deshalb originell sein, um heraus zu ragen. Ist dieser hohe Standard immer ein Vorteil?

Unnsteinn: Yeah. Es gibt zum Beispiel nur eine Reggae-Band in Island. Es kann niemals zwei geben. Eine andere Reggae-Band müsste einen komplett anderen Stil spielen. Jeder muss einzigartig sein. 'Einzigartig' ist hier aber nicht gleichzusetzen mit 'großartig'. Jeder sollte definitiv seinen eigenen Sound haben. Es gibt in Island zwar eine gewisse Szene innerhalb von Genres, aber man spielt mit vielen Dingen, die letzendlich völlig unterschiedlich klingen.

Wie habt ihr euren Sound gefunden?

Unnsteinn: Indem wir immer Sachen ausprobiert haben. Als wir anfingen, ging unser Sound eher in Richtung Folk. Dann fing ich als DJ an und hab begonnen, Dance-Musik zu hören. Das neue Album hat daher einiges an Bassdrums. Ich war nie wirklich besorgt darüber, unseren Sound zu finden. Erst in den Interviews der letzten Tage habe ich aber herausgefunden, wie wichtig das eigentlich ist.

Lässt ihr also einfach all die Musik raus, die in euch drin steckt oder geht ihr mit einer konkreten Vorstellung an eure Musik heran? Wie schreibt ihr eure Songs?

Unnsteinn: Ich schreibe alles auf, was mir in gerade in den Sinn kommt, präsentiere dann aber nur einen gewissen Teil davon der Band. Aber manchmal präsentiere ich der Band dann doch Dinge, bei denen ich zuerst dachte: OK, das mache ich sicher nicht für die Band! Zum Beispiel Heavy-Metal-Disco-Sounds. Da denke ich, das ist zu dämlich um es live zu spielen. Und dann mache ich es trotzdem, präsentiere es der Band und wir spielen es live. Ich denke, genau das ist dieser Überraschungsmoment unserer Musik. Nicht immer das gleiche zu spielen. Ich meine, wenn ein Song beliebt wird, versucht man oft, diesen Song zu imitieren. Wir versuchen, möglichst verschieden klingende Songs zu haben.

"Es ist langweilig, immer den gleichen Stil zu spielen"

Wie könnt ihr euch erklären, dass alles, was an Musik aus Island kommt, die Leute offenbar immer wieder überrascht?

Haraldur: Ich kann es nicht, wirklich. Ich weiß nicht, wieso die Leute immer wieder überrascht sind.

Unnsteinn: Es gibt so viel Musik, die nicht aus Island rauskommt. Die Leute sehen also nicht mal das.

Haraldur: Yeah, ich glaube, das ist einer der Gründe. Ich denke, es gibt viele Leute, die nicht einmal wissen, dass Island existiert. Und wenn sie eine Band sehen, die sie mögen, denken sie wohl: Wow, das stammt von einer Insel, von der ich nicht mal wusste, dass sie existiert! Das muss bestimmt eine großartige Insel sein.

Es gibt ja gewisse Stereotypen über isländische Musik, vor allem nach dem Erfolg von Sigur Ros: Das Mystische, die Kälte, die göttliche Natur und so weiter. Arbeitet ihr mit eurer Musik aktiv gegen diese Vorstellungen?

Unnsteinn: Ja, aber nicht aktiv, eher auf eine unterbewusste Art. Zum Beispiel, indem wir Steel-Drums einsetzen anstatt dieses Drone-Zeugs. Ich mag Sigur Ros und was sie mit gewissen isländischen Songs machen, also mit den alten Liedern. Es macht Spaß, solche Referenzen zu haben und zu versuchen, es selbst auch auszuprobieren.

Ich stamme aus der Schweiz und unsere Bands haben es eher schwer, außerhalb unseres kleinen Landes gehört zu werden. Ich bin daher immer wieder überrascht, wie viele isländische Bands im Ausland Erfolg haben. Wie könnt ihr euch das erklären?

Unnsteinn: Ich weiß es nicht wirklich. Ich habe erst gerade darüber nachgedacht: Letztes Jahr kamen etwa zehn Filme aus Island. Ich bin in Portugal geboren. Also hab ich überlegt, wie viele Filme die Filmindustrie in Portugal produzieren müsste, um auf die gleiche Anzahl isländischer Filme zu kommen. Die müssten jeden Tag einen Film produzieren, um Island einzuholen!

Spürt ihr immer noch einen gewissen Hype um isländische Musik?

Unnsteinn: Ja, da ist auf jeden Fall eine gewisse Begeisterung vorhanden. Es hat etwa da angefangen, als Sigur Ros bekannt wurde.

Haraldur: Oder früher, mit den Sugarcubes.

Unnsteinn: Nee, Björk hatte nicht diese Art von isländischem Sound wie Sigur Ros.

Hat der Erfolg von Sigur Ros isländischen Bands geholfen?

Unnsteinn: Ja. Die Leute kommen zu uns und sagen, dass sie uns hören kamen, weil sie hörten, wir sind aus Island. Aber unsere Musik ist völlig anders und dann sind die total überrascht.

Welche Musik und Bands hört ihr selber?

Haraldur: Wir hören sehr viel Musik. Wir hören afrikanische Musik. Ich persönlich höre alle ein, zwei Wochen einen neuen Künstler, bis ich davon gelangweilt werde. Auch Unnsteinn zeigt mir sehr viel Musik. Im letzten Jahr habe ich etwa sehr viel Whitest Boy Alive gehört oder Olöf Arnalds, die Cousine von Olafur Arnalds.

Unnsteinn: Ich höre viel Musik auf MP3-Blogs, viel neue Musik. Als ich noch jünger war, hörte ich viel Musik, die meine Eltern spielten, afrikanische Musik.

Ich hoffe, ihr seid nicht beleidigt, aber eure Herangehensweise an Musik erinnert mich an die frühen Panic! At The Disco. Oder vielleicht sogar an The Refused, die auf "The Shape Of Punk To Come" versucht haben, das Genre des Punk aufzubrechen, indem sie Jazz-Rhythmen oder Techno-Beats verwendeten. Habt ihr genug von Genres?

Unnsteinn: Yeah. Ich war in einer Bluesband, ich war in einer Reggae-Band und es ist so langweilig, immer den gleichen Stil zu spielen. Ich mochte Panic! At The Disco auf ihrem ersten Album übrigens sehr, aber dann wurden sie kitschig.

Haraldur: Ich hab noch nicht mal von der Band gehört!

Unnsteinn: Wir brechen die Genres auf, um uns selbst herauszufordern. Wir mögen Heavy Metal, Disco und Jazz – am besten alles innerhalb von einer Minute. Ich mag dieses Überraschungselement. Das machen wir auch fürs Publikum. Wir versuchen Vorurteile aus der Welt zu schaffen, zum Beispiel über Jazz. Wenn also Leute die denken, dass sie sich ja eh nie Jazz-Bands angucken, für die haben wir ein Jazz Solo über einem Disco Beat!

"Unsere Musik als Weltmusik zu bezeichnen, ist so einfach"

Es liegt wohl in der Natur von Musikkritikern, Bands immer in gewisse Genres zu pferchen, was meiner Meinung nach in jüngster Zeit zu ziemlich aberwitzigen Kreationen geführt hat. Siehe "Post-Dubstep" oder "New Weird America". Sind diese Genrebezeichnungen überhaupt noch nötig?

Unnsteinn: Nein, das ist völlig dämlich. Das gibts nur, damit man eine Art sicheren Hafen hat.

Haraldur: Auch wenn die Leute versuchen, andere Personen in Genres zu setzen, etwa mit: Das ist ein Indie-Typ, das ist ein Goth - das kommt doch überhaupt nicht drauf an. Ich habe einen neuen Plan: Man muss Musik anhand von Gefühlen in Genres ablegen. Das heißt, man sollte dieses hören, wenn man müde ist, das, wenn man glücklich ist, jenes, wenn man tanzen will.

Unnsteinn: Letzte Nacht las ich etwas über einen Sänger namens Frank Ocean und die Band The Weeknd. Die wurden als Post-R'n'B oder sowas bezeichnet. Oder nein: Hipster-R'n'B! Das klang so dämlich. Jetzt hast du eine weiße Person, die genau das gleiche macht wie bis anhin aber plötzlich ist es nicht mehr R'n'B. Die haben dann noch einen Vergleich gemacht zwischen Bands, die in etwa die gleiche Musik machten, nur waren auf der einen Seite weiße Amerikaner und auf der anderen schwarze. Das war der einzige Unterschied! Das Genre war in dem Fall fast schon wie eine Hautfarbe.

Auf Blogs las ich schon mal davon, dass wir jetzt im Zeitalter von Post-Indie wären.

Haraldur: Post-Indie! Ich weiß ja nicht mal mehr, was Indie eigentlich ist.

Unnsteinn: Wir spielen jetzt ja auch an vielen Indie-Nights, zum Beispiel am Immergut Festival in Berlin. Da haben die dann so Warm-Up-Shows und nachher immer Indie-DJs, die auflegen.

Haraldur: Ich denke, Indie ist momentan mehr wie ein Mode-Trend.

Eure Musik wurde bereits als Weltmusik bezeichnet. Was haltet ihr davon?

Unnsteinn: Das machten isländische Medien, als wir anfangen zu spielen.

Haraldur: Es ist so einfach!

Unnsteinn: Die konnten keinen Kanal für uns finden und haben dann einfach gesagt: Schau, da sind zwei schwarze Typen in der Band, also ich und mein Bruder, also lass uns das doch einfach Weltmusik nennen. Weltmusik kann ja alles sein, das war wohl das einfachste für die. Weltmusik ist immer das, was nicht aus Westeuropa oder den USA stammt.

Viele Musiker schwören zurzeit wieder auf Do-It-Yourself, nehmen ihre Musik in Eigenregie zu Hause auf und stellen die Tracks dann einfach online, ohne auf Labels angewiesen zu sein. Wieso ist es dennoch eine gute Idee, bei einem Major – in eurem Fall Universal - zu unterschreiben, so, wie ihr das vor kurzem getan habt?

Unnsteinn: Weil wir so viele sind. Wir spielen schon seit fünf Jahren zusammen. Wir könnten versuchen, es noch ein, zwei Jahre alleine durchzuziehen, bei einem kleinen Label hier in Europa. Aber dann könnten wir nicht dieses Interview mit dir führen, wir hätten die Interviews der vergangenen Tage nicht führen können und würden sehr wahrscheinlich pleite gehen wegen all der Trips hin und her, so wie der Rest von Island. Teil eines Majors zu werden hat uns sehr geholfen, alleine deshalb, weil wir so viele Leute sind. Wir kommen direkt vom College und haben noch nicht mit der Uni angefangen, das ist also die beste Zeit für uns um einen großen Plattendeal zu kriegen. Wir sind alle um die 20 Jahre alt. Wäre ich ein Schlafzimmerproduzent, würde ich die Sache auch anders machen.

Habt ihr noch die Hoffnung, tausende von Platten zu verkaufen?

Haraldur: Ich denke, wir möchten so viel wie möglich auftreten.

Unnsteinn: Yeah.

Haraldur: Wir wollen mit Auftritten beschäftigt sein. Und möglichst viele verschiedene Städte und Menschen sehen.

Wie reagiert ihr auf die Aufmerksamkeit, die ihr plötzlich erhaltet?

Haraldur: Ich weiß nicht wirklich, ob wir auf eine gewisse Art darauf reagieren. Wir versuchen einfach, bescheiden zu sein. Wir können uns glücklich schätzen, diese Aufmerksamkeit zu haben. Wir versuchen, auf dem Boden zu bleiben. Ich halte das für sehr wichtig.

Unnsteinn: Und es ist sehr einfach. In Island erkennt dich auf der Straße jeder. Hier kennt dich niemand. Am Boden zu bleiben ist somit nicht so schwer.

Haltet ihr es für realistisch, dass ihr eines Tages von eurer Musik leben könnt?

Unnsteinn: Es ist realistisch, wenn wir sehr hart arbeiten. In Island haben wir zwei oder drei Konzerte in der Woche gespielt, während vier Jahren. Erst letztes Jahr gönnten wir uns eine Pause und spielten nur größere Shows. Zuerst spielten wir überall und für kein Geld. Dadurch wurden wir enge Freunde. Ich denke, wenn wir hart arbeiten, können wir viel erreichen.

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