4. Juli 2011

"L.A. war die Hölle auf Erden"

Interview geführt von

Nach dem einschlägigen Erfolg ihres aktuellen Albums "Nine Types Of Light" sind die New Yorker TV On The Radio auf ausgedehnter Europatour.Der vormalige Schlagzeuger Jaleel Bunton bedient seit Gerard Smiths Tod nun Bass und Synthesizer. Sein Ersatz wiederum am Schlagwerk ist Jahphet Landis. Wir treffen den sehr herzlichen Jaleel im Vorfeld des München-Konzerts, später wird er am Merchandise-Stand stehen und Bandartikel signieren.

Wie entsteht eigentlich ein TV On The Radio-Song?

Jaleel Bunton: Manchmal schreiben Tunde oder Kyp etwas und wir arbeiten das anschließend gemeinsam aus. Oder Dave und ich programmieren Sounds an den Keyboards und wir spielen das den anderen vor. In letzter Zeit jammen wir und bleiben dann an etwas kleben. So fügen sich die Teile zusammen. Dieser Prozess ist für uns dennoch sehr ungewöhnlich, weil wir eigentlich mehr im Studio erarbeiten als in Live-Sessions.

Ihr habt zu jedem Song auf "Nine Types Of Light" ein Video gedreht. Wollt ihr dem im Absatz schwächelnden Format Album etwas Neues, Zusätzliches zur Seite stellen?

Ich liebe das Physische einer Vinylplatte, höre mir aber genauso gerne MP3s an und sehe Videos bei Youtube. Denn dort tummelt sich die Mitte unserer Gesellschaft. Die digitalen Medien sind erfolgreich und leicht zu handhaben. Natürlich wäre es schön gewesen, eine DVD herauszugeben. Aber ein Download bzw. Stream ist leichter zugänglich, was bedeutet, dass es einen größeren Hörerkreis findet.

Man sagt ja auch, der äußere Eindruck käme zuerst. Ich schätze es sehr, mich zurückzulehnen und ein komplettes Album anzuhören. Wenn man dazu den visuellen Kanal beansprucht, gerät man noch leichter an bestimmte gedankliche Orte. Dennoch bleiben trotz der Videos die Songs unverrückbar im Vordergrund. Das ist ja, was man letztlich absorbiert.

Eure Musik animiert oft zum Aufstehen und Tanzen. Andererseits habt ihr sehr zurückhaltende, ätherische Songs, wie "Killer Crane" oder "Family Tree". Seid ihr das, eine Band sowohl für das öffentliche Tanzparkett als auch für den individuellen MP3-Player?

Es gibt Zeiten, da möchte ich allein mit meinen Kopfhörern in einem menschenleeren Nebenraum sein und Zeiten, wo ich mich wie ein Irrer auf der Tanzfläche bewege. Wir bedienen beide Seiten und ich schätze auch beides sehr in meinem Leben.

Der Titel "Nine Types Of Light" suggeriert die Vorstellung von Lichtbrechungen. Sind diese Brechungen eine metaphorische Vertretung für unterschiedliche Blickwinkel, aus denen man sieht?

Ja. Dennoch vermeide ich es, lupenreine Aussagen zu treffen. Sonst würde ich Gefahr laufen, jegliche Deutungsmöglichkeit zu verbannen. Es ändert sich für den Hörer vielleicht mit jedem Durchlauf. Und ich möchte niemandes Interpretation disqualifizieren, weil jede ihren Wert besitzt.

"Wir verspüren keinen inneren Drang hin zu Popularität"

Gibt es eine Verbindung zwischen dem Albumtitel und den einzelnen Liedern?

Ich weiß nicht, wie wortgetreu diese Verbindung ist, aber sie ist da. Auf diesem Album und den vorherrschenden Songs ist eine gewisse Stimmung vorhanden. Aber es ist nicht so, dass jedes Lied ein bestimmter "Lichttyp" wäre, wie der Titel suggerieren könnte. Es sind ja zehn Lieder und nicht neun.

Oder ihr zählt anders und deshalb beginnt "Nine Types Of Light" mit dem "Second Song".

Das haben wir gemacht, weil wir komische Kauze sind. (lacht)

Weil du gerade von einer Album-Stimmung gesprochen hast: Ist es ein positiver Moment, der da konserviert wurde?

Wenn man auf den Kontext achtet, ja. Es scheint ein bisschen wie eine Abkehr vom Zynismus und der Angst zu sein. Solch ein Album haben wir bisher nicht aufgenommen. Dieses positive Gefühl war schon immer latent vorhanden, nur haben wir das bisher nicht auf einen Tonträger gebannt. Wir hätten diese CD ebenso vor etwa vier Jahren herausbringen können.

Dazu möchte ich ergänzen: Als professioneller Musiker ist das Leben völlig durchstrukturiert. Man nimmt ein Album auf, geht auf Tour, verschnauft kurz und durchlebt diesen Zyklus etliche Male. Das, worüber sich zum Schluss alle unterhalten und was man gemeinhin Album nennt, ist das, was wir in 60 Tagen schreiben, ausarbeiten und aufnehmen. Genau dieser äußerst kurze Lebensabschnitt wird eingefangen. Was auch immer du in jenen Tagen gemacht hast, weist dich ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung für die nächsten Jahre aus.

Ihr werdet derzeit in der "U.S. College Radio Top 10 Albums List" geführt. Ist diese studentische Klientel eine Zielgruppe?

Wir sind nicht sehr strategisch, was das betrifft und handhaben das eher so, dass wir mit jedem geneigten Hörer, egal welcher Altersstufe, eine Art Pakt schließen. Wir vernehmen keinen inneren Drang hin zur Popularität oder zu einer bestimmten Zielgruppe. Es ist mehr wie eine innere Stimme, der man nachspürt.

Man hört auf diese Stimme und macht diese Musik. Wenn sie zu Ende geschrieben und vertont ist, dann liegt es nicht mehr in den eigenen Händen. Man stellt es in die Welt und sie entscheidet, was damit zu tun ist. Was ich getan habe, kann ich nicht verändern. Deshalb spreche ich lieber von einer Familie, die wir kultivieren möchten, als von einer Zielgruppe.

"'Californication' ist der L.A.-Vibe"

Verglichen mit "Dear Science" fällt die leichtfüßige Atmosphäre oder Herangehensweise auf. War der Ort des Geschehens und der Aufnahme - in diesem Fall Los Angeles - der Grund für dieses vermeintliche West-Coast-Easy-Going?

Auch wenn das Album in L.A. aufgenommen wurde, einiges ist schon vorher in New York entstanden. L.A. kann auf eine merkwürdige Art und Weise gut oder schlecht zu dir sein. Aber das Leben dort ist sehr entspannt, dort hat jeder seinen eigenen, freien Bewegungsradius, das Wetter stimmt und es fühlt sich gegenteilig zu New York an.

Die Red Hot Chili Peppers stammen aus dieser Gegend, deshalb können sie auch authentisch ihr "Californication" singen (stimmt den Refrain an) - denn das ist der L.A.-Vibe. Aber dort, wo wir lebten, fanden wir die Hölle auf Erden wieder. So viel Trübsal kann es auf so wenigen Quadratmetern kaum geben. Überall Baustellen um das Haus herum, ein paar Stockwerke über uns kam es öfter zu Schlägereien. Als im Hausinneren renoviert wurde, stülpten sie über Tundes Tür so viel Plastik, dass er nicht mehr aus seinem Zimmer konnte. Wir waren nahe Beverly Hills quartiert und von Pseudos und verkünstelten Leuten umgeben. Das war ziemlich niederschmetternd.

Daher stammt also die Zeile "Beverly Hills, burning of plastic" aus dem Song "Forgotten"?

Das ist mit Sicherheit aus dieser Zeit von diesem Ort beeinflusst. Es war einfach zu bizarr. Doch so ist nun einmal die Realität, in der wir leben. Sowas existiert neben L.A. auch in New York und genauso anderswo. Wir fühlten uns dort wie Außenseiter und dachten, die Welt um uns herum würde durchdrehen.

Sitte und Moral sind relative Begriffe und danach definiert, wie die breite Masse sie auslegt. Dort ist eben ein Großteil der Menschen übereingekommen, dass es normal ist, was da passiert. Aber da mache ich nicht mit, da muss ich sagen, bin ich raus.

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