21. Januar 2000
Vom Techno zur Word- Performance
Interview geführt von Daniel StraubDie letzten Eurer Projekte Mitte der 90er Jahre, von denen wir gehört haben, waren allesamt sehr technoid. Seid Ihr daran im Moment noch interessiert, oder ist das ein abgeschlossenes Kapitel?
Genesis P-Orridge: Ein absolut geschlossenes Kapitel. Mir gefällt DJ-Musik auch gar nicht. Dir vielleicht? (Frage an Larry)
Larry: Ich habe viele Freunde die DJs sind.
Gen: Oh, ich auch.
Aber im Moment sind Lesungen mit musikalischer Begleitung ein größere Herausforderung für Euch?
Larry: Ich glaube, daß die Spoken Word-Performances noch in den Kinderschuhen stecken. Sie bieten einem viel Raum sich zu entwickeln. Die Leute in Amerika bringen solchen Sachen inzwischen sehr viel Aufmerksamkeit entgegen. Aber wenn ich an den Auftritt von Thee Majesty in der Royal Festival Hall denke (Auftritt im April 1999), dort gab es viele Passagen, wo nur Genesis zu hören war, ohne Sound. Die Stille war der Sound, aber die Leute schienen nicht ganz zu verstehen, daß dies ein Teil der Performance war. Einige Leute zumindest. Aber es gab auch viele Zwischenrufe, wo die Leute sich eingebracht haben. Genesis liebt das natürlich und benutzt dieses Feedback auch. Das ist sehr interessant.
Der Prozeß, das Erforschen ist für Euch also sehr wichtig?
Larry: Wir fühlen uns bei unserer Arbeit, als ob wir die Unendlichkeit zum Leben erweckt hätten.
Gen: Auf eine gewisse Art ist es sehr einfach. Eine meiner Aufgaben ist es Ideen zu haben. Ich bin ein Ideen-Mensch. Aber wenn ich eine Idee zum Leben erweckt habe, dann ist sie weg. Der Samen ist gepflanzt und es ist nicht meine Aufgabe, den Grundgedanken auszubauen und ihn in all den verschiedenen Richtungen zu erforschen. Ich bin nicht gegen die Erforschung, aber meine Leidenschaft sind Ideen. Das Verdrehen einer bekannten Idee, um etwas Neues zu finden oder versuchen etwas Neues zu finden. Ich habe mich drei Jahre von der Musik-Musik und Techno gelöst, weil es so schien, als ob Techno, ohne mein Zutun, passieren musste. Überall auf der Welt schien dasselbe zu passieren, ich mußte mich daran nicht mehr beteiligen. Ich habe meinen Teil dazu beigetragen, der Idee zum fanatischen Durchbruch zu verhelfen. Ich habe kein Problem mit dem, was die Leute aus dieser Idee gemacht haben; einiges ist wirklich erstaunlich. Mir gefällt es, daß die Leute zusammenkommen und "tribal experiences" haben.
Ich war 1984/85 in dieser Szene und ich bin der Meinung, daß kein Künstler zehn oder fünfzehn Jahre später immer noch das gleiche machen sollte. Meine Aufgabe ist es, zu überlegen, was sonst können wir noch tun? Das kann alles sein, es muß mich nur begeistern. Ich habe mir also die Zeit genommen und meine Liebe für Wörter neuentdeckt. Die Art und Weise, wie Wörter funktionieren hat mich schon immer fasziniert. Die Macht, die von Worten ausgeht. Der Gedanke, daß jedes Wort ein Samen ist, eine Idee. Wenn es ausgesprochen wird hat es ein Leben. Es ist nicht das Leben, welches ich ihm gab. Das hat mich an Brian Gysin, den Beatnik-Schriftsteller erinnert, der ein Gedicht geschrieben hatte, dessen zentrale Aussage war: Dichter besitzen keine Worte. Als er mir das vor zwanzig Jahren zum ersten Mal erzählt hat, dachte ich, das hört sich schlau an, aber es machte damals wenig Sinn für mich. Ich habe es nicht verstanden. Jetzt verstehe ich was er meinte. Wörter gehören sich selbst, sie sind lebendig. Sie haben ihr eigenes
Geschlecht und sie können Sachen machen, die wir uns gar nicht vorstellen können. Der Dichter gibt den Wörtern das Leben, er läßt sie frei und dann haben uns diese Wörter etwas mitzuteilen, als Lebewesen. Diese Wörter gehören nicht mir, genausowenig wie die Kunst mir gehört. Selbst wenn ich ein Bild malen würde, das Euch gefällt, so wäre es nicht mein Bild. Ich gebe nur etwas das Leben, das von wo anders kommt.
Was ist dann Deine Inspiration?
Gen: Ich habe nicht einmal eine Inspiration. Ich versuche an Nichts zu denken und die Wörter hervorkommen zu lassen. Ich versuche mir der Idee bewußt zu werden, etwas nicht menschliches zu sein. Die Idee, daß jeder Körper eines Menschen lediglich ein Container für ein Lebewesen ist, das größer, göttlicher und fantastischer ist, als dasjenige, welches wir uns vorstellen. Wir fangen an aufzuwachen, zu denken, zu lernen, wie verschiedene unerwartete Kombinationen von Wörtern und Gefühlen langsam die Verbindung zum einst Unglaublichen und Göttlichen aufbauen.
Die Erde hier ist ein Ort zum Lernen, zum Geschehen lassen. Und die einzige Möglichkeit Kunst zu schaffen ist, sich mit dem Göttlichen wieder zu verbinden. Dazu wurde die Kunst ursprünglich erfunden. Aus dieser Erkenntnis ist Thee Majesty entstanden. Der Grund warum ich mit Larry und Bryin zusammenarbeite ist, daß ich instinktiv weiß, daß sie genauso an die Kunst herangehen. Larry arbeitet aus diesem Grund mit Sound und Rhythmus und Bryin arbeitet mit reinem Sound und einer Gitarre. Er spielt nicht Gitarre-Gitarre. Er spielt Sounds, die sich zufällig oder absichtlich mit meinen Wörtern verbinden. Das sind dann nicht mehr wir, es ist etwas anderes. Das ist das Wesen von Thee Majesty. Es ist beinahe eine Rückkehr zu den Wurzeln der Kunst.
Siehst Du Dich dann eher als einen Dichter, Philosophen, Musiker oder alles zusammen?
Gen: Alles zusammen, mindestens. (grinst) Ja absolut. Mir kam vor einigen Tagen ein Begriff in den Sinn. Was wir machen ist "expanded poetry". Es vielleicht der nächste Schritt, der auf die Beatnik-Gedichte folgt. Es ist Neo-Beatnik. "Expanded poetry" mit Sound, visueller Begleitung und Wörtern. Auf eine gewisse Art ist das was wir machen eine Meditation und wir sind genauso erstaunt, gelangweilt oder fasziniert von dem was passiert, wie jeder andere. Wir wissen es nicht was passiert. Was mir an Musik gefällt ist, wenn ich aufwache und denke: Das war wirklich eine Überraschung. An den besten Abenden mit Thee Majesty gehe ich von der Bühne und denke: was hat er gerade gesagt, so als ob es jemand anders gewesen wäre und nicht ich. Das ist immer fantastisch. Wenn du glaubst es war jemand anders und nicht das Medium, für das du dich hältst. Der Gedanke ein Schema zu haben, blieb mir immer rätselhaft.
Ich habe in einem Buch gelesen, daß Du vor einigen Jahren in einem Transvestitenclub in Hamburg die Sauna besucht hast und nach einer Weile wurden deine Piercings (Gen hat mehrere Dutzend Piercings am ganzen Körper; Anm. d. Red.)so heiß, daß Du zur Abkühlung ins Eiswasser gesprungen bist und dann die Piercings entfernen mußtest. Stimmt das?
Gen: (lacht) Oh, das ist eine verrückte Geschichte, aber nur ein Gerücht. Es ist absolut falsch. Eine großartige Geschichte. Aber ich habe noch alle Piercings. Ich werde sie jedoch nicht rausholen, um das zu beweisen.(alle lachen) Du hast mich heute schon nackt gesehen, richtig? (Wendet sich an Bryin) Ich habe sie immer noch.
Bryin: Das ist richtig. Wenn Du mit Gen auf Tour bist, wirst du morgens sehen, daß er sehr lebhaft und total nackt ist; und ja, er hat alle seine Piercings.
Gen: Ja, und nach dem Aufstehen mache ich meine körperlichen Übungen mit tausend Wiederholungen. Dann meditiere ich. Ich bin sehr diszipliniert.
Nimmst Du auch keine Drogen mehr?
Gen: Das würde ich nie sagen. (lacht) Ich denke, daß psychedelische Drogen ihren Platz in meinem Leben haben. Das trifft nicht für jeden zu, aber in meinem Leben werden Drogen weiterhin nützlich bleiben. Man sollte aber nichts zur Gewohnheit werden lassen. Man sollte aber immer offen sein für alles, das einen an etwas erinnert, das mehr als nur menschlich ist. Verschiedene Leute machen das auf verschiedene Art und Weise. Drogen helfen mir, ab und zu das körperliche Selbst zu vergessen und mich an das Göttliche zu erinnern. Das ist immer eine gute Sache. Aber ich würde niemals empfehlen, daß jeder das so tun sollte.
Mein Leben ist meine eigene Erkundungsreise und ich kann nur hoffen, daß die Ergebnisse davon für andere Leute von Nutzen sind. Larry hat seine Weg dasselbe zu erreichen und Bryin auch. Jeder der denken kann und einen wachen Geist hat, findet seinen Weg. Das Wichtigste ist zu erkennen, daß nur Mensch zu sein nicht genug ist. Das ist der erste Schritt: geboren zu werden und zu bemerken, daß man einen Körper hat. Der zweite Schritt ist zu fragen: Ist das genug oder warum bin ich in diesem Körper? Und wenn man sich das gefragt hat, sucht man nach Wegen sich vorzustellen oder zu sehen, auch wenn es nur für einen Moment ist, was alles möglich sein könnte. Woher wir wirklich kommen. Was unsere eigentliche Bestimmung wäre. Von dort aus findet man dann seinen eigenen Weg.
Was möchtest Du in Deinem Leben erreichen?
Gen: In diesem Leben? Es wäre schön, einen Satz oder ein Wort zu schreiben, das nützlich ist für andere Leute. Nur ein Teil davon zu sein, was anderen Leuten nützlich ist, so daß der Wert ihres Lebens erhöht wird und sie auf ihrem Weg weitergehen können. Was immer Weisheit auch sein möge. Ich wünsche mir ein kleines Stück davon zu entdecken, nur für mich selbst, so daß ich nicht so dumm sterben muß, wie ich geboren wurde. (lacht) Einfache Dinge. Es ist die Hoffnung nicht dumm zu sterben und daß man lernt, dabei keine anderen Leute zu verletzen. Das ist alles.
Was haltet Ihr vom Internet. Benutzt Ihr es viel?
Bryin: Warum? Hast Du mich schon mal in einem Chatroom gesehen? (lacht)
Gen: Ich muss kurz weg, ich komme gleich wieder.
Bryin: Ich benutze es wirklich sehr viel.
Nur um Deine Mails zu checken?
Bryin: Nein, nein. Ich benutzte es die ganze Zeit, um Informationen zu sammeln. Natürlich auch, um die Mails zu checken. Aber die meiste Zeit um Informationen zu suchen. Manchmal gehe ich sogar in Chatrooms.
Larry: Ich war noch nie in einem Chatroom. Ich habe das noch nie gemacht. Aber für mich ist es ganz offensichtlich das neue Medium.
Bryin: Ich habe mich über das Internet schon mit Leuten verabredet. Ich trinke keinen Alkohol und ich hasse es, meine Zeit in Bars oder Clubs zu verschwenden. Da ich nicht trinke, muß ich in New York vier oder fünf Dollar für eine Cola bezahlen. Zudem höre ich in den Clubs Musik, die ich wirklich nicht mag und treffe eine Menge Leute, die auf ihrem Film sind. Ich finde es sehr spannend, etwas über eine Person zu lernen, ohne ein körperliches Bild vor sich zu haben. Versteht Ihr was ich meine? Wenn ich jemanden treffe, habe ich immer einen ersten Eindruck, der mich dann eine Weile prägt. Ich genieße es, die Person kennen zu lernen, die die Person im Inneren ist, bevor ich denjenigen dann auch körperlich treffe.
Larry: Das ist cool. Es ist sehr schön, weil es nur um mich und eine andere Person geht, wie es nicht möglich wäre, wenn man sich gleich treffen würde.
Bryin: Und man könnte so etwas nicht ohne das Internet machen. Auch im Internet haben die Leute eine Persönlichkeit.
Könntet ihr euch vorstellen Material im Internet zu veröffentlichen?
Larry: Das ist sehr interessant. Und sehr wenige Leute
nur wissen
wirklich, was die Zukunft hier bringen wird. Die Plattenfirmen wissen das nicht.
Sie haben manchmal ziemliche Angst vor dem Internet, wie es scheint.
Larry. Ja, sie haben Angst und gleichzeitig versuchen sie auch sich selbst zu
positionieren. Aber es ist definitiv etwas für Leute wie uns, die mit ihren Plattenverkäufen nie viel Geld gemacht haben. Gen hat nie viel Geld gemacht. Mit Throbbing Gristle und Industrial Records (Anm. d. Red.: Von Throbbing Gristle 1976 gegründete unabhängige Plattenfirma, da kein Majorlabel ihre Sachen veröffentlichen wollte) haben sie genug Geld gemacht, um das Label ständig weiterzuführen. Aber sie sind sicher nicht rumgelaufen und haben sich Großraumlimousinen gekauft (alle lachen).
Gen: Oh, die anderen haben das gemacht. Aber das ist eine andere Geschichte (lacht).
Larry: Nein, aber MP3 und der direkte Vertrieb, das sind alles Dinge, die in der Luft liegen. Ich habe viele Freunde die Seiten entwickelt haben, von denen man dann MP3-Dateien downloaden konnte, und so. Es ist eine gute Art sich selbst zu promoten. Es passieren auch einige interessante Sachen, was interaktive Performances angeht. Leute aus Paris, London und New York machen Shows zusammen.
Gen: Ich wurde erst neulich gefragt, ob ich eine Show machen würde. Kroatien und New York.
Gestaltet Ihr Eure Websites selbst?
Gen: Ich habe einen Freund, der mir hilft. Habt Ihr sie schon gesehen?
Erst gestern.
Gen: Und hat sich gewackelt und gezittert.
Ja, fantastisch.
Gen: Großartig.
Bryin: Ein anderer cooler Punkt ist, daß Leute, die in keiner Großstadt wohnen und nicht zum Plattenhändler um die Ecke gehen können, der die absurdesten Titel führt, jetzt die Möglichkeit haben, solche Sachen online zu kaufen. Es kommt nicht mehr darauf an, wo du dich befindest. Du kannst auf eine Website gehen, die sich auf diese Art von Musik spezialisiert hat, sie suchen und dann kaufen. Eine ganz neue Welt tut sich da auf.
Gen: Ich denke, daß es in zwei bis drei Jahren noch viel effektiver sein wird. Es fängt gerade erst an. Unsere Website wird noch mindestens zwei Jahre benötigen, bis sie fertiggestellt ist. Der Grund dafür ist, daß ich Stunden mit unveröffentlichten Interviews mit William Burroughs habe und Kunstwerke von Brion Gysin. Eine riesige Kiste mit unveröffentlichtem Material von Timothy Leary. Es wird wie ein Museum werden, ein Museum der "alternative culture". Und ich habe auch noch Fluxus Sachen. Es wird dann eine Art Chronologie geben, Fluxus, Burroughs, Gysin, Leary, Throbbing Gristle. Ich habe zwei Räume voll mit Material. 100 Stunden unveröffentlichte Throbbing Gristle-Sachen. Das wird alles auf unsere Seite kommen.
Wir haben sogar eine Novelle von Burroughs, die nie veröffentlicht wurde. Es wird viel Zeit und Arbeit benötigen, die Sachen ins Netz zu stellen. Aber wenn erst einmal alles im Netz ist wird es sicher fantastisch sein. Dann werden wir das ganze vernetzen mit den Leuten, die wir treffen, wie Euch, jedem den wir kennen, Freunde oder einfach Leute, die auf ein Art denken die Sinn macht. Wir werden unsere Seite sozusagen als Spitze des Eisbergs betrachten, von der aus man weitergehen kann, so daß man hoffentlich eine Menge Zeit dadurch spart. Wenn ich etwas suche, gehe ich dort hin, vielleicht wissen die ja etwas.
Larry, Bryin und Genesis, vielen Dank für das interessante Gespräch und viel Spaß bei Eurem Auftritt nachher.
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