2. Mai 2018

"Ed Sheeran weiß, wie man mich aufzieht"

Interview geführt von

Wir sprechen mit Anne-Marie über perfektionistische Arbeitsweisen, das Trennen zwischen Privatperson und Kunstfigur, ihre Anfänge im Musiktheater und das gerade erschienene Debütalbum "Speak Your Mind".

Nach ersten Schritten im Umfeld des Kollektivs Rudimental und der Veröffentlichung ihrer "Karate"-EP katapultierte sich Anne-Marie vor zwei Jahren mit ihren platinveredelten Hit-Singles "Alarm" und "Ciao Adios" ins Bewusstsein britischer Teenager. Mit Elton John und Ed Sheeran bekannten sich zwei erfahrene England-Exporte unterstützend als Edelfans. Zwar gelangen der Sängerin auch hierzulande durchaus Achtungserfolge, doch erst die Auskopplung "Friends", eine Zusammenarbeit mit Produzent Marshmello, markiert nun ihre erste Nummer-1-Single in Deutschland. Nach ihrer abgelaufenen Solotour spielt sie im Sommer im Vorprogramm ihres "Lieblingsmenschen" Ed Sheeran.

Wir treffen die Sängerin vor der Veröffentlichung ihres Albums "Speak Your Mind" in der Rheinmetropole Köln. Anne-Marie hat einen vollen Terminkalender. Zwischen Auftritten bei 1Live und ProSieben nimmt sie sich Zeit für ein Gespräch.

Im Moment bist du damit beschäftigt, dein Album "Speak Your Mind" zu promoten. Warum ist es dir wichtig, deine Gedanken, Meinungen und Gefühle auszudrücken?

So war ich schon immer. Viele Menschen wollen zwar ihre Gefühle ausdrücken, werden aber daran gehindert, weil sie sich vor etwas schämen oder aus Nervosität. Ich möchte die Person sein, die sich für andere Leute äußert. Sich über die Musik auszudrücken ist ein guter Weg, da sie Menschen auf einer anderen Ebene miteinander verbindet. Mein Album handelt sehr stark davon.

Auf dem Cover hältst du ein Megaphon. Ist es wichtig, laut zu sein, um sich Gehör zu verschaffen?

Ja, definitiv. Ich möchte die Leute dazu ermutigen, sich zu äußern. Dabei kann es sich um alles Mögliche handeln. Mir geht es nicht um ein bestimmtes Thema. Was auch immer du für notwendig erachtest. Kommunikation ist so wichtig für Menschen.

Wie wichtig ist es für dich in diesem Zusammenhang, eigene Songs zu schreiben und sie nicht von anderen schreiben zu lassen?

Es ist wichtig, weil so eine ganz persönliche Reise entsteht. Wenn ich nur die Songs eines anderen singen würde, wäre es nicht dasselbe. Ich wäre nicht aufrichtig. Für mich ist es von großer Bedeutung, gegenüber jedem ehrlich und offen aufzutreten. Wenn du auf der Bühne stehst und deine Lieder präsentierst, willst du sie auch fühlen, verstehst du?

Wenn du einen Song von jemand anderem singst, fühlst du nicht wirklich, was diese Person durchgemacht hat. Für mich dreht sich alles darum, über meine Erlebnisse zu schreiben, nicht über die Geschichten meiner Freunde und meiner Familie oder Dinge, die ich über Menschen gelesen habe. Es handelt sich immer um Dinge, die ich wirklich fühle.

Du konzentrierst dich also vor allem auf persönliche Themen. Könntest du dir denn auch irgendwann vorstellen, kontroverse Themen zu behandeln?

Nicht auf dem ersten Album. Ich glaube, der einzige Song, der diesen Bereich berührt, ist "Perfect". Im Grunde geht es um Body Confidence, also darum, selbstbewusst mit seinem Körper umzugehen. Damit kämpfen viele Menschen ihr Leben lang. Deshalb hat der Song eine große Bedeutung für mich.

Du bezeichnest dich als politische Person. Könntest du dir vorstellen, dich für eine politische Seite oder zumindest für einen Kandidaten einzusetzen?

Ich denke viel darüber nach, verstehe aber auch, dass jeder seine eigene Meinung hat. Obwohl ich vielleicht denke, dass ich Recht habe und jeder auf das hören sollte, was ich für richtig halte, hat ja jeder seine eigene Wahrheit. Es ist immer schwierig, eine politische Sichtweise durchzusetzen. Wenn es um Rassismus oder Homophobie geht, gibt es natürlich keinen Mittelweg. Das muss man einfach total ablehnen. In solchen Fällen kann ich mich problemlos äußern. Aber wenn es um politische Ansichten geht, sind die Meinungen so gemischt, dass es schwer fällt darüber zu sprechen.

"Als Künstler solltest du in erster Linie lieben, was du tust. Alles was danach kommt, ist nur ein Bonus."

Du nennst dich auch eine Perfektionistin und sagst, dass du grundsätzlich immer die Beste sein willst. Was wäre für dich nötig, um sagen zu können, dass du dein Ziel erreicht hast?

Nichts! (lacht) Ich habe mittlerweile begriffen, dass das nie passieren wird. Um herauszufinden, warum ich dieses Ziel nie zu erreichen scheine, muss ich mir nur anhören, was andere darüber sagen. Wir haben alle eine Vorstellung davon, was perfekt ist. Aber selbst, wenn wir diesen Punkt erreichen, wollen wir mehr. Es wird also niemals eintreten.

Dein Perfektionismus hat demnach auch die Arbeit an "Speak Your Mind" beeinflusst.

Auch das Leben. Es ist gut, danach zu streben, die Beste zu sein, aber gleichzeitig nicht zu wissen, was das Beste ist. Also machst du einfach weiter und weiter und weiter.

Wann bist du dann zu dem Punkt gekommen, an dem du sagen konntest: 'OK, das Album ist fertig. Es ist gut genug'?

Irgendwie bin ich ja immer noch dabei ... (lacht) Nein, tatsächlich bin ich wirklich sehr zufrieden. Für mich ging es eher darum, eine breite Palette an Themen und Gefühlen abzubilden, als ein Album voller Hits aufzunehmen, die zusammen keinen Sinn ergeben. Das hängt damit zusammen, dass ich in jungen Jahren eine Album-Liebhaberin war. Ich hörte nonstop Alben, die eine Geschichte erzählten und verschiedene Gefühle wiedergaben. Ich vermisse es, Alben zu hören. Ich schätze, dass das für die Leute nicht mehr so wichtig ist, aber für mich ist es das.

Dann wirst du für Spotify nicht viel übrig haben.

Oh doch, ich halte Spotify für großartig! Alle Plattformen wie Youtube sind cool, weil man nun bei keinem Major-Label unter Vertrag stehen muss, um ein Publikum zu erreichen. Auf der einen Seite gibt es dadurch so viel mehr Möglichkeiten für talentierte, junge Menschen tatsächlich etwas herauszubringen, aber offensichtlich ist es auf der anderen Seite auch schwieriger, weil es so viel mehr Konkurrenz gibt. Wenn du ein Künstler bist, solltest du in erster Linie lieben, was du tust. Alles was danach kommt, ist wirklich nur ein Bonus.

Aber da sich bei Spotify alles um Hits dreht, zerstört es in gewisser Weise das Album-Konzept.

Aber du kannst ja dein Album drauf stellen. Es ist erstaunlich zu beobachten, was Menschen hören. Das ist so bei einer physischen CD nicht möglich. Wenn ich mein Album auf Spotify stelle, sehe ich, welcher Song am meisten gestreamt wird und kann danach meine nächste Single auswählen. Also trifft der Dienst in gewisser Weise eine Entscheidung für mich (lacht).

Du hast mal gesagt, dass du Angst vor den Erwartungen der Leute hast, aber du hoffst, dass jeder deine Lieder kennen lernt und sie mag. Wie gehst du mit Ablehnung um?

Nicht besonders gut. (lacht) Was ich als Künstlerin darstelle, spiegelt mich komplett als Person wider. Deshalb ist es für mich eine so persönliche Reise. Wenn die Leute meine Musik nicht mögen, fasse ich das so auf, als würden sie mich nicht mögen. Es ist wirklich schwierig, die Künstlerin von der Person zu trennen, die zuhause sitzt und Pizza isst. Ich wollte immer, dass die Leute mich als Person mögen. Wenn ich irgendwo hingehe, überfällt mich die Angst, nach dem Motto 'Oh, mein Gott. Sie werden mich hassen!' Ich denke, für jemanden mit diesem Problem, ist das ein verrückter Job. Aber wenn ich auf der Bühne stehe, verschwindet das alles.

Ed Sheeran trat für das Lied "2002" als Co-Autor in Erscheinung. Ist es eigentlich schwierig für dich, Kompromisse einzugehen?

Ich bin wirklich gut darin, Kompromisse einzugehen. Ich habe gelernt, dass das im Leben sehr wichtig ist. Außerdem musste ich das in seinem Fall eigentlich nicht, weil er so gut ist. Bei allem, was er sagte, habe ich eigentlich nur 'Ja, ja, ja' erwidert. Kompromisse sind gut, aber man sollte sich daran erinnern, was man erreichen möchte, um seine Position nicht vollständig aufzugeben.

"Ein deutsches Schimpfwort? Schneise!"

Du kennst Sheeran seit sieben Jahren und nanntest ihn mal deinen "Lieblingsmenschen". Drehen wir es einmal um: Welche Eigenschaften nerven dich an ihm?

Er kann mich wirklich aufziehen. Wir sind wie Bruder und Schwester, also kannst du dir vorstellen, wie das ist. Es ist ein ständiges Gezanke, aber nie ernsthaft, sondern auf eine brüderlich-schwesterliche Weise. Er weiß, wie man mich aufzieht. Und ich umgekehrt auch.

Du meintest, du seist besorgt, in Interviews zu fluchen. Fluchst du oft? Kennst du deutsche Schimpfworte?

Ich fluche wirklich viel. Ich weiß nicht, warum ich das tue. Möglicherweise hängt das damit zusammen, dass meine Mutter und mein Vater mich nie fluchen ließen. Wenn ich dann das Haus verlassen habe, rief ich 'fuck, fuck, fuck, fuck, fuck'. Weil ich aber weiß, dass viele junge Mädchen und Jungen verfolgen, was ich tue, möchte ich ihnen diese bösen Wörter nicht vorsetzen. Deshalb achte ich darauf, was ich sage. Deutsche Schimpfworte? Nein, aber ich würde sehr gerne welche lernen. Ich glaube, eines kenne ich sogar - Schneise?

'Scheiße', das bedeutet 'Shit'.

'Scheiße'! Weißt du, wo ich das gelernt habe? Bei "South Park". Ich mag die Serie.

Hast du "The Book of Mormon" gesehen, das Musical der "South-Park"-Erfinder Matt Stone und Trey Parker? Ich habe es mir letztes Jahr in London angesehen. Es hat den typischen "South-Park"-Humor.

Wirklich?! Nein, bislang habe ich es nicht gesehen, aber ich will es unbedingt sehen.

Ich frage auch, weil du ja selbst deine Karriere in Musicals begonnen hast. Im Alter von sechs Jahren hast du am Londoner West End in "Les Misérables" gespielt, was ja in gewisser Weise zur Champions League des britischen Theaters gehört. Kommst du aus einer künstlerischen Familie?

Komischerweise nein. Meine Mutter und mein Vater singen nicht, aber meine Schwester. Ich ging auf eine Tanzschule und landete dann in einer Agentur, die mir das Vorsprechen organisierte. Als ich dann zum ersten Mal in diese erste Show kam, dachte ich: 'Das werde ich für den Rest meines Lebens machen.' In gewisser Weise habe ich alles selbst erledigt und durchgemacht. Als ich neun war, nahm Karate diese Bedeutung ein. Erst als ich auf das College kam, kehrte ich zum Musical zurück. Ich hatte den Plan, in der Musicalwelt Fuß zu fassen, doch dann geriet ich hier hinein. Meine Familie hat mich total unterstützt und nie zu etwas gedrängt. Das gab mir die Freiheit, Dinge auszuprobieren, was ich sehr gerne tue. Ich nehme an, sie wussten einfach, dass ich nicht versagen würde.

Was bedeutet dir das Theater heute?

Ich finde es wirklich einmalig. Ich habe sehr viel gelernt. Statt zu sprechen, wurde wirklich nur gesungen. Also musst du die Geschichte durch den Song erzählen, was mir bei meinen eigenen Shows sehr geholfen hat. Da meine Songs Handlungsstränge aufweisen, weiß ich, dass sich die Leute manchmal in der Musik verlieren und nicht wirklich realisieren, worüber ich spreche. Es ist also schön, in der Lage zu sein, zur Musik zu spielen und damit darzustellen, worüber ich rede. Das gilt vor allem in verschiedenen Ländern, wo die Leute nicht jedes Wort wirklich verstehen können.

Könntest du dir vorstellen, in einigen Jahren ans Theater zurückzukehren?

Ich bin mir nicht sicher. Meine Stimme ist nicht mehr wie damals. Man benötigt eine ganz bestimmte Stimme, um im Musiktheater aufzutreten und ich habe den Eindruck, dass meine dafür nicht gut genug ist. Der Klang meiner Stimme unterscheidet sich sehr von Musical-Sängern. Ich schätze also, wenn ich ins Theater gehe, werde ich nur zuschauen.

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