"Der Reggae der 70er Jahre war rot, grün und golden. In der Dekade darauf trug er Goldketten." (Mutabaruka, jamaikanischer Dub-Poet und Musiker)
Der Begriff "Dancehall" bezeichnet in seiner eigentlichen Bedeutung die Austragungsorte von Partys, fungiert aber bereits seit den 50er Jahren als Synonym für die ebenda, bei sogenannten Bashments, gespielte Musik. Im britischen Sprachgebrauch findet man entsprechend auch die Bezeichnung "Bashment". Zu einem eigenen Genre entwickelt sich Dancehall erst später.
Ende der Siebziger erfährt die alles beherrschende Musikrichtung Jamaikas tiefgreifende Umstrukturierungen, die nicht zuletzt in gesellschaftspolitischen Veränderungen wurzeln. Bis dato wird Reggae wesentlich vom Rastafari-Glauben und von im Großen und Ganzen sozialistischen Grundeinstellungen geprägt. Mit der aufkommenden Dancehall-Szene bemächtigt sich eine neue Riege von DJs und Produzenten des Genres und entfremdet es von seiner Roots- und Culture-Tradition. Materialismus und neo-liberale Tendenzen halten Einzug. Zudem spielen sich rasant weiterentwickelnde Studiotechniken eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Party-Tauglichkeit gilt als wesentliches Kriterium, Spiritualität bleibt weitgehend außen vor: Dancehall erweist sich zunächst als recht weltliche Angelegenheit. Erst Mitte der 90er, nachdem etliche führende Akteure der Szene zum Glauben zurückgefunden haben, schleichen sich wieder Consciousness-Texte ein. Bis dahin dominieren Sex (Slackness), Gewalt (Guntalk) und Cannabis-Konsum (Ganja-Tunes) das Geschehen.
Der DJ, womit im jamaikanischen Soundsystem-Zusammenhang der Vokalist, keineswegs der plattenauflegende Selector gemeint ist, entwickelt sich im Dancehall zur zentralen Figur. Im Gegensatz zu Rap, bei dem es weitgehend auf Rhythmus ankommt, schwingen beim Toasting oder Chatting auch Melodien mit. Verlegt sich der DJ weitgehend auf Gesang, spricht man von einem Singjay.
Die Vocals erheben sich über basslastige, tanzbare, zunehmend reduzierte und stark repetitive Riddims. Häufig ersetzen Drumcomputer akustische Sets. Als dominierende Strömung im Dancehall kristallisiert sich Raggamuffin mit monotonem, vorwiegend in Patois gehaltenen Sprechgesang und hypnotischen Rhythmen heraus. Raggamuffin erhält seinen Namen in Anlehnung an das Album "Raggamuffin Hip Hop" von Asher D. und Daddy Freddy. Ragga und Dancehall werden künftig in nahezu identischer Bedeutung gebraucht.
Das Fundament für Dancehall, darüber besteht weitgehend Einigkeit, legt Henry "Junjo" Lawes 1979 mit dem Album "Bounty Hunter", das er für Barrington Levy produziert. King Jammy verfeinert den eingeschlagenen Weg, Dub-Elemente in den Reggae zu transferieren. Seine Nummer "Under Me Sleng Teng", 1985 von Wayne Smith interpretiert, gilt wegen ihres internationalen Erfolgs, obwohl es frühere Beispiele gibt, als erster vollständig digital konstruierter Riddim.
Die Roots Radics schwingen sich zur stilprägenden Backing Band auf. Das Produzenten- und Studio-Musiker-Duo Steelie & Clivie drückt dem Sound der Stunde seinen Stempel auf. Zur ersten Generation von Dancehall-DJs zählen Yellowman, Tenor Saw oder Slackness-Pionier General Echo. Einen etwas melodie-lastigeren "Sweet Sing"-Style pflegen beispielsweise Barrington Levy, Pinchers oder Cocoa Tea. Etablierte Reggae-Vokalisten wie U-Roy, Gregory Isaacs oder Johnny Osbourne orientieren sich ebenfalls in die neue Richtung.
Mitte der 80er blüht die digitale Ära. Das Tempo zieht noch einmal an, die Beats erlangen zunehmend abgehackteren Charakter. Entsprechend passt sich das DJing an, wird schneller und ausgefeilter. Spätestens Anfang der 90er Jahre sprengt Dancehall mit Tunes wie "No No No" (Dawn Penn), "Mr. Loverman" (Shabba Ranks) oder "Murder She Wrote" (Chaka Demus & Pliers) die Landesgrenzen und wird zum internationalen Phänomen. In Großbritannien nimmt Ragga, der sich hier wachsender Beliebtheit erfreut, wesentlichen Einfluss auf die Entstehung von Jungle.
Ähnlich wie bei Hip Hop, als dessen Schwester Dancehall häufig bezeichnet wird, handelt es sich um eine Bewegung, die weit mehr als die eigentliche Musik umfasst. Dancehall besitzt seine eigene Kultur, eigene Mode, eigenes Vokabular und eigene Sichtweisen. Ohne Zweifel sorgt Dancehall für frischen Wind in der jamaikanischen Musikszene, wenngleich er sich bereits so weit von seinen Wurzeln entfernt hat, dass unter Puristen Streit ausbricht: Hat man es überhaupt noch mit Reggae zu tun?
Die Stellung von Dancehall gegenüber Reggae lässt sich in etwa mit der Wirkung der Dirty South-Strömung Crunk auf Hip Hop vergleichen, wenn auch Crunk im Gegensatz zu Dancehall noch in Babyschühchen einher strampelt. Dancehall hat sich längst grenzüberschreitend etabliert. Neben Japan boomt das Genre besonders in Frankreich oder - mit Acts wie Gentleman oder Seeed - in Deutschland. Lateinamerika entwickelt mit Reggaeton eine eigene Spielart.
In den 90ern kommt mit Vokalisten wie Buju Banton, Bounty Killer, Capleton, Spragga Benz und Beenie Man auch eine neue Produzenten-Generation auf, die das Monopol von Steelie & Clivie beendet. Neben reduzierten Instrumentals ist erstmals auch wieder eine Umkehr in Richtung Roots-Reggae zu verzeichnen. Der DJ-Style wird wieder melodischer, zudem werden Sample-Techniken, wie sie in Hip Hop oder R'n'B üblich sind, übernommen.
Sexismus, Gewaltverherrlichung und besonders Schwulenhass sind in Dancehall-Lyrics allgegenwärtig. Häufig wird der Versuch unternommen, diese Zustände mit kulturellen oder religiösen Hintergründen zu rechtfertigen. Interpreten, die sich auf dem Feld des "Queer Bashing" einen zweifelhaften Namen gemacht haben - darunter Buju Banton mit "Boom Bye Bye", Beenie Man mit "Damn" oder T.O.K. mit ihrer Hasstirade "Chi Chi Man" - müssen allerdings besonders in Nordamerika und Europa immer wieder mit Protesten und Boykottaufrufen rechnen.
Bei allen Bedenken brennt das Dancehall-Fieber auch nach der Jahrtausendwende weiter. VP Records behauptet seine Vormachtstellung auf dem internationalen Markt und betreut Erfolgsgaranten wie Luciano, Elephant Man, Tanya Stephens oder Sean Paul. Eine Zeit, in der der Ruf nach "More Fyah!" verstummt, ist nicht in Sicht.