Wenn es um die Rekonstruktion von Innovationen geht, birgt die Turntablism-Geschichte reichlich Widersprüche, wie sie sonst nur in überlieferten Dokumenten aus längst vergangenen Epochen oder gar in Legenden zu finden sind. Viele der Protagonisten haben kein Problem damit, sich als Urheber bestimmter Erfindungen zu betrachten. Wenn es nach Grandmaster Flash geht, hat er den Hip Hop im Alleingang erfunden, das Scratchen sowieso. Ganz so einseitig war es jedoch nicht wirklich.
Den Begriff "Turntablism" prägt erst 1995 Dilated Peoples/Beat Junkies-DJ Babu. Der stellt sich die Frage, wie das fingerfertige Handwerk am Gerät Turntable getauft werden könnte. Seitdem spricht man von Turntablism, sobald der Plattenspieler als Instrument eingesetzt wird, das in den Disziplinen Scratching und Beat Juggling Musik evoziert.
Zweifellos darf sich Grand Wizard Theodore die Entdeckung des Scratches zuschreiben. Er entdeckt den Soundeffekt zufällig, als er eine laufende Schallplatte anhält, da ihn seine Mutter gerade anschreit. Danke, Mama! Begeistert von dem Resultat probiert Theodore weiter herum.
Auf Kool Herc, König der Bloc Partys und Erfinder der Hip Hop-Kultur, geht das Spielen zweier identischer Platten zurück, um damit einen Teil eines Liedes endlos in die Länge zu ziehen. Aus einem kurzen Drum-Intermezzo entstehen so längere instrumentale Breakbeats. Grandmaster Flash kombiniert schließlich die existierenden Tricks und erweitert sie auf artistische Art und Weise. Bodyspins und andere körperliche Spielereien fügt er der zuvor doch eher stoischen Show hinzu.
Eine Handvoll Leute kämpft schon seit Ende der Siebziger Jahre darum, der Öffentlichkeit das DJing als Handwerk und Kunstform zu vermitteln. Schließlich wird Musik live transformiert, manipuliert, zersetzt oder neu arrangiert. Sei es mit Hilfe des Wiederholens verschiedener Teile auf einem Song (Backspin) oder des Hin- und Herwechselns zwischen verschiedenen Segmenten eines Tracks, so dass daraus ein Neuarrangement zustande kommt - hier spricht der Fachmann vom Jugglen. Zuletzt stellt das Scratchen eine eigene Disziplin dar, die erlaubt, Soundfragmente melodiös zu verarbeiten. Alles geschieht rein auf physischer Ebene, durch das Bewegen der Schallplatte.
Nach diesen ersten, nahezu wissenschaftlichen Exkursen bleibt die Innovation in der Subkultur Turntablism erst einmal stehen. Stattdessen vollzieht sich ein Wandel in der Präsentation. DJing bleibt ein Element der Hip Hop-Kultur, genießt gegenüber dem Rap aber höchstens sekundären Status. Bildete zuvor der DJ den Mittelpunkt der Show, tritt dieser bald in den Hintergrund der Bühne, um dem neuen Frontmann Platz zu machen: dem MC.
1979 macht die Sugarhill Gang Hip Hop mit ihrem Track "Rapper's Delight" salonfähig und pumpt den Sound der Bloc Party direkt in die Radioboxen. Für die Labels bedeutet das Geld, jedoch auch die Erkenntnis, dass ein DJ für den Erfolg nicht unverzichtbar ist. Rapper benötigt man, um eine Platte zu machen, ein DJ spielt sie nur ab, so die herrschende Meinung.
Filme wie "Wild Style" bringen der breiten Masse zwar die Hip Hop-Kultur und auch deren Teilbereich DJing etwas näher, doch erst mit Herbie Hancocks "Rockit" erlangt der Berufszweig des Plattendrehers endlich eine neue Bedeutung. Grand Mixer DXT (zu diesem Zeitpunkt noch D.ST) sorgt in dem Track für den "ziggy-ziggy-ziggy"-Sound, dessen Herkunft vielen Zuhörern Rätsel aufgibt. In "Rockit" übernimmt erstmals ein DJ den tragenden Part und bringt ein melodiöses Element ein, das es ohne ihn so nicht gäbe.
Anfang der 80er Jahre macht sich auch der junge Qbert daran, ein wenig mit dem Plattenspieler zu experimentieren. Besonders Scratchen hat es ihm angetan. Der ambitionierte DJ bleibt den ganzen Tag zu Hause, um Sounds zu studieren, Möglichkeiten zu erkunden und zu üben und zu üben. Es geht ihm darum, die technischen Möglichkeiten des Plattenspielers, beziehungsweise der Plattenbewegungen, in Bezug auf das akustische Ergebnis zu studieren.
Verschiedene DJs leisten ihren Beitrag zur Entwicklung diverser Techniken und tauschen sich gegenseitig aus. Bei Turntablisten sieht das ungefähr so aus: Ein Zimmer voll Typen, ein paar Decks, einer scratcht oder jugglt über die Länge eines Instrumentals. Alle anderen schauen zu, dann darf der Nächste. Damen sind dabei selten anwesend. Eigentlich nie. Gesprächsthemen eher nerdig.
Jazzy Jeff wird für seinen "Transformer"-Scratch bekannt, DJ Flare für den "one/two/three/four-click flare", Qbert entwickelt den "crab"-Style. DJ Aladdin und Steve Dee avancieren Ende der Achtziger zu Beatjuggling-Profis.
Offizielle Wettkämpfe, die jenseits der nachbarschaftlichen Battles über die lokale Vorherrschaft der Blocs ausgetragen werden, steigen erst nach der Gründung der DMC DJ Championships. Seit 1985 findet der Contest in London statt. Der erste Gewinner ist ein junger Engländer namens Roger Johnston, der dem Namen des Wettbewerbs (Disco Mix Championship) alle Ehre macht und wirklich nur mixt. Die Vorgabe der DMCs lautet: Mach in sechs Minuten, was Du willst! Je kreativer, technisch anspruchsvoller und sauberer das Mini-Set präsentiert wird, desto besser der Punktestand. Eine Jury vom Fach bewertet die einzelnen Shows.
Im Jahr darauf scratcht sich DJ Cheese aus den USA auf Platz eins. 1988 bezeugen bereits 5.000 Fans den Titelgewinn von Legende Cash Money. Hauptsponsor Technics führt kurz darauf einen vergoldeten 1210er Plattenspieler als exklusiven Gewinnpreis für den World Champ ein. Cutmaster Swift, DJ David heißen die Sieger in den folgenden Jahren.
Ab 1992 werden auch Team-Formationen zum Contest zugelassen und bescheren der Crew Rocksteady, bestehend aus Qbert, Mixmaster Mike und DJ Apollo den Weltmeistertitel. 1993 und 1994 verteidigt die Kombo Dreamteam (nur noch Qbert und Mixmaster Mike) diesen erfolgreich und setzt das internationale Turntablism-Level auf eine neue Höchstmarke. Qbert darf darauf im Jahr 1995 nur noch als Juror am Wettbewerb teilnehmen, dafür mit Mixmaster Mike in der DMC DJ Hall of Fame Platz nehmen.
Roc Raida von den X-Ecutioners, DJ Noize aus Dänemark, der Kanadier A-Trak, Craze aus Miami, Plus One von den Scratch Perverts, der Japaner Kentaro, Dopey aus Kanada, Franzose Netik oder der Deutsche Rafik heißen die Sieger der folgenden Jahre.
Unter den Team-Formationen können die Crews um Qbert die Brust schwellen, sei es Rocksteady, Kombo Dreamteam oder die legendären Invisibl Skratch Piklz. Auch die X-Ecutioners machen von sich reden und bringen das erste reine DJ-Album auf den kommerziellen Musikmarkt. Sowohl Englands Scratch Perverts als auch The Allies aus den USA zeigen Handwerk von Weltrang.
Neben den DMCs existiert auch die ITF (International Turntable Federation), die ebenfalls große Wettbewerbe austrägt und Titel verteilt. Den Unterschied zu den DMCs bilden die Spielregeln. Es handelt sich hier um ein Battle gegen seinen direkten Kontrahenten. Jeder DJ bekommt nur zwei Minuten für sein Set, die Wertung verläuft im gegenüberstehenden K.O.-System. Ein Finalist muss sich somit mit etwa sechs kleinen Sets wappnen.
Invisibl Skratch Piklz-Mitglieder Yogafrog und Qbert fördern die Turntablism-Szene seit Jahren auch auf technologischer Ebene. Um sich auf sämtliche Belange eines Scratch-DJs zu konzentrieren, gründen sie ihr gemeinsames Unternehmen Thud Rumble Ltd. Als gleichzeitiges Independant-Label sollen verkannte Talente hier eine Plattform bekommen.
Zudem bietet das Unternehmen eine Produktpalette, die im 21. Jahrhundert selbstverständlich wirkt. Scratchplatten wie Needle Trashers, Dirtstyle Records, Battle Breaks oder die Seal-Serie (Vinyl mit Beatloops, Drum-Breaks und kurzen Soundschnipseln jeder Art darauf) werden zum unabdingbaren Equipment eines jeden DJs, der mehr will, als nur Platten auflegen. Darüber hinaus stellt der Konzern vom Fach Slipmats (Butter Rugs und Flying Carpets), eigene Nadeln (Ortofon-Modelle) sogar "Monster Rumble Cables" her.
Der Output von Thud Rumble ist exakt auf die Bedürfnisse der Turntablisten zugeschneidert und befriedigt deren Nachfrage mit 80 Prozent des gesamten Marktanteils. Immer enger arbeitet die Firma mit anderen Herstellern zusammen. So stehen Yogafrog und Qbert als Chef-Archtitekten und Mitentwickler bei einigen Mixern und Plattenspielern von Vestax zur Stelle. Ihr Debüt, der Kooperation am 05, 06 und 07er Modell, heimst gleich einen Award ein. Alle drei Mixer finden schon bald einen festen Platz im Set-Up der Bedroom-DJs und Hip Hop-Clubs.
Turntablism- und Scratch-DJs finden in der Musikwelt leider viel zu selten Anerkennung. Gewinnen sie nicht gerade eine der begehrten Championships, bleibt ihre Kunst oft brotlos, nur von den Nerds der Szene beklatscht, ihr Talent und ihre Stunden des Übens in der breiten Masse gar unbeachtet. Nicht selten dauert die Vorbereitung für einen Wettbewerb ein ganzes Jahr. Das Showcase dagegen bietet nur six, machmal sogar bloß two minutes of fame. "All this scratching is making me itch!"