15. Mai 2009

"Farewell, Testicle!"

Interview geführt von

Drei Jahre Arbeit zogen ins Land, bevor die Kalifornier ihrem neuesten Machwerk den Segen gaben. Von einem Schnellschuss kann somit keine Rede sein. Butch Vig, Produzenten-Ikone der Grunge-Ära, feilte gemeinsam mit den Alt-Punkern am roten Faden.Green Day haben sich großzügig in mehreren Suiten des Kölner Interconti-Hotels eingerichtet, bevor sie am Abend ihr neues Material bei einem Radiokonzert vorstellen. Während des Gesprächs versucht Drummer und Klassenclown Tré Cool, das Diktiergerät mit aufgestecktem Mikro wie eine Crackpfeife zu rauchen, während Billie Joe und Mike Dirnt sich behutsam für den Gig warmtrinken.

Hey, für Totgesagte seht ihr aber ganz gut aus!

Was? Wer hat uns totgesagt?

Die Presse, zumindest halbwegs. Wochenlang war nichts anderes über euch zu lesen, als dass ihr alle schrecklich krank geworden seid an der Fertigstellung eures Albums.

Billie Joe: Ach was, guck uns an: Manche von uns haben sogar geduscht, und wir sind alle riesig froh, dass wir jetzt endlich live spielen können!

Um so besser, also musste auch keiner von euch ins Krankenhaus in den letzten Monaten?

Mike: Nee. Wir hatten wirklich viel Stress, aber den haben wir uns selbst gemacht. Ich hatte schon früher mal leichte Herzprobleme und manchmal auch Angstattacken, und diesmal haben wir bei der Arbeit die Latte so hoch gehängt, da kann man schon mal zittrig werden.

Tré Cool: Baby, das Zittern verschwindet nach den ersten sechs Raid-a-Burger [Radeberger]!

Billie Joe: Mir ging es ähnlich. Aber dann fährt man mal wieder nach LA, läuft eine halbe Stunde rum und erkennt: Ach, SO sehen also richtig abgefuckte Typen aus!

Ihr meidet LA also eher?

Billie Joe: Für einen Urlaub is es echt okay, es gibt ein paar richtig gute Strände, und man auch gut einen draufmachen. Aber große Teile davon, wie Hollywood, das sind einfach keine echten Orte. Es ist eher - ein heuntergekommenes Disneyland, nur mit mehr Silikon. Wir sind Kalifornier, aber lieber in Berkeley und Oakland.

Wie tief verwurzelt seid ihr eigentlich noch in der Punkszene, aus der ihr ursprünglich kommt?

Ziemlich, schließlich haben wir unsere Freunde, unsere Familien und unser Studio in der Gegend, in der wir musikalisch aufgewachsen sind. Es ist toll zu wissen, dass es noch richtig legendäre Underground-Punkschuppen wie das 924 Gilman Street gibt, das zeugt von einer Bewegung, die sich keinen Trends unterwirft.

Aber da habt ihr doch bestimmt Hausverbot.

Jaja, wir durften da eine Weile nicht spielen, weil wir mit Dookie bei einem Major unterschrieben haben. Sie unterstützen nur sehr junge Bands, das ist doch cool, das muss man akzeptieren.

Jello Biafra von den Dead Kennedys wurden doch mal beide Beine dort gebrochen, weil er angeblich ein "Sell-Out" war ...

Es ist bis heute nicht ganz klar, wie viele Beine ihm damals gebrochen wurden, aber es hat ihn definitiv übel erwischt. Dabei hat er nie einen großen Vertrag unterschrieben.

Vielleicht solltet ihr dem Laden dann noch eine Weile fernbleiben.
Was habt ihr denn gemacht, um von der massiven Resonanz auf "American Idiot" Abstand zu gewinnen?

Tré: Ich war in Kuba.

Was hast du da genau gemacht?

Tré: Ich habe eine Weile Congaunterricht genommen, man mischt die Conga- und Cymbal-Parts zusammen ...

Und, wie war's?

Tré: Fucking hard!

Ich habe, ehrlich gesagt, auch nichts davon auf dem neuen Album gehört.

Tré: Äh, ja, nur eine weitere Waffe im Arsenal, falls ich mal Weiber aufreißen muss, die das beeindruckt.

Mike: Wir sind heimgefahren, nach Oakland, wo unsere Familien und Freunde leben. Auf eine gute Art und Weise ist es immer sehr demütigend, von Leuten umgeben zu sein, die einen so gut kennen. Man muss sich ganz schnell daran gewöhnen, dass man daheim todsicher nicht wie ein Rockstar behandelt wird - das kratzt zunächst am Ego und ist dann aber sehr befreiend.

Billie Joe: Sobald man wieder in alltägliche Routine verfällt, tauchen die Songideen auf, und dann muss man nur geduldig sein.

Ist das nicht schwer für euch?

Billie Joe: Klar, und wie! Wir sind generell sehr ungeduldige Menschen und mussten uns sehr zurückhalten, um nicht sofort nach "American Idiot" irgendwelche Schnellschüsse rauszuhauen – zehn Songs in drei Wochen. Aber wir wollten wissen, was wir musikalisch wirklich draufhaben. Das Warten darauf, dass sich ein Song entwickelt, ist das allerhärteste.

"21st Century Breakdown" wurde ja von Butch Vig produziert, eine große Nummer als Produzent für Nirvana, Sonic Youth und Smashing Pumpkins. Wieso seid ihr nach so vielen Jahren Rob Cavallo losgeworden?

Billie Joe: Es war einfach Zeit, in eine andere Richtung zu gehen, und jemand stellte uns dann Butch vor. Er ist wirklich ein richtig netter Typ, ein guter Junge - und wir wussten, dass er den "American Idiot"-Nachfolger stemmen konnte, dass er sich traute. Er brachte uns Ruhe, Selbstbewusstsein und Klasse ins Studio und hat uns geholfen, den Überblick über die ganzen Ideen zu behalten. Er liebt Musik so sehr, einfach fantastisch! Und soundmäßig finde ich, das ist das beste Album, das wir je gemacht haben.

Mike: Seine Liebe zur Musik geht weit über seine Angst vor dem Erfolg hinaus.

Das hast du schön gesagt.

Tré: Oh ja.

Und er war ja auch selbst Musiker, oder? Drummer bei Garbage ...

Mike: Naja, wenn du einen Drummer Musiker nennst, dann ja ... er ist ein toller 'Musiker', höhö.

"Cyberblogging und so ... ich komme da nicht mehr mit."

Jetzt, da wir alle Bush los sind, müsst ihr euch ja neue Themen suchen. Also, um was geht's auf "21st Century Breakdown"?

Es ist ein loses Konzept in drei Akten um zwei Charaktere, die in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends ihr Glück suchen. Die Hauptperson heißt Gloria, sie ist eine idealistische engagierte Kämpferin, immer aufrecht und integer – und ihr Counterpart heißt Christian, er ist selbstzerstörerisch und wütend und möchte am liebsten alles niederbrennen.

Auch auf "American Idiot" gab es ja diese narrative Struktur, inklusive der guten und der zerstörerischen Figur.

Billie Joe: Ja, sie stehen für zwei Seiten ein und derselben Person ...

Tré: Und du wirst nie drauf kommen, welche Person das ist!

Sind Christian und Gloria ein Paar oder finden zueinander, wie es das Cover schon vorschlägt?

Billie Joe: Sie versuchen, sich zu finden ... es sind Geschichten, die inspiriert sind von persönlichen Erlebnissen vor dem Hintergrund des abgefuckten Amerika der ausgeheden Bush-Ära, in der jeder versucht, etwas Greifbares aus dem Chaos zu ziehen und gegen innere und äußere Feinde zu kämpfen.

Ich glaube, es ist enorm wichtig, eine Wahrheit für sich selbst zu finden, wenn man ständig mit diesen ganzen Bildern, Ängsten und Krisen bombadiert wird. Was ist eine richtige Krise? Und was ist nur eine gehypte Medienkrise? Darum geht's auf dem ganzen Album: Die Suche nach der Wahrheit. Oder vielmehr: Die Suche nach etwas, an das man glauben kann.

Im Titelsong singst du: "I never made it as a working class hero". Wessen Eingeständnis ist das?

Billie Joe: Es ist zunächst mal eine Referenz an John Lennon, ich bin ein großer Fan von ihm. Als er den Song gesungen hat, bedeutete das noch etwas, ein Held der Arbeiterklasse zu sein. Mittlerweile gibt es, zumindest in den USA, so viele Verlierer und Obdachlose, dass das völlig entwertet wurde. Und auch wenn ich selbst ein Wohlfahrtskind war, hatte ich früher doch nie das Gefühl, dass auf meinen Schultern für die nächsten paar Jahrzehnte ein riesiger Haufen Scheiße und Ballast aufgetürmt wurde, den ich jetzt abarbeiten muss.

Mike: Versteh uns nicht falsch, wir denken alle, dass Obama ein Supertyp ist - ein cleverer Mensch, der mit einer großartigen Rocktour alle im Land wachgerüttelt hat, aber ich möchte wirklich nicht in seiner Haut stecken. Bush hat das Land desaströs zurückgelassen, und es hilft niemandem etwas, wenn wir einen Menschen zur Ikone verklären.

Der 14-jährige Green Day-Fan, der sich 2004 "American Idiot" gekauft hat, konnte 2008 zum ersten Mal wählen, es lag ja eine ganze Legislaturperiode dazwischen.

Billie Joe: Yeah, gar keine schlechte Vorstellung!

Mike: Hauptsache, es ist vorbei!

Tré: Hauptsache, es ist nicht nur bei dem einen geblieben!

Billie Joe, einer deiner Söhne ist doch jetzt gerade im perfekten Green Day-Fan-Alter, oder?

Billie Joe: Jacob Danger ist 14, ja.

Ich wollte eigentlich auch nur, dass du diesen geilen Namen mal sagst. Mag er denn Green Day?

Billie Joe: Ja, doch, ich glaub schon. Er findet's okay, zumindest vor mir ... wahrscheinlich lästert er hinter meinem Rücken über den lahmen Scheiß, den sein Dad so macht, aber damit muss ich wohl leben. Er hat mich auch auf ein paar Sachen gestoßen, die er gerne hört: The Kooks und Vampire Weekend, ist gar nicht so schlecht, auch wenn ich den meisten Kram nicht gut kenne. Und er ist selbst Drummer in einer Band.

Auf was für Musik steht ihr denn privat? Oder was kommt bei euch niemals auf den Plattenteller?

Billie Joe: Wenn ich eine Band hasse, dann doch wohl fucking Slipknot mit ihren lächerlichen Masken. Mein Gott, ich kann mich kaum zurückhalten ... ein neunköpfiger Haufen Scheiße.

Und wenn du seine Generation mit deiner damals vergleichst, denkst du denn, dass sich die Jugendlichen ausdrücken können, wenn ihnen etwas nicht passt? Und wenn ja, tun sie's?

Billie Joe: Äh, klar, mit Cyber ... Cyber-Blogging und der ganze Scheiß. Und Leute, die sich selbst auf Youtube stellen und so. Ich komme da nicht mehr so richtig mit. Manches davon erscheint mir einfach ziemlich bedeutungslos.

Mike: Ja, die schiere Masse an Blabla nimmt echter Wut den Wind aus dem Segeln. Es geht einfach unter, wenn jeder erzählt: "Ich bin ja so wütend!"-"Wieso bist du denn wütend, weil du bei McDonalds in der Schlange übersehen wurdest?!"

Billie Joe: Sie können immer ein bisschen rebellerien. Das machen wir ja auch!

Ein bisschen.

Billie Joe: Aber wenn ich eins nicht verstehen kann, dann ist es dieser Tick, ständig und überall Filme und Fotos mit dem Handy zu machen. Du stehst auf der Bühne und siehst nur kleine Displays, die dich verfolgen! Ich sage dann immer, los, macht jetzt ein paar Bilder und dann packt das Scheißding weg und lasst uns endlich tanzen und Spaß haben. Ich meine – dazu sind wir doch da!

Habt ihr denn das Gefühl, dass die Fans in den letzten 20 Jahren mit euch mitwachsen?

Mike: Du meinst wohl, ob sie mit uns alt werden?

Tré: Wir haben komplett gemischtes Publikum, alle Altersklassen, von Teenagern bis zu 60-Jährigen ist alles dabei.

Billie Joe: Und ich glaube, seit dem letzten Album haben wir auch ein paar mehr ältere Fans bekommen. Vielleicht fühlen die sich an ihre besseren Tage erinnert - "wie damals bei Led Zeppelin, Mann!"

"Farewell, Testicle!"

Wo wir gerade beim älteren Publikum sind - wie geht eigentlich Punkrock und Musical zusammen?

Alle drei: Sehr, sehr gut, natürlich!

Ist ja nicht gerade die offensichtlichste Genrepaarung.

Mike: Michael Myers kam auf uns zu, er hatte gerade eine Auszeichnung für seine Adaption von "Frühlings Erwachen" abgeräumt und hat uns zu einem Workshop mitgenommen. Er meinte immer, kommt schon, das ist kein Omi-Musical, kein Lion King, probiert es aus! Das haben wir getan und ich muss sagen: Das war das inspirierendste, was ich seit langem gemacht habe und danach konnten wir uns das alle sehr gut vorstellen, wie "American Idiot" mit seiner sowieso schon erzählenden Struktur auf der Bühne sein wird. Wir setzen das jetzt mit um; im Herbst geht's in Berkeley los. Das wird super!

Wäre auch interessant zu erfahren, was da für ein Publikum im Vergleich zu euren Gigs hinkommt.

Tré: Tja, entweder sind es Musicalhasser, die Green Day sehen wollen oder Green Day-Hasser, die das Musical sehen wollen. So oder so kann nur jeder gewinnen.

Mike: Und es wird eine der raren Gelegenheiten, bei denen man Green Day im Sitzen sehen kann!

Trotz allem: Warum, meint ihr, ist euer Durchschnittspublikum seit 20 Jahren jung?

Billie Joe: Ich glaube, es liegt an der Energie ... und wir haben alle noch Haare.

Tré: Als Teenager ist man ja generell ziemlich geil - und wir sind enorm sexy.

Okay, die Überleitung ist jetzt nicht sehr elegant, aber bevor wir rausgeworfen werden, möchte ich gern noch ein Gerücht zerstreuen: Tré, stimmt es, dass du einen BMX-Unfall hattest und seitdem einen Hoden weniger dein eigen nennst? Ich hab versprochen, das zu fragen.

Mike: Da war kein Fahrradunfall.

Tré Cool: Ich war früher mal auf einer Clownsschule. Wie du dir vorstellen kannst, lernt man da alle möglichen Fertigkeiten...

Billie Joe: Ja, er kann verschiedene Taschenmuschis aus Luftballons kneten! Wunderschön.

Mike: Und so praktisch!

Tré Cool: ... und unter anderem auch Einradfahren. Während eines Auftriits bin ich mit so nem Einrad von der Bühne gefallen und wieder hart auf dem Sattel gelandet. Ein Teil meines Sacks rutschte in den Körper und ward nie mehr gesehen. Farewell, Testicle!

Hey, immerhin ist es noch da!

Tré: Eben, und das eine, was mir geblieben ist, ist richtig hübsch!

Mike: Wenn Tré den Mund ganz weit aufreißt, kannst du es dir auch angucken.

Ich muss dann auch los. Vielen Dank!


Unsere Zeit ist um, und der standesgemäß tätowierte Künstlerbetreuer von Warner führt mich zur Suite nebenan, damit ich mir mal das neue Album anhören kann. Er schmollt ein bisschen, weil das Hotel zwar Geld für schnieke Design-Anlagen in den Zimmern hatte, aber offensichtlich nicht für die Musik: Neben der Anlage liegen einige schlampig kopierte Pop-CDs. "Unverschämtheit", murmelt er, schiebt das Green Day-Album in den Player und die Band in Richtung Ausgang.

Drei Stunden später stellen Green Day im Kölner E-Werk nun ihr Werk vor, das erst eine Woche später erscheint. Die Halle ist voll, die Stimmung außergewöhnlich gut. Kein Wunder: Die meisten Fans kennen die Platte schon fast auswendig.

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