2. Juni 2000

"Der Rock'n'Roll-Mythos stammt aus Afrika"

Interview geführt von

Da ließen wir uns nicht zwei Mal bitten und düsten ins bewölkte München, um sich auf einen Schwatz mit der einen Leftfield-Hälfte Paul Daley zu treffen. Der Symphatiebolzen hatte viel zu erzählen und es gab einiges zu lachen.

1998 hat ein britisches DJ-Magazine "Leftism" zum besten Dance-Album aller Zeiten erkoren. Wie lebt man mit so einer großen Ehrung?

Es macht für uns eigentlich keinen großen Unterschied. Wir sind ja nie aufgestanden und haben behauptet, dass das das größte Dance-Album der Welt wäre. Es ist sehr nett, wenn das jemand behauptet, aber wir können uns nicht erlauben zu sagen, ja, ihr habt recht. In den letzten zehn Jahren hat es eine Menge guter Dance-Musik gegeben und wir sind nur ein Teil der Szene, aber natürlich ist so eine Auszeichnung schön.

Habt ihr großen Druck verspürt, als ihr "Rhythm & Stealth" aufgenommen habt?

Ja teilweise, aufgrund des Erfolgs der ersten Platte. Wir haben das so nicht erwartet. Das zweite Album sollte nicht wie das erste klingen, wir wollten aber auch nicht zu einer neuen Band mutieren, weil wir schließlich unseren eigenen Sound haben und das wurde uns zur Last. Im Zeitraum zwischen den beiden Platten haben viele diesen Sound kopiert, nicht nur im Dance-Bereich, auch in der Rockmusik haben sie Elemente von unserem Sound verwendet.

Unseren Stil gab es auf einmal überall, speziell in England. Wenn ich den Fernseher angemacht habe, hat das alles geklungen, als ob es aus einem Song von uns wäre. Das hatte natürlich Auswirkungen auf unsere Arbeit und erzeugte so einen Druck. Vielleicht wäre es rückblickend besser gewesen, wenn "Leftism" nicht so eingeschlagen hätte und wir so vom Druck befreit hätten arbeiten können.

Viele Bands und DJs bezeichnen Leftfield als ihren Haupteinfluss beim Produzieren von Musik. Was ist eigentlich eure Inspirationsquelle?

Ich höre viel Techno und Undergroundmusik, die mich inspiriert. Ich mag auch Siebziger Jahre-Mucke. Als ich jünger war, habe ich viel David Bowie, Lou Reed, Punk und solches Zeugs gehört. Ich bin sehr offen für Musik jeglicher Spielart und das noch mehr, je älter ich geworden bin. Ich kann zwar Leute verstehen, die nur eine Sache hören, aber Neil und ich sind da anders gestrickt.

Ihr sagt selbst von euch, dass ihr Sounds zusammenfügt. Wenn es um elektronische Musik geht, muss man auch den Namen Kraftwerk nennen. Über die Düsseldorfer heißt es, dass sie ihre Musik konstruieren. Arbeitet ihr ähnlich?

Ja, ich glaube schon, obwohl sich die Technik verändert hat. Sie waren die Pioniere elektronischer Musik und wären sie nicht gewesen, wäre heute vieles nicht so, wie es ist. In den Siebzigern war es natürlich noch viel schwerer. Wenn Du Dir mal anschaust, welches Equipment Kraftwerk damals benutzt haben. Heute kannst du das alles mit einem Laptop machen.

Ja, wir konstruieren unseren Sound. Ich weiß zwar nicht, wie Kraftwerk das machen, ob sie mit einem Piep anfangen und dann alles um diesen Piep ausgestalten oder ob sie mit den Texten anfangen. Neil und ich beginnen meist mit einem Loop und bauen alles nach und nach auf. Instrumentelle Musik unterscheidet sich hier erheblich vom klassischen Songwriting, aber beide Entstehungsprozesse können sehr hart sein.

Für welche Musik kannst du Dich zur Zeit am meisten begeistern?

Ich höre gerade viel unterschiedliches Zeugs. Die neue Platte von Richard Ashcroft ist ziemlich cool. Quer durch alle Genres, Detroit-Sound und viel Underground Techno aber meist elektronische Musik. Ich kaufe mir viele Platten, sozusagen als DJ-Werkzeug. Ich lege diese Platten aber nicht zu Hause auf und hör mich da durch. Ich lege mir die eher zu, weil man sie gut mit anderen Sachen beim Auflegen mixen kann.

Bei euren Live-Shows spielen Videoprojektionen immer eine große Rolle. Inwieweit wählt ihr selbst aus, was ihr zeigt?

Wir hatten anfangs nur einen kleinen Input von außen, was die Ideen für die optische Seite betrifft. Das hat sich im Laufe der Zeit dadurch geändert, dass wir uns mehr und mehr auf die Umsetzung der Musik konzentriert haben. Wir mussten dann andere Leute hinzuziehen und ihnen das anvertrauen. Matt, ein Freund von mir, hat diese tiefen Leinwände entworfen, die viel besser rüberkommen als die normalen flachen Wände. Um ehrlich zu sein habe ich das alles noch gar nicht richtig gesehen und weiß nicht, ob es gut ist, haha. Quatsch, ich weiß, dass es gut ist.

Ihr seid dafür bekannt, dass ihr lieber im Studio arbeitet. Wer kam auf die Idee, einige Live-Shows zu spielen?

Das Tour-Ding war etwas, mit dem wir uns beschäftigen mussten. Als wir mit Leftfield anfingen, gab es diese Idee, dass wir vom Rock'n'Roll-Idealismus der Achtziger weg wollten. Album aufnehmen, auf Tour gehen und so. Das hat dann die Underground- Musikszene in England aufgebrochen. Plötzlich konntest du Musik im Schlafzimmer aufnehmen und drei Wochen später spielten sie sie in den Clubs. Zu der Zeit war das etwas Neues. Für Neil und mich ist das großartig. Wir müssen kein Equipment mehr durch die Gegend schleppen.

Aber mit der Zeit wurde Leftfield größer und wir mussten etwas mit einer Live-Umsetzung machen. Die erste Tour war noch seltsam, weil wir nicht wussten, ob das überhaupt funktionieren würde. Hinzu kommt, dass wir mehr machen, als nur hinter Mixern zu stehen. Wir wollten auch mehr machen und deshalb war das schon eine Herausforderung. Es scheint zu funktionieren, wir fühlen uns gut damit. Leute wie Underworld haben damit angefangen und so dachten wir, wenn die das machen, können wir es auch.

Das Video zu "Africa Shox" wurde von dem außergewöhnlichen Regisseur Chris Cunningham gedreht. Wurdet ihr durch seine Arbeit für Aphex Twin auf ihn aufmerksam?

Ja! Ich habe das Video zu "Come To Daddy" gesehen und das war das Interessanteste, was ich seit längerem gesehen habe. Ich war krank und habe MTV geschaut und habe mich berieseln lassen. Auf einmal kam dieses Video und ich dachte ahhhh, was ist denn das? Am nächsten Tag habe ich dann das Video zu "Windowlicker" gesehen und dachte, dass er ein hervorragender Regisseur sein muss. Chris ist sehr talentiert. Es ist schön, mit Leuten zu arbeiten, die sich nicht scheuen, mal etwas anderes zu machen und ein Risiko auf sich nehmen. "Africa Shox" wird in England nicht gezeigt. Ich weiß nicht, wie es hier ist ...

In Deutschland läuft es.

In Europa ist sowieso alles liberaler und offener. Bei uns in England sind alle so rückständig. England ist ein kreativer Ort, aber gleichzeitig sehr ...

... konservativ?

Ja, trotz seiner Kreativität.

Vielleicht ist das ja Teil der Tradition?

Ja, das ist es wirklich, aber wenn es diese Einstellung nicht geben würde, dann gäbe es diese Kreativität wahrscheinlich nicht.

Also eine Art Gegenpol?

Ja, Yin und Yang. So in der Art, haha.

Wenn ihr die Songs mit Vocals aufnehmt, habt ihr da sofort bestimmte Stimmen im Kopf oder sucht ihr lieber nach unbekannten Interpreten?

Auf dem letzten Album wollten wir unbekannte Stimmen haben. Vielleicht deswegen, weil uns einige dazu drängen wollten, berühmte Leute zu engagieren. Wir dachten, dass das cool wäre, das so zu machen weil es doch einen Haufen Platten gibt, auf denen berühmte Leute singen. Wir dachten, es wäre interessanter, mit Leuten zusammenzuarbeiten, die noch frisch sind und deren Ego noch nicht so groß ist, haha.

Wir dachten einfach, dass das die Platte interessanter machen würde. Was auch ein wenig riskant ist, denn manche Leute wollen einfach etablierte Namen. Wir hätten zwar nichts dagegen gehabt, mit den Leuten, die uns vorgeschlagen wurden, zusammen zu arbeiten aber letztlich wollten wir einfach selbst die Kontrolle über die ganze Situation in Händen halten.

Wie lange hat es gedauert, Afrika Bambaata zu überreden?

Nicht lange. Er kannte uns ja sowieso schon. Er wusste, dass wir schon mit John Lydon garbeitet hatten. Bambaata hat mit John in den Achtzigern gearbeitet und aus der Zeit stammte diese Beziehung zu Lydon. Außerdem hat er auch ein paar Platten von uns in seinem DJ-Set.

Das Wort "Africa" kommt in eurem Zusammenhang ziemlich häufig vor. "Africa Shox", Afrika Bambaata, "Africa Melt". Habt ihr eine spezielle Beziehung zu diesem Kontinent?

Eine Menge der Rhythmen, die wir verwenden sind von afrikanischer Musik beeinflusst. Wenn Du den alten Rock'n'Roll-Mythos zurückverfolgst, kommt ja alles aus Afrika. Vielleicht haben wir das Wort "Africa" auch überstrapaziert, haha. Nein, wir sind nicht von Afrika besessen, aber eine Menge Dance-Musik, Rhythmen und sämtliche Percussions kommen von dort.

Ihr verwendet ja eine Vielzahl von verschiedenen Stilen. Denkt Ihr, dass moderne Musik eine Fusion verschiedener Stile sein muss?

Was immer deutlicher wird, ist, dass neue Musik eine Verschmelzung von Sachen ist, die es schon vorher gab. Nimm' Garage, das ist in England gerade das große Ding. Aber wenn Du es analysierst und in seine Bestandteile zerlegst, hast Du Breakbeat, Ragga und all die kleinen Einflüsse, die das zu etwas Neuem machen. Aber gleichzeitig ist es das, was Dance-Musik vorantreibt. Das ist zwar alles nicht brandneu, das wäre ja sehr schwer, es ist alles ein Mischmasch aus diesem und jenem. Du kannst ja auch nicht mit etwas völlig neuem ankommen, genausowenig, wie du eine Farbe erfinden kannst, die noch niemand zuvor gesehen hat.

Eure Brixton-Show wurde live im Netz übertragen. Seid Ihr zufrieden mit dem Ergebnis?

Ich hab's noch gar nicht gesehen, haha! Das ganze Ding mit Liveübertragungen steckt technisch noch in den Kinderschuhen aber in den nächsten paar Jahren wird das eine neue Präsentationsform werden.

Gratulation zu eurer Homepage, sehr geschmackvoll. Macht ihr selbst etwas daran?

Du magst sie? Cool. Jemand bei Sony kümmert sich darum. Diese Typen sind Freaks. Ich kann zwar mit dem Computer Musik machen, aber diese Typen sind ... haha, nein, ich sag's nicht! haha.

Auf eurer Seite gibt es einen Wettbewerb, bei dem jeder Surfer einen Song remixen kann. Im Juli werdet ihr den Gewinner bekanntgeben. Habt ihr Euch schon einige der Beiträge angehört?

Ja, ich habe gewonnen, har har. Nein, ich habe noch nicht reingehört, aber ich freue mich darauf.

Könnt Ihr Euch vorstellen, den Remix des Gewinners auf einer Maxi zu veröffentlichen?

Wenn er gut genug ist, klar. Ich hoffe, dass es was Außergewöhnliches ist!

"Leftism" und "Rhythm And Stealth" sind in England gerade als limitierte Version mit verschiedenen Remixen veröffentlicht worden. Habt ihr Einfluss darauf, was veröffentlicht wird?

Definitv ja! Alle Leute, die Remixe beigesteuert haben, wurden von Neil und mir ausgesucht. Sehr zum Verdruss der Plattenfirma, haha. Die meisten der Leute, die für uns Remixe machen, sind unbekannt, zumindest in der kommerziellen Welt oder im Sinne der Top 40. Keiner von denen wird uns einen Top 40-Hit bescheren und wir sind auch gar nicht daran interessiert.

Ihr seid bei den letzten Brit-Awards als bester Dance Act nominiert worden. Doch die Chemical Brothers haben gewonnen ...

Ja, diese Bastarde, ha ha!

Das war genau das, was wir hören wollten.

Das war die Reaktion, die Ihr wolltet? Ha ha. Nein, nein, sie sind meine Kumpels und arbeiten hart und verdienen den Preis auch. Diese Sachen bedeuten mir nicht viel und ich wollte eigentlich gar nicht hin, bin aber dann doch gegangen. Das ist aber nicht meine Welt und ich fühle mich bei solchen Sachen auch nicht wohl. Ich hänge lieber mit meinen Freunden ab.

War wenigstens das Essen gut?

Nein, es war schrecklich, haha. Das war es eigentlich, warum wir hingegangen sind, weil es freies Essen gab, aber es war einfach furchtbar! Aber mal im Ernst. Diese Dinger interessieren mich nicht. Natürlich ist es schön, Preise zu gewinnen. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich mich nicht geehrt fühlen würde, aber ich habe sicher keine schlaflosen Nächte, wenn wir keinen bekommen.

Paul, danke für das Gespräch!

Bastarde! Ha ha ha!!

Das Interview führten Michael Schuh und Alexander Cordas.

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