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Betreutes Abgehen


Ein Gegengewicht zu rechtem Kommentarschlonz schadet trotzdem nie, und dafür kommen Waving The Guns jederzeit wie gerufen. Bei den Shows in halbwegs erreichbarer Nähe hatte ich mal wieder keine Zeit. Gut aber, dass Kollege Christian Schmitz-Linnartz etwas weniger weit am Arsch der Welt wohnt. Er hat sich am Wochenende den WTG-Gig in München für uns angeschaut und teilt seine Eindrücke gerne mit uns. Weswegen ich ihm hier das Wort übergebe. Wie wars, Christian?

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"Er hat mit uns seine Wokeness gesharet"

Waving The Guns überzeugen musikalisch im vollen oder fast vollen Münchner Technikum, ein anwesender 'Boomer' stellt sich andere Fragen.

Zunächst mal wird hier kein Versuch stattfinden, zu verschleiern, dass der Schreibende nur gut eine Stunde Waving the Guns gesehen hat, da er zum Zug musste. Und natürlich sind alle anderen schuld, Münchner Mietpreise, die einen zwingen, weit raus zu ziehen, weil man sich die Stadt nicht leisten kann, vor allem aber das Internet, das nicht mitgeteilt hat, dass WTG einen Support am Start hatten, und man dachte, gut zwei Stunden würden reichen, die sind um kurz vor 23 Uhr safe fertig, oder zumindest verpasst man nicht viel.

"Gardine zugezogen", steht auf einem Banner vor dem DJ-Pult vor dem Gig. Ob das eine Referenz an Zugezogen Maskulin ist, mag dem sich fragen und kurz sinnieren, wie die beiden Bedeutungen von 'zugezogen' im Deutschen zueinander stehen, nur gut, dass dem abgelenkt wird davon, dass da zwei MCs und ein DJ auf der Bühne erscheinen, denen semantische Feinheiten im wahrsten Sinne des Wortes fremd sind und die einfach massiv loslegen.

Kuzo und Rekone freuen sich über eine der augenscheinlich größten oder bestgefüllten Hallen der bisherigen Tour und feuern ab, sympathisch und bodenständig. Nach der angesagten halben Stunde geht es nach besagter halber Stunde in den Techno Rap, es werden 45 Minuten, die Crowd würde aber noch mehr vertragen. Einer der angenehmsten Aspekte dieses Publikums ist, dass sie den Voract in einer durchaus schon gut gefüllten Halle richtig feiern, wie man es sonst selten erlebt, plötzlich erweist sich der unterbliebene Hinweis auf den Support Act als sehr schlau.

WTG läuten ihr Set mit "Seventeen Going Under" von Sam Fender ein, ein angenehmer musikalischer Kontrast zu dem, was folgen sollte. Dass Kontraste nicht immer gut sind, sondern verwirren können, zumindest einen Boomer verwirrt haben, dafür sorgte Milli Dance himself, der nach dem ersten Track sofort anhob zu einem Awareness-Disclaimer, den zumindest ich noch nie so vernommen hatte. Zusätzlich zu dem "Benehmt euch"-Hinweis und dass man sich, wenn man sich belästigt fühlen sollte, an Securitys wenden kann, kam eine Ansage, die nicht nur Frauen und FLINTAs den Raum vor der Bühne einräumen sollte, sondern über ein einfaches nettes "Passt aufeinander auf" dergestalt hinausging, dass er sinngemäß wilderes Tanzen als "pfui" brandmarkte und die Leute bat, ihre T-Shirts amzulassen.

So weit, so (nicht) gut für jemanden, der gerade WTG für vergleichsweise impulsgetriebenen bewegungsintensiveren Hip Hop hält und aus einer Zeit kommt, in der Konzerte vom Anarchismus der Bewegung und der Freiheit textiler Entledigungen lebten, aber nun gut.

Es erscheint auch ein wenig unverständlich, da WTG für ein entsprechend hohes Druck- und Energielevel extra einen Schlagzeuger auf der Bühne hatten. Gänzlich widersprüchlich wurde es jedoch, als Milli Dance einige Minuten später in der Saalmitte eine Schneise bilden ließ, um eine Wall of Death und somit dann doch plötzlich Pogo anzuzetteln, nur um danach ein verlorenes Handy mittels Beschreibung der
Displaysperre wieder an die/den Besitzer*in zu vermitteln. Das erinnert ein bißchen an "Asterix bei den Schweizern", wenn die zaubertrankgedopten Schweizer die Römer erst
vermöbeln und dann verarzten. "Entscheid dich, Diggi", will man Milli zurufen.

Inhaltlich war die Darbietung im Übrigen solide, geradlinig heruntergespielt. Milli Dance kündigte am Anfang ein langes Set an, mit jedem Track vom neuen Album und noch einigen mehr. Die Crowd feierte jede Hook, rappte leidenschaftlich mit und konnte jederzeit textlich übernehmen. Dennoch hätten meines Erachtens ein oder zwei Back-up-MCs nicht geschadet, hat was mit Energielevel und Durchschnaufen zu tun.

Wie gesagt, dann persönlicher Abbruch, leider, des Zuges wegen, aber vermutlich haben alle zusammen noch sehr lang gefeiert, mit oder ohne befohlenem… ääääh, angeleitetem Körperkontakt.

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