9. April 2008

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Interview geführt von

R.E.M.s vierzehntes Studioalbum nimmt seinen Titel wörtlich: "Accelerate" heißt übersetzt beschleunigen. Das Trio rockt wieder - im Interview erklärt Michael Stipe, wie es dazu kam.Es ist Freitagabend, so langsam gehen die Lichter aus in der laut.de-Redaktion. Ich sitze unter dem Schein meiner Schreibtischlampe und starre das Telefon an: Jeden Moment kann es klingen, in der Muschel eine Stimme, die der Welt spätestens seit dem 91er Hit "Losing My Religion" bekannt sein sollte. Tatsächlich ruft Michael Stipe mit der an Promotagen leider üblichen Verspätung an. Er hat schon den ganzen Tag geredet, versichert aber, dass das schon in Ordnung geht. Und formuliert dann aus dem Stegreif druckreife Sätze, die andeuten, worüber der Sänger der wohl größten Indie-Band der Welt sich so Gedanken macht.

Was bedeutet "Accelerate", Beschleunigung, der Titel eures aktuellen Albums im R.E.M-Kontext? Ist Beschleunigung eine gute Sache?

Michael: Ich glaube, man muss den Begriff losgelöst von R.E.M. betrachten. Als Albumtitel funktioniert es für diese Platte sehr gut auf verschiedenen Ebenen. Es ist in meinen Augen ein recht schnelles, rohes, ja dringliches Album geworden. Aber global betrachtet, denke ich, hat sich die Welt während der ersten acht Jahre des 21. Jahrhunderts unglaublich beschleunigt.

Spürst du selbst diese Dringlichkeit, von der du sprachst?

Ja!

Fühlt es sich an, als würdest du Zeit verlieren?

Nein, ich denke, was ich sagen möchte ist: Ich bin nicht allein. Das 21. Jahrhundert hat große, fortschrittliche Veränderungen versprochen und jetzt fühlt es sich auf einmal so an, als wäre das erste Jahrzehnt einfach weg. Und alles was davon bleibt, ist zum einen die Überreaktion der amerikanischen Regierung auf 9/11, und alles was das mit sich gebracht hat, auf der ganzen Welt. Zum anderen bleibt dieses subtile Gefühl, dass sich die Dinge beschleunigen. Alles passiert in viel schnellerer Abfolge. Es fühlt sich beinahe so an, als würde die ganze Welt unter ADS [Aufmerksamkeitsdefizitstörung, eine psychische Störung, die sich u.a. durch mangelnde Konzentrationsfähigkeit ausdrückt; d.Red.] leiden. Niemand von uns kann sich mehr sehr lange auf eine ganz bestimmte Sache konzentrieren, ohne von etwas anderem abgelenkt zu werden. Das scheint dem 21. Jahrhundert irgendwie inne zu wohnen.

Heißt das im Umkehrschluss, dass du es gerne etwas langsamer hättest?

Ich glaube, das funktioniert nicht, die Beschleunigung dadurch aufzuhalten, dass man es selbst etwas ruhiger angehen lässt. Ich glaube, was ich sagen will, und ich spreche hier nicht für mich oder die Band, sondern das Ganze betrachtend: Es ist wichtig, dass man den Blick für die wirklich wichtigen Dinge schärft. Das scheint etwas verloren gegangen zu sein. Das sage ich auch als Amerikaner. Es scheint so, als wäre uns diese Fähigkeit, die richtigen Prioritäten zu setzen, abhanden gekommen.

Was den Sound der Platte angeht, wird beim Hören offensichtlich, dass ihr euch wieder mehr aufs Rocken verlegt habt. War das eine bewusste Entscheidung oder ist es einfach passiert?

Nun ja, wir haben beschlossen, unsere Arbeitsweise zu ändern. Wir wollten eine schnelle Platte machen, die diese Dringlichkeit ausdrückt, die wir in den letzten Jahren, während der letzten Platten, nicht gefühlt hatten. Eine Platte mit einer Rohheit, herunter gebrochen auf die essential elements. Und mit essential meine ich essential Peter Buck, essential Mike Mills, essential Michael Stipe. Es sollte herunter gebrochen werden auf die grundsätzlichen Elemente, die jeder von uns beiträgt. Das war die Veränderung in der Arbeitsweise. Auf diese Art und Weise haben wir Material geschaffen, die diese Dringlichkeit ausdrückte, diese Rohheit hatte und diese herunter gebrochene Qualität.

Fällt es euch schwer, euch neu auszurichten? So dass ihr euch nicht unnütz wiederholt?

Ich glaube, wir haben einen Großteil unseres Lebens bisher damit verbracht, uns neu auszurichten. Zumindest den großen Teil unserer Karriere über.

Aber ist das etwas, was euch leicht fällt?

Ich wiederhole mich nicht gern, mir fällt es leicht und ist keine Herausforderung. Aber ich tue es nicht, weil es leicht ist, sondern wegen der Herausforderung, die dahinter steckt. Ich versuche immer, mich als Lyriker, als Sänger, als Songwriter, als Arrangeur weiterzuentwickeln. Und ich versuche, Peter und Mike als Songwriter zu pushen und sie versuchen das gleiche mit mir. Wenn das passiert, wird es spannend! Weil das auch die Momente sind, wo Kommunikation versagen kann und man den Fokus verliert. Das ist uns schon passiert. Aus einem künstlerischen Blickwinkel kann das gefährlich werden, aber wenn es, wie bei dieser Platte, funktioniert, dann funktioniert es richtig! Und wenn ich jetzt in dieser Woche die Reaktionen der Leute auf die Platte mitbekomme, habe ich das Gefühl, dass unsere Instinkte richtig waren. Das wir das richtige gemacht haben.

Rache ist süß!

Im Booklet sind unter anderem Zitate von Sinclair Lewis und William S. Burroughs abgedruckt. Sind das Persönlichkeiten, die dich in deinem Songwriting beeinflussen?

Vielleicht, aber diese Zitate sind eher Hinweise für alle diejenigen, die über die Lyrics hinaus etwas in die Tiefe gehen wollen. Hinweise auf meine Intentionen mit den Geschichten, die ich erzähle. Die Zitate sollen Schlüssel sein, sie sind ein Teil des Puzzles.

Die Texte des Albums sind eher ernsthaft …

Ernsthaft? Naja, die Single ist nicht sehr ernsthaft. "Supernatural Superserious" ist per Definition ein eher alberner Song.

Auch "I'm Gonna DJ" sticht in dieser Hinsicht heraus. Das ist doch schon Sarkasmus, oder?

Also, ich schreibe ja nicht autobiographisch. Ich habe den Protagonisten des Songs nach Seattle versetzt, in die Zeit der gewalttätigen Auseinandersetzungen während des Gipfels der Welthandelsorganisation von 1999. Als die Stadt belagert wurde und diese Aufstände ausbrachen. Der Song ist aus der Perspektive einer Person geschrieben, die damals in der Stadt auf der Straße ist und sich fragt: "Wird es einen nächsten Moment geben? – Wird es ein Morgen geben?" Für ihn hätte es damals genau so gut das Ende der Welt sein können.

Der Titel des ersten Stücks heißt "Living Well Is The Best Revenge" – An wem rächt sich der Protagonist?

(Lacht) Siehst du, ich finde, dass das auch ein lustiger Song ist, denn es ist ein Rachesong. Er zielt auf die Medien ab. Es geht um diese Nachrichtensprecher bei einem dieser 24-Stunden-Nachrichtenkanäle. Die unglaubliche Summen bekommen und sich eigentlich doch nur zum Affen machen. Sie sind gegen alles, was auch nur den Anschein von Fortschrittlichkeit oder Liberalität hat. Und sie unterstützen die Art und Weise, in der bestimmte Leute über Politik denken, über progressive Politik, einfach nur, weil sie von ihnen einen dicken Gehaltszettel bekommen. Und in dem Song springt der Protagonist übers Newsdesk und erwürgt den Nachrichtensprecher in der laufenden Sendung. Es fühlt sich gut an. Es ist einfach nur Rache (lacht). Weißt du, ich sehe diese Sendungen ja auch, dann werde ich so richtig sauer. Eigentlich werden diese Nachrichtenmenschen nur dafür bezahlt, Leute in den Wahnsinn zu treiben.

Kandidat Obama als Hoffnungsträger

Aber das ist sicher nicht das Einzige, was du als falsch ansiehst in den USA zur Zeit, oder? Es gibt da diesen anderen Song, der sich sehr kritisch mit dem "state of the union" auseinandersetzt …

Du meinst "Until The Day Is Done".

Genau. In diesem Jahr stehen ja Präsidentschaftswahlen an, verfolgst du das interessiert?

Ja!

Was für Hoffnungen hegst du?

Der Kandidat meiner Wahl ist Barack Obama. Denn er repräsentiert, und ich glaube, das ist er auch wirklich, einen Outsider, was den politischen Prozess angeht. Er ist ein Außenseiter in Washington. In der Hauptstadt werden Karrierepolitiker gekauft und verkauft im Kreislauf der Politik. Und wenn sie dann ein Amt bekleiden, sind sie schon befangen, weil sie bestimmten Leuten Gefallen schulden, weil Leute ihnen Gefallen schulden, Leute, die sie in dieses Amt gebracht haben. Obama ist in dieser Hinsicht ein relativer Outsider dieser Szene. Ich glaube, mir geht es wie vielen Amerikanern im Moment. Wir vertrauen unseren Politikern nicht mehr. Wir haben gesehen, was die Regierung Bush mit unserem Land gemacht hat. Es verärgert mich sehr, wenn mir Politiker versuchen zu sagen, wovor ich mich fürchten sollte, wovor ich Angst haben sollte. Obamas Message ist eine von Hoffnung und Veränderung. Das sind ganz nette Schlagwörter, aber ich glaube tatsächlich, dass etwas dahinter steckt. Ich halte ihn für sehr intelligent und ich denke, dass sein Outsider-Status etwas ist, wonach Amerika Ausschau hält.

Ihr scheint in diesem Sommer eher ungewöhnliche Orte für Konzerte gewählt zu haben. Ihr spielt viel in oder in der Umgebung von Schlössern. Macht ihr das mit Absicht, oder ist das Booking nichts, was euch interessiert oder wo ihr involviert seid?

Ich bin sehr daran interessiert und wir arbeiten eng mit dem Promoter und dem Management zusammen. Die Spielorte sollen nicht nur für uns spannend und unvergesslich sein, sondern vor allem auch für die Fans. Wir haben versucht, Venues zu finden, an die sich jeder über den Moment hinaus erinnert. Und es soll natürlich auch Spaß machen. – Wieso, gefallen dir die Orte nicht?

Ich muss sagen, ich kenne nicht alle von ihnen, aber mir ist aufgefallen, dass ihr wieder in Stuttgart auf dem Schlossplatz spielt, da wart ihr ja schon einmal. Macht ihr das auch, um die Konzerte für euch selbst spannend zu halten?

Ja, auch, aber das ist nicht das wichtigste. Es ist nicht genug, es für uns für eine Nacht interessant zu gestalten. Uns ist es wichtig, dass der Ort an dem wir spielen, denen gefällt, die kommen, um uns zu sehen. Natürlich muss es da einen großartigen Sound geben, dann möglichst eine großartige Atmosphäre, so dass es sich während des Konzerts gut anfühlt, aber auch einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Das ist der Imperativ für jede unserer Shows. Und ich bin mit dem Promoter befreundet, wir kennen uns schon lange und arbeiten schon eine ganze Weile zusammen.

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT R.E.M.

Als R.E.M. am 5. April 1980 ihr erstes Konzert in der Kirche ihrer Heimatstadt, Athens/Georgia, geben, hört die Band noch auf den Namen Twisted Kites.

Noch keine Kommentare