laut.de-Biographie
ScarLip
"Diese Frau hat mir DMX geschickt." Wenn stimmt, was Producer Swizz Beatz glaubt, dann hat der verstorbene Rapper mit dem bellenden Flow ScarLips Leben gleich zweimal maßgeblich verändert. Er lieferte ihr den Grund, um mit dem Rappen überhaupt erst anzufangen.
"Meine früheste Erinnerung daran, zu Musik so richtig ausgerastet zu sein, war, als ich DMX auf 'Ruff Ryders Anthem' hörte", erinnert sie sich im Interview mit Stereogum. Die Parallelen erscheinen ihr glasklar: DMX verwandelte seine traumatisierenden Kindheitserinnerungen erst in Aggression und ließ sie dann in seine Lines fließen. "Wenn der das kann, kann ich das auch."
Zu verarbeiten hat Sierra Lucas eine ganze Menge. Sie kommt am 12. Dezember 2000 in der Bronx zur Welt, ihre Kindheit verlebt sie bei ihrer Mutter in Brooklyn. Wie in zu vielen Familien glänzt ihr Vater mit Abwesenheit. Er ist Nigerianer, seine Tochter vermutet rückblickend, er habe ihre Mutter lediglich der Green Card wegen geheiratet.
Zunächst vermisst Sierra ihren Vater nicht groß, sie kennt es ja nicht anders. Bei einem Unfall, Fahrerflucht mit Todesfolge, verliert die gerade Zwölfjährige dann jedoch ihre Mutter. Sie und ihre Geschwister finden Zuflucht bei ihrer Tante, wobei sich "Zuflucht" als recht unzutreffender Begriff herausstellt: Handgreiflichkeiten sind in der Familie an der Tagesordnung. Zudem setzt der Freund der Tante Sierra unter Drogen und vergeht sich wiederholt an ihr.
Zum Eklat kommt es jedoch erst später: Nach einem Streit schlägt die Tante der inzwischen 16-Jährigen die Tür vor der Nase zu. Sierras älterer Bruder mischt sich in den Disput ein und drischt seiner Schwester die Faust ins Gesicht. Nicht einmal dann steht ihr irgendein Familienmitglied zur Seite: Den Krankenwagen rufen Nachbarn. Im Spital, wo Ärzte mit vielen, vielen Stichen ihre zerschlagene Lippe wieder zusammenflicken, erfährt Sierra zudem, dass sie nicht nach Hause zurückkehren darf: Ihr Bruder oder sie, hat es geheißen. Obwohl sie das Opfer ist, muss sie ihre Sachen packen.
Sierra zieht in eine Pflegefamilie und kommt dort nicht klar, wechselt zu anderen Pflegeeltern, von dort zu den nächsten und übernächsten. An acht verschiedene Übergangs-Zuhauses erinnert sie sich, immer wieder unterbrochen von Aufenthalten in Einrichtungen für schwererziehbare Jugendliche. Der Verlust der Mutter sitzt tief, ebenso der erfahrene Missbrauch, die ganzen negativen Gefühle müssen irgendwo hin - und dann hört Sierra DMX.
Gedichte schreibt sie schon seit frühester Kindheit, verarbeitet in Spoken Word-Texten, was sie beschäftigt, aber Rap? Es klickt unmittelbar. Inspiriert von Lauryn Hill, Cardi B, die wie sie selbst aus der Bronx stammt, vor allem aber von Onyx und DMX beginnt Sierra, selbst zu rappen. 2018 stellt sie das erste Video ins Netz, in dem sie einen Rap-Song covert. Erste eigene Tracks folgen in den kommenden beiden Jahren.
Ihr Style ist unverkennbar New York. 90er-Jahre-Hardcore-Hip Hop trifft da auf den in den 2020ern aufkeimenden, fiesen Drill-Vibe: eine tödliche Mischung, der der Flow einer Frau, die einzig und allein von purem Zorn angetrieben scheint, den Rest gibt. "Mir ist das alles viel zu hübsch hier", erklärt sie. "Ich bin gekommen, um ein paar hässliche Wahrheiten auszusprechen. Ich bringe den Schmerz zurück in den Rap."
Der Name, den sie sich für diesen Zweck ausgesucht hat, liegt auf der Hand, respektive hat ihn ihr ihr Bruder ins Gesicht gedonnert. Die markante Narbe, die sie an den Streit erinnert, hat sie lange genug als entstellenden Makel betrachtet und sich dafür hänseln lassen: "Ich dachte mir, ich muss mir das endlich zu eigen machen, ich muss meinen Schmerz in meine Superkraft verwandeln. Wenn ich mich selbst ScarLip nenne, wie sollte mich dann noch jucken, was irgendjemand anders über mich sagen könnte? Sie können sagen, was sie wollen, weil das ist, was ich bin", erklärt sie im Interview mit Complex. "Jetzt gehört die Narbe mir. Meine Narbe ist mein Markenzeichen. Ich habe mein Leid in Ruhm verwandelt."
Vom Ausmaß, das dieser Ruhm annehmen soll, ahnt ScarLip jedoch noch nichts. Sie postet Video um Video in ihre diversen Social Media-Kanäle, erarbeitet sich eine wachsende wie treue Fanbase, aber wie bananas es noch wird, konnte tatsächlich niemand absehen - bis 2022 ihr Track "Glizzy Gobbler" bei TikTok durch die Decke geht. Der Song verbreitet sich wie rasend in den Netzwerken, verzeichnet bald Views im sechs- bis siebenstelligen Bereich und, noch wichtiger: Er ruft Kolleg*innen auf den Plan, die sich lobend über die junge MC äußern.
Irgendwann dann der Ritterschlag: "Cardi B hat mich gerade gerepostet", jappst ScarLip fassungslos. "Sie hat mich inspiriert. Sie ist auch aus der Bronx, Bro! Sie hat uns jungen Mädchen gezeigt, dass wir es schaffen können, dass wir jemand sein können. Bro! Ich kann es scheiße nochmal nicht glauben! Wir haben es geschafft!"
Mit "This Is New York", ihrem Quasi-Debüt-Song, liefert ScarLip nicht nur ihrer Heimatstadt eine neue Hymne, sondern bricht auch reihenweise Herzen. Die Liste ihrer prominenten Fürsprecher*innen, die die junge MC mit ihrer rohen Delivery überzeugt, wird lang und länger. Tony Yayo, Latto, Lola Brooke, Busta Rhymes, Swizz Beatz und Snoop Dogg lassen Likes da.
Da sich ScarLip nicht ziert, den einen oder anderen davon direkt anzuschreiben, führt sie bald einige namhafte Kollaborationen im Portfolio. Busta wird zu ihrem Mentor, einer Art väterlichem Freund. "Fuck, yes!", antwortet etwa der Doggfather auf ihre Anfrage nach einem Remix. Gemeinsam stellen sie "This Is Cali" auf die Beine, und Snoop holt sie bei einem seiner Auftritte zu sich auf die Bühne. "Eben hab' ich noch auf einem Supermarkt-Parkplatz TikTok-Videos gedreht", wundert sie sich, "und jetzt steh' ich vor 60.000 Leuten auf der Bühne."
Der von ihr ebenfalls kontaktierte Swizz Beatz braucht gerade vier Tage, um zu merken, dass er sein Album nicht ohne sie veröffentlichen will. Dass kaum noch Zeit bleibt, um ihren Part zu schreiben, schreckt ScarLip nicht: "Ich arbeite ganz gut unter Druck", untertreibt sie, und besteht mühelos an der Seite von Jadakiss und Benny The Butcher in "Take 'Em Out". Dass Swizz Beatz danach zusagt, auch ScarLips Debütalbum "Scars And Stripes" zu produzieren, wundert niemanden mehr. Unter Vertrag steht sie inzwischen auch: ScarLip unterschreibt einen Deal mit Epic Records.
Gerade, weil es wehtut, erzählt ScarLip ihre brutale Geschichte wieder und wieder und wieder, in ihren Tracks und abseits davon. "Ich will das so oft tun, wie ich nur kann", betont sie gegenüber Stereogum. "Meine Story inspiriert andere dazu, ihre Geschichten zu erzählen und weniger Angst zu haben. Ich spreche an Stelle derer, die nicht sprechen können. Das ist machtvoll."
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