27. September 2004

"Irgendwann beißt der Tiger zu"

Interview geführt von

"Tim Renner, Gott zum Gruße!" Ein hörbar gut aufgelegter Ex-Plattenboss meldet sich wieder zu Wort. Im Januar dieses Jahres war der Vorzeige-Manager der Musikindustrie relativ überraschend von seinem Posten als Deutschland-Chef des weltgrößten Tonträgerherstellers Universal Music zurückgetreten. Eine steile Karriere hatte der 1964 geborene Renner seit seinem Einstieg als A&R-Manager bei Polydor 1986 hingelegt. Er begründete dort das Label Motor Music, entdeckte und förderte Acts wie Element Of Crime, Phillip Boa und Rammstein. Unter seiner Führung zog das 500-Mitarbeiter-Unternehmen 2001 von Hamburg nach Berlin. Er galt als Visionär, war so etwas wie der Thomas Middelhoff der Musikbranche. Doch in letzter Zeit lauteten die Weisung aus den internationalen Konzernspitzen der immer weiter vor sich hin kriselnden Branche vor allem: Sparen, Künstler droppen, Mitarbeiter feuern!

Eine Weile hat Renner diesen Kurs mitgetragen. Anfang des Jahres war es dann wohl genug: "Ich musste ganz häufig schon sagen: 'ohne mich!' Und diesmal hat das 'ohne mich' halt dazu geführt, dass die gesagt haben: 'Na gut, dann halt ohne dich.' Das ist wie bei Siegfried und Roy: Irgendwann beißt der Tiger dann doch zu" Wie ihm dieser Abschied versüßt wurde, daraus macht Renner jedoch auch keinen Hehl. In einer der psychedelischeren Stellen seines Buches "Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm - Über die Zukunft der Musik- und Medienindustrie" heißt es: "Der Herr hörte sich mit sorgenvollem Gesicht Adams Klagen an, griff in die Hosentasche und überschüttete ihn mit Manna."

Der gefühlte CD-Preis

Renner hat sein Werk ganz unbescheiden als Bibel konzipiert. Schon als Motor-Chef pflegte er, dem Vernehmen nach, selbstironisch mit "Gott" zu unterzeichnen. Im "Alten Testament" formuliert er nun die Geschichte der Tonträgerbranche, von Schellack bis MP3. Kenntnis- und Anekdotenreich berichtet er vom "Paradies" Plattenindustrie, dem "Sündenfall" Kapital und der "Vertreibung aus dem Paradies" durch CD-Brenner und Online-Tauschbörsen, aber auch durch Formatradio und Castingshows. Er erweist wichtigen Persönlichkeiten der Branche die Ehre und überlässt es dabei dem Leser, Parallelen zum Entrepreneur Renner selbst zu ziehen. Glücklicherweise bekommt seine außerordentlich unterhaltsame Schrift dabei stets die ironische Kurve, wenn die Grenze zur Selbstbeweihräucherung bedrohlich naht.

Im "Neuen Testament" zieht Renner seine Schlüsse aus der Geschichte und gibt den Propheten. Neben eher allgemeinen, pastoralen Passagen über Haltung und Verantwortung, äußert er sich auch sehr konkret zu den Reizthemen der Branche. Beispiel CD-Preise: Die müssten eigentlich sofort um ein Drittel sinken. Er selbst sei heute kaum noch bereit, mehr als 9,99 Euro für eine CD zu bezahlen. Dabei spiele es auch keine Rolle, dass die digitalen Tonträger - gemessen am realen Geldwert - in den vergangenen Jahren bereits um fast 50% billiger wurden. "Niemand hat gesagt, dass Wirtschaft fair ist. Oder dass der Konsument gerecht ist. Wenn der Konsument den Preis als zu hoch empfindet, habe ich als Anbieter die Möglichkeit den Preis zu senken oder ich muss mit erheblichen Absatzeinbußen rechnen," erläutert Renner im Gespräch die Grundlagen der Preis-Absatz-Funktion. Erkenntnisse, für die man kein BWL-Studium braucht, denen sich die Führungsetagen der Plattenfirmen aber bis heute hartnäckig verweigern.

Musik nach dem Ende der CD

Auch zum anderen Hochroteköpfe-Thema - Kopierschutz - senkt Renner den Daumen: "Es macht wenig Sinn, sein Geschäft daran auszurichten, wer einen bestehlen könnte, sondern man muss sich danach ausrichten, wer der Konsument sein könnte. Es ist blödsinnig sich ein Geschäft zu verwehren, weil man zuerst an die Sicherheit und nicht an den Absatz denkt." Zudem sei ein perfekter Kopierschutz technisch ohnehin eine Chimäre, da stets der Schlüssel mitgeliefert werde. Lieber solle man sich darauf konzentrieren, die digitalen Download-Formate aufzuwerten, mit Coverbildern, Lyrics, Videos und anderen Bandinformationen. "Hier wird eine neue Art von Kultur entstehen. Die meisten Leute regen sich ja darüber auf, dass mit dem Tonträger das physische verschwindet. Ich glaube, das ist eine reine Frage des Alters. Wer sagt, dass es spannender ist, durch ein Buch zu blättern, als sich irgendwie durchzuklicken, durch das was sich der Künstler zur Eigendarstellung ersonnen hat?"

Digitale Downloads, die künftig ohne den Apparat von Tonträgerfirmen direkt aus dem Studio zum Konsumenten gelangen können, sieht Renner als künstlerische Chance für zeitnähere Musik: "Ein schnellerer Output, ein Mehr an Leben macht ja durchaus Sinn in einer Zeit, die immer mehr Signale hat. Es ist ja gerade ein Problem vieler Künstler, dass die Geschwindigkeit so weit runter gegangen ist, weil sie sich in Fesseln riesiger Marketing-Planungen befinden und sich da gar nicht mehr bewegen können. Eigentlich sollte eine Idee dann ganz schnell ihren Zuhörer finden, wenn sie da ist und nicht erst nach einem dreiviertel Jahr Vorbereitungsphase, wenn ganz viel von dem, was den Künstler bewegt hat und den Zuhörer bewegen könnte, schon wieder verschwunden ist."

Goldene Zeiten? "Zumindest ganz gute Aussichten. Die Digitalisierung birgt wie jeder Wechsel enorm viele Gefahren, aber auch tierisch viele Chancen. Es geht darum, wie wir uns verhalten, wie einzelne Leute ihre Verantwortung jetzt wahrnehmen oder eben nicht wahrnehmen, ob das Ganze hervorragend wird oder ein Alptraum. Aber die Chancen dafür, dass es hervorragend wird, liegen drin, wie in jeder Revolution. Jede große abrupte Veränderung hat erst mal die Chance der Verbesserung in sich. Nur wenn sie nicht erkannt wird, kann alles noch viel schlimmer kommen" Amen.

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