laut.de-Kritik
Pop statt Pathos.
Review von Artur SchulzSollte Gandalf-Darsteller Sir Ian McKellen überraschend das Zeitliche segnen, bräuchten sich die "Herr Der Ringe"-Macher um die Neubesetzung der Rolle keine Sorgen machen. Den aktuellen Bookletfotos nach zu urteilen, entspricht Joachim Witt allen Anforderungen für diesen Job: wallendes, graues Langhaar, bärtig, dazu ein mysteriöser Blick - und für den Kampf gegen den dunklen Herrscher Sauron mobilisiert er auf "Neumond" schon vorab ganze Synthie-Heere.
So fordert Witt gleich zu Beginn das "Aufstehen" gegen finstere Mächte und erlittene Schicksalsschläge. Verpackt in einen mit eingängigem Refrain versehenen, klassischen Songaufbau mit zurückgenommenem Intro und sich danach immer stärker in den Vordergrund setzenden Beats: Punktgenau zurrt das Arrangement die dramaturgische Schlinge immer enger.
Unmittelbar danach droht weiteres Ungemach. "Die Erde Brennt" und findet in Witt ihren Erretter. Bereits nach zwei Nummern liegt auf der Hand: "Neumond" verdient sich vor allem das Etikett Pop der besseren Güteklasse. Völlig zu Recht bekrittelte Kollege Ulf Kubanke die musikalisch allzu schwammig und unheilig geratene Schmalspur-Esoterik des Vorgänger-Albums "Dom". 2014 zieht Joachim die Zügel erfreulicherweise wieder fester an.
Mit all seinem Pomp und gelegentlichem Pathos flirtet "Neumond" wirkungsvoll mit manch Höhepunkt der "Bayreuth"-Werkreihe. Doch nicht mehr brachial, schwer und gewichtig, sondern trotz allen Düster-Flairs lockerer und dabei immer vorwärts treibend. Für den Kampf um Liebe, Ehre und Seelenheil nimmt Witt unbeirrt sein Schwert in die Hand und führt es siegreich in emotional umtoste "Neumond"-Nächte, erfüllt von flirrenden Synthies, wuchtigen Beats, wummernder Basslastigkeit und metallisch leuchtenden Gitarrenwänden.
Die Lyrics schwanken zwischen erbarmungswürdig (mitunter) und von krude umgesetzter Weisheit erleuchtet (was häufiger vorkommt). Im dichten Metaphernnebel finden sich neben Fragen wie "Wer ist der ist der Klotz mit Muttermal?" auch Erkenntnisse wie "Die Sonne wird so schwarz wie Teer". Liest sich komisch, innerhalb eines Song-Umfelds, mit tiefer Grollstimme umgesetzt, funktioniert so etwas jedoch ganz ordentlich.
"Mein Herz" bietet griffige, tanzbare Beats nicht nur für die Dunkelpop-Disco. Ähnlich straff inszeniert, schielt "Es Regnet In Mir" auf die Tanzböden. Fürs "Strandgut" zieht Joachim Witt sämtliche Hookline-Register. Wirkungsvoller Songaufbau, hinein in einen sehnsuchtsvollen, umarmenden Refrain: Dafür zeigt er nicht erst seit "Die Flut" das nötige Händchen. "Nach der Jungfernfahrt / in ein steiles kurzes Glück" führt ihn das Leben, doch auch nach einem Schiffbruch gibt Witt sich nicht auf.
"Bis Ans Ende Der Zeit" hat außer gefährlich nah an Schlagerballaden vorbeidriftendem Kitsch wenig zu bieten, bleibt aber der einzige tatsächliche Ausfall auf "Neumond". Denn danach greift Witt wieder tief in seine Hookline-Kiste und holt einen Ohrwurm nach dem anderen heraus.
Die neuen Songs produzierte der Hamburger Künstler mit Mono Inc.-Fontmann Martin Engler. Beide wecken in ihrer Herangehensweise angenehme Erinnerungen an frühe Sounds von OMD oder Ultravox.
Statt auf zu viel ausuferndes Pathos setzt Witt konsequent auf Pop-Hymnen. "Dein Lied" startet mit nervösem Synthie-Flimmern und setzt sich dann unüberhörbar tief hinein ins "Engel"-Tal der Rammsteins. Der auch hier erneut treffsicher zündende Refrain sorgt für den nötigen Kontrast inmitten eines überdeutlichen Songzitats. Zum Schluss inszeniert Witt ein üppiges instrumentales "Fahnenmeer", das noch einmal das "Aufstehen"-Thema variiert.
"Neumond" lässt sich schlimmstenfalls gelegentlich überkandidelter Teutonic Pop schimpfen. Wenn das Ganze, fernab jeglicher Seichtigkeit, so gut ins Ohr rauscht wie hier, dann geht das als absolut positiv zu interpretierende Kategorisierung durch.
11 Kommentare mit 2 Antworten
das klingt ja verheißungsvoll.
Also nachdem ich andere Reviews gelesen habe hätte ich auch eher mit 1/5 gerechnet.
Haha... Ja, plattentests.de hat sich ja schon fast einen Narren an ihm gefressen.
Ansonsten klingt der Witt der 2000er eher nach martialisch-pathos-Poesiealbum.
Zum Glück für Westernhagen gibt es Witt. Sonst wäre Alphatier die peinlichste deutsche Platte des Monats geworden.
Sehen dann doch viele, ich will ja nicht sagen die meisten, genau anders herum! Bei Witt merkt man er: Er will, er macht, eben eine Entwicklung ! Dabei hat er sogar Spass. Bei "Hagen" merkt man doch recht schnell das, da einfach nur die Kohle weg ist!
Mit 3 Sternen echt noch gut bedient, hätte sich nicht mal einen verdient....
Neumond - der Ohrwurmklassiker schlechthin.
Aber auch alle anderen Witt - Alben stechen aus der Masse heraus. Ein Künstler der sich mit jedem neuen Album selbst neu erfindet
Was hörst du sonst so? Was hältst du von Vincent Weiß?