laut.de-Biographie
Sido
"S wie der Stress, den du kriegst wenn ich am Mic bin. I wie 'Du Idiot!' Mich zu battlen wär' Leichtsinn. D wie die Drogen, die ich mir täglich gebe. O wie der Orgasmus, den ich nur beim Rap erlebe."
Bei einem Buchstabierwettbewerb könnte Sido jederzeit antreten. Je nach Bedarf interpretiert der Berliner seinen Künstlernamen auch als Abkürzung für "Scheiße in dein Ohr" oder, als ihm das irgendwann nicht mehr passend erscheint, "super-intelligentes Drogenopfer".
Als Zugpferd des Untergrund-Rap-Labels Aggro Berlin pöbelt und prollt sich Sido ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Seine markante Totenkopf-Maske sorgt neben provokativen Texten, wie etwa in seinem wunderbar zartfühlenden "Arschficksong", für immensen Wiedererkennungswert.
Dabei beginnt die Geschichte ganz bescheiden im Osten Berlins. Hier kommt Paul Würdig am 30. November 1980 zur Welt. Der Ausreiseantrag seiner alleinerziehenden Mutter wird 1988 bewilligt: Sie zieht nach West-Berlin und kommt samt Kindern zunächst in einem Asylbewerberheim im Wedding unter.
Ein Abstecher nach Lübeck bleibt kurz. Die Familie landet bald wieder in Berlin. Im Märkischen Viertel, um genau zu sein. Dem Bezirk, dem Viertel, der Gegend, dem Zuhause, dem Sido Jahre später mit "Mein Block" eine Hymne auf die dreckigen Straßenzüge schreibt.
Sidos musikalische Karriere startet 1997: Mit seinem Kumpel B-Tight schließt er sich zu Royal TS zusammen. Das "Royal" im Namen steht kurz für Royalbunker, das Untergrund-Label, dessen Dunstkreis auch Kool Savas oder Eko Fresh entstiegen.
Das erste Royal TS-Tape "Wissen, Flows, Talent" entsteht unter widrigsten Bedingungen mit bescheidenen Mitteln: Auf einem ollen Vierspur-Gerät schustern die beiden ihre Ergüsse zusammen. Die Beats stammen aus der Playstation. Die provokante, teils aggressive Ausrichtung von Sidos Texten lässt sich hier jedoch bereits heraushören, ebenso der lakonische Unterton.
Nach dem Wechsel zum aufstrebenden Label mit dem Sägeblatt streichen Sido und B-Tight das "Royal" aus ihrem Namen und benennen sich - Gruß an ihre Crew Die Sekte - in A.i.d.S. um - alles ist die Sekte. Während B-Tight seine ersten Alben unters Volk wirft ("Mein Album", "Der Neger In Mir"), wartet Sido noch ab. Er lauert auf den richtigen Zeitpunkt.
Spätestens, als der Mond in Gestalt von "Mein Block" auf einem Sampler im Juice-Magazin ins Ghetto kracht, gibt es jedoch kein Halten mehr. Sidos Debüt "Maske" erscheint 2004 und sorgt allerorten für Gesprächsstoff.
Diverse Kontroversen gipfeln im Juli 2004 in einer handfesten Prügelei mit Azad, nachdem Sido zuvor munter dessen Mutter beleidigt hatte: "Hätte ich jetzt ein Bett hier, würde ich Azads Mutter mal richtig durchnehmen."
Letztendlich wird aber alles nicht so heiß gegessen wie gekocht. Sido entschuldigt sich wenig später beim Frankfurter Kollegen mit den Worten: "Hätte jemand über mich sowas gesagt, was ich über ihn gesagt hab', dann hätte ich genauso reagiert. Ich hätte auch meine Leute mobilisiert und so." Man versteht sich.
Sido stänkert trotzdem munter weiter in Azads Richtung und macht sich auch sonst nicht überall beliebt. Silbermond klaut er bei der Verleihung der Eins Live Krone den Preis, später legt er sich unter anderem mit Moderatorin Sarah Kuttner an.
Doch er kann auch anders: Sido kollaboriert mit Harris von den Spezializtz als Deine Lieblings Rapper, mit Samy Deluxe als Aggro Deluxe Sound System. Tja, "Eine Hand Wäscht Die Andere". Daneben hat er scheinbar den dritten Platz abonniert: Bei Stefan Raabs "Bundesvision Songcontest" holt er 2005 Bronze für Berlin. Wenig später wird er zum drittnervigsten Deutschen gewählt.
Über seine Tätigkeit als Juror bei "Popstars" hat Sido später zwar kaum noch gute Worte übrig. Trotzdem hat er offenbar Blut geleckt: Fortan betätigt er sich, insbesondere im österreichischen Fernsehen, immer wieder als Casting-Coach oder -Juror.
Ob es an der TV-Präsenz liegt, dass Sido, der seine Maske inzwischen längst abgelegt hat, musikalisch gemäßigter, poppig gar, zu Werke geht? Vielleicht liegt es auch am Alter: "Ich & Meine Maske" zeigt jedenfalls einen inhaltlich deutlich zahmeren Mann.
Unterdessen setzt sich das Label-Sterben fort. Auch Aggro Berlin streicht die Segel, das Sägeblatt-Label lebt aber in Sidos Albumtitel fort: Seine erste Veröffentlichung unter dem Dach von Universal heißt "Aggro Berlin".
Immer noch gilt als große Ehre, zu einer MTV Unplugged-Session geladen zu werden. Sido rappt 2010 akustisch aus dem Märkischen Viertel und lädt dazu illustre Gäste, darunter K.I.Z., Stephan Remmler und Adel Tawil, auf seine Parkbank.
Seit Bushido sich im Sommer 2004 von Aggro Berlin trennte und sein eigenes Label Ersguterjunge gründete, lagen sich Sido und sein Ex-Kollege in den Haaren. Im August 2011 ist von der öffentlich ausgetragenen Fehde jedoch keine Rede mehr: Sieben Jahre nach dem Split kündigen die beiden kommerziell erfolgreichsten Rapper des Landes ihr Kollabo-Album "23" an. Die Platte erscheint im Oktober über Sony und erklimmt Platz drei der Albumcharts.
Seine TV-Engagements führen Sido immer wieder nach Österreich. Er verlegt seinen Wohnsitz zeitweise nach Wien. Dort dauert es nicht lange, bis der Rapper zum ersten Mal für Empörung sorgt. Zuerst leistet er sich während der Talentshow eine handfeste Auseinandersetzung mit dem Kolumnisten Michael Jeanée, der sich anschließend mit einem extrem abwertenden Text in der Kronen-Zeitung rächt.
Nur wenige Wochen später sorgt Sido auf einer ORF-Gala mit einer Anspielung auf Adolf Hitler für einen Eklat. "Ihr Österreicher habt uns da mal einen rübergeschickt, der uns Ordnung beigebracht hat", scherzt er während der Veranstaltung. Kam nicht gut an.
Neben seiner TV-Rolle versucht sich Sido erstmals als Schauspieler und dreht gemeinsam mit B-Tight, Alpa Gun und anderen die Rap-Komödie "Blutzbrüdaz". Der Streifen läuft im Dezember 2011 an, "Die Mukke Zum Film" erscheint bereits vier Wochen zuvor.
Die Ohrfeige, die Sido vor laufenden Kameras den österreichischen Klatschreporter Dominic Heinzl zukommen ließ, beherrscht 2012 die Schlagzeilen. Gehts eigentlich noch um Musik? "Wenn es sich nicht wirklich um ein Hip Hop-spezifisches Medium handelt, dann haben die Leute in der Regel nur Interesse daran, die Dinge festzuhalten, die nichts mit meiner Musik zu tun haben", so Sido im Interview. "Daran habe ich mich mittlerweile gewöhnt. Das ist halt so."
Ganz anders: "# Beste". Die Werkschau pflügt chronologisch durch Sidos Schaffen und erlaubt so einen Blick auf die Entwicklung, die der Berliner durchgemacht hat. Sido mag über die Jahre gemäßigter, überlegter, gesellschaftskritischer geworden sein. Für eine gute Provokation zur rechten Zeit ist er allerdings noch immer zu haben.
Noch interessanter ist allerdings die Tatsache, dass die im Zuge des Best-Ofs veröffentlichte Single "Bilder Im Kopf" die mit Abstand erfolgreichste in Sidos Karriere wird. Glattgebügelter Radiosound, eingängige Texte - das mögen sogar Mama und Papa. Vom früheren Rebell ist nicht mehr viel übrig.
Sido ist angekommen. Völlig ungeniert lebt er mittlerweile den typisch deutschen Spießertraum: mit Kind, Frau und Mama wohnt er in einem großen Haus mit Hund und Garten. Sein Album "30-11-80" zeigt genau diesen erwachsenen Sido.
Denn anstatt von seinen Eskapaden zu berichten, steht der Berliner fortan zu seiner Vorbildfunktion und sieht sich daher als "Ratgeber" für seine jüngere Zuhörerschaft. Dass eine solche Wandlung Befürworter wie Gegner nach sich zieht, versteht sich von selbst.
Gleiches gilt für die halbe Rolle rückwärts in Form von "Das Goldene Album", mit dem sich Sido 2016 wieder mehr in Richtung seiner Anfänge auf der Straße bewegt. Ein arrivierter Popstar erzählt nun wieder von "Ganz Unten": Klar, dass auch das auf Kritik stößt.
"Royal Bunker", das Kollabo-Album mit Kool Savas, konzentriert sich 2017 auf die Essenz zweier Wegbereiter der deutschen Rap-Geschichte, deren Reise noch lange nicht am Ende angekommen ist. Auf seinem achtem Soloalbum "Ich & Keine Maske" (2019) nähert sich Sido dem Pop an, und da schwingt neben dem gewohnten Hedonismus ("Fällig", "Beste Zeit") auch zunehmend das eigene Ende mit. Im abschließenden "Pyramiden" mit Johannes Oerding zertrümmert er die losen Genre-Grenzen.
Diese Annäherung an Pop treibt "Paul" 2022 auf die Spitze. Und das Album funktioniert. Nicht einmal trotz all dem, sondern wegen all dem. Es ist Sidos bestes Album seit "Maske" und so brutal ernst und ehrlich gemeint, dass es allen beteiligten Deutschpop-Zirkusfiguren undenkbar gute Arbeit abringt.
In einem Interview resümiert Sido: "Das höchste Level ist geschafft, der Endboss ist besiegt, das Spiel ist durchgespielt. Was ich noch schaffen könnte, ist einen erwachseneren Rap zu etablieren." Vom Arschficksong- zum Erwachsenen-Rapper, so kanns gehen.
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