13. März 2019

"Frauen sind der Treibstoff für den Fortschritt"

Interview geführt von

Sechs Jahre nach ihrem letzten Album "Theatre Is Evil" veröffentlicht Amanda Palmer nun ihren neuen Longplayer "There Will Be No Intermission". Darauf behandelt die Songschreiberin und Autorin extrem persönliche Themen wie Abtreibung, Fehlgeburt und den Tod eines engen Freundes.

Besonders das Thema Abtreibung war für die 42-Jährige eine riesige Herausforderung: immer wieder scheiterte sie daran. Wie sie schlussendlich doch die richtige Stimme für dieses Thema fand, wie das Album zustande kam und wie sie die politische Komponente dahinter sieht, erzählte uns Palmer vorab. "Du kannst alles fragen", hieß es im Vorfeld des Interviews noch mal ausdrücklich.

Du behandelst auf der Platte sehr persönliche Themen – deine Abtreibung, deine Fehlgeburt, den Tod eines engen Freundes. Wenn man ein Album mit so emotionalen Themen aufnimmt – gehts da im Studio emotional zu oder konzentriert man sich in erster Linie auf den technischen Aspekt der Arbeit?

Es war schon ziemlich emotional – aber es war keine emotionale Achterbahn, denn das waren schon die letzten sechs Jahre. Das Aufnehmen ist dann tatsächlich eher technisch, den emotionalen Aspekt hatte ich ja schon durch – beim Durchleben und beim Songschreiben. Als ich mit John [gemeint ist Amandas Produzent John Congleton, Anm. d. Red.] ins Studio kam, ging es in erster Linie eben darum, den Songs das perfekte Studio-Treatment zu verpassen und sie schön zu machen.

Was war denn der erste Song, den du geschrieben hast für dieses Album?

Das ist eine gute Frage. Ich denke, das älteste Stück ist "The Thing About Things" oder "Judy Blume". Die hatte ich 2012, 2013 geschrieben. Ich hatte nicht den Plan, ein Album zu veröffentlichen. Besonders, seitdem ich meine Patreon-Seite ins Leben gerufen hatte, dachte ich, ich würde einfach nur ein paar Singles veröffentlichen – das dachte ich, wäre meine Zukunft. Aber irgendwann wurde es offensichtlich, dass das nicht genug wäre und dass ich es zusammenbringen muss.

Abgesehen davon, dass du ursprünglich gar kein Album machen wolltest, hast du auch erzählt, dass das nicht das Album geworden ist, dass du machen wolltest. Wie man hörte, war einer der frühen Arbeitstitel "The Saddest Album In The World". Wann hast du bemerkt, dass die Platte eine andere Richtung nimmt?

Ich denke, als ich John eine E-Mail schrieb und ihm mitteilte, dass ich jetzt bereit sei, eine neue Platte zu machen. Als ich ihm erzählte, dass es die traurigste Platte der Welt wird, war er ganz aufgeregt (lacht). Das war vor drei Jahren. Er meinte, sag mir einfach, wenn du bereit bist – und ich begann, ihm Songs zu schicken. Es gibt einige Stücke, die ich in den letzten sechs oder sieben Jahren geschrieben habe, die nicht auf dieses Album gepasst hätten. Das ist eine sehr spezielle Sammlung. Die Geschichte der gnadenlos emotionalen letzten sechs Jahre – und genau so mag ich es. Als John und ich "Theatre Is Evil" gemacht hatten, sagten wir uns: Sollten wir jemals eine weitere Platte machen, dann muss sie wirklich eine Platte mit durchgehenden Themen sein, keine verzweifelte Sammlung von Material, das herumlag. Es sollte nur ein Thema geben.

Und glaubst du, dass du das mit dem einen Thema hingekriegt hast? Es handelt sich ja doch um einen riesigen Themenkomplex: Leben und Tod

Klar, aber ich denke, was es zusammenhält ist, dass es sehr persönlich ist. Es ist eine Geschichtenerzählerplatte, die die letzten sechs Jahre erzählt. Ich hätte sicher auch andere Songs, die ich geschrieben habe, reinquetschen können und es hätte gepasst. Ich wollte auch völlig kompromisslos sein, wenn es um Ton und Geschwindigkeit geht. Bei den frühen Dresden-Dolls-Alben sagten mir die Produzenten: "Okay, du hast genau eine Ballade", aber wir lassen dich kein ewig langes Balladen-Album machen. Bei dieser Platte habe ich das völlig ignoriert. Ich dachte mir: und wenn sechs lange Balladen drauf sind, dann soll das eben so sein.

Beim zweiten Track, "The Ride", durften deine Fans quasi Themen besteuern.

Die Songs auf dem Album lassen sich in zwei Stapel einteilen. Als ich "Theatre Is Evil" 2012 via Kickstarter machte, öffnete das jede Menge Türen, mit denen ich nicht gerechnet hätte. Es führte zu einem TED-Talk, in dem ich meine Philosophie erklärte - und es führte zu einem Buch. Aber zugleich starb mein bester Freund an Krebs und ich hatte zu dieser Zeit zwei Abtreibungen. Dann bekam ich ein Kind, dann hatte ich eine Fehlgeburt. All das passierte kompromisslos, ohne Pause. Ein Drama nach dem anderen. Ich kam mit Neil [Gaiman, bekannter britischer Schriftsteller, Anm. d. Red.] zusammen und hatte keine Ahnung, wie sehr eine Beziehung zu einem anderen Künstler Einfluss auf mein Schreiben haben würde. Plötzlich hatte ich weniger Privatsphäre und Improvisier-Zeit, in der ich schreiben konnte. Alle Songs, die ich zwischen 2012 und 2016 schrieb, waren gestohlene Momente – vor allem während diesen dunklen Seelennächten, in denen ich über Songs stolperte, die für mich sehr therapeutisch waren. Dann rief ich meine Patreon-Seite ins Leben und bekam ein Kind – dadurch wurde ich sehr diszipliniert. Ich buchte zwei Monate vorher ein Studio und sagte: an diesen zwei verdammten Tagen werde ich schreiben, was auch immer. Auch, dass ich durch Patreon Geld bekam, gab mir Motivation. Ich fragte meine Fans auf Patreon nach ihren Kommentaren und Anmerkungen, die ich mir durchlesen würde und mit denen ich spielen würde. "The Ride" war das schönste Beispiel dafür, was passiert, wenn ich mit 1500 Kommentaren einen emotionalen Schnappschuss ihrer Leben und meines Lebens mache und es zu etwas zusammenformen, das Sinn macht. Ein impressionistisches, künstlerisches Schreiben, das das reflektiert, was wir alle durchmachen. Einer meiner Patreons verlor sein Kind und ich wusste beim Schreiben, dass er diesen Song hören wird. Wir reflektierten alle gemeinsam – und das konnte ich einfangen. Es fühlte sich wie der Höhepunkt an von all dem, was ich in 20 Jahren im Internet machen wollte. Es zerstörte alle Grenzen. Meine Beziehung mit diesen Menschen, die Kunst, unsere geteilten Verluste – alles kam an einen Platz zusammen.

"Ich wollte diesen Song seit langer Zeit schreiben"

Bei "The Ride" gibt es natürlich die Referenz auf den Comedian Bill Hicks. War Hicks ein großer Einfluss für dich?

Ja, er hat mich sehr beeinflusst. Ich liebte seine Stand-up und sein Tod war eine große Tragödie. Ich finde viel Trost in Stand-up. Bill machte mit seiner Stand-up das, was meine Lieblingssongschreiber in ihrem Liedern machen. Er legte schonungslos sein Leben offen. Es war ein Kommentar. Ich habe einen Blog geschrieben, in dem ich die Leute fragte, wovor sie Angst hatten. Und ein Typ schrieb: "Ich hab vor nichts mehr Angst, ich erinnere mich daran, was Bill Hicks sagt". Ich wusste, was er meinte. Im Studio fing ich an, zu trödeln und sah mir auf YouTube seinen Monolog an. Ich dachte nur, das ist toll und fragte mich, ob ich das stehlen darf? Und was für ein tolles musikalisches Leitmotiv für einen Zirkussong, über uns, die wir im Karnevals des Lebens stehen. Der Song war in einer Stunde fertig.

Wann war dir klar, in welche Richtung das Ganze musikalisch gehen würde?

Ich habe alle Demos an John geschickt und gesagt: "Ich möchte, dass das wie eine Solo-Platte klingt. Ich möchte es nicht in einer Produktion ertränken. Ich möchte keine Band, keine großen Streicher-Arrangements. Aber ich möchte, dass wir alles im selben Stil dekorieren. Es soll ein kohäsives Ganzes sein." Wir haben viel darüber gesprochen, welche Palette wir benutzen können, damit es sich wie aus einem Guss anhört, wie mit einem Pinsel gemalt. Das war eine schwere Aufgabe – weil wir am Ende des Tages wussten, wir können ein Solo-Piano- und Solo-Ukulele-Album machen und es wäre okay. Aber ohne Band und ohne Streicher, wie soll die Palette aussehen? Ich bin noch nie so unsicher ins Studio gegangen. John hatte jemandem im Kopf und ich musste John den Vertrauensvorschuss geben. Ich hatte von dem Typen nie gehört, aber John meinte, er wäre der perfekte Sidemen. Er brachte also diesen Kerl namens Max Henry von der Band Suuns, ein großartiger, globaler Musiker und Instrumentalist. Wir haben uns alle Songs genau angeschaut und haben eine Sprache gefunden. Wenn du dir sie anhörst, hörst du oft die selben Synth-Patches. Sehr subtil, aber es hält alles zusammen und lässt es nach einem Universum klingen. Es war ganz schön beängstigend. Ich habe John kurz vor dem Studio eine Mail geschrieben und ihn gefragt: "Sag mal, weißt du, was du machst? Haben wir einen Plan? Weil es fühlt sich so an, als hätten wir keinen verdammten Plan!". Ich wurde ganz schön neurotisch. Und das ist ein Zeugnis von John und meinem Vertrauen in ihn: Ich wollte die Platte nur mit ihm machen, mit niemandem anderen machen. Ich wusste, dass er es genau richtig machen würde – er würde nicht zuviel und nicht zu wenig machen.

Du hast gesagt, deine größte Challenge war der Song über deine Abtreibung – und du beschreibst, wie du es geschafft hast.

Als ich endlich herausgefunden hatte, wie ich ihn schreiben kann, war es nicht mehr schwer, ihn dann zu schreiben. Es ist auch nicht schwer, ihn zu teilen – es ist aufregend. Ich habe schon bei den Dresden Dolls über Abtreibung geschrieben, aber die Songs lebten damals von schwarzem Humor, waren sehr sardonisch. Sie widmen sich nicht auf ehrliche Art und Weise der Frage wie es ist, eine Abtreibung zu erleben. Ich wollte diesen Song seit langer Zeit schreiben – aber jedes Mal, wenn ich mich hinsetzte um es zu tun, fand ich keine Art und Weise, es so kommunizieren, wie ich wollte. Es war furchtbar und hat mich geplagt, aber es war auch eine Aufgabe rauszufinden, wie ich über dieses Ding schreiben kann, über das es sich so unmöglich schreiben lässt. Ich war zufällig in Irland, als das [Abtreibungs-]Referendum stattfand, ich spielte damals eine Show dort. Und ich war so inspiriert von den Frauen und der Kameradschaft – aber auch von den Männern. Das ganze Land arbeitete gemeinsam daran, diese mittelalterliche Regel zu beseitigen, die uns alle gefangen hält. Ich ging nach Hause und dachte, wie komisch es ist, wie schnell wir in den USA wieder rückwärts schreiten und dass es gerade Irland ist, das progressiver wird als wir, wenn es um Abtreibungspolitik geht. Aber ich wusste auch, wie ich den Song schreiben kann. Dieser Heureka-Moment war, dass der Song eine Botschaft sein muss, die eine Frau einer anderen hinterlässt. Es gibt ein Unterstützungsnetzwerk von Frauen, die sich helfen – im Dunkeln, weil es ein Tabu ist. Es ist nichts, das Leute offen diskutieren. Ich wollte etwas schreiben, das das in Liedform festhält. Als ich wusste, wie die Stimme sein sollte, war es sehr leicht – und der Song schrieb sich quasi von selbst. Ich denke, es ist mein Lieblingssong auf dem Album. Ich war 41 oder 42, als ich ihn endlich schreiben konnte. Es war wie diese Geschichte, als ein Klempner in ein Schiff kommt. Der Captain ist außer sich und der Klempner klopft einfach nur auf ein Rohr und präsentiert ihm eine Rechnung über 100.000 Dollar. "Das ist Bullshit", sagt der Captain, "Du hast nur auf ein Rohr geklopft und verlangst 100.000 Dollar". Daraufhin sagt der Klempner: "Schau mal auf die Rechnung, aufs Rohr klopfen kostet nur 35 Dollar, aber die restlichen 89965 Dollar kostet es, zu wissen, wohin man klopfen muss". Alles, was ich je erlebt habe, hat mich dahin geführt, diesen Song schreiben zu können.

"Eines der Fotos zeigt mich kurz vor meiner Fehlgeburt."

Solche Themen sind ja gerade heute sehr politisch. Wie empfindest du die derzeitige Stimmung – einerseits hat man das Gefühl, es tut sich viel in der Bevölkerung und im Bewusstsein der Leute, andererseits werden viele Länder immer regressiver

Als ein weiblicher Songschreiber, ist das größte politische Werkzeug, die Wahrheit über meine eigene Erfahrung zu erzählen. Frauen, die aufstehen und über ihre Erfahrungen berichten, sind der Treibstoff für den Fortschritt. Und es ist ansteckend. Sie sprechen offen über Scheiße, die Jahrtausende lang im Verborgenen blieb. Das ist so inspirierend. Als Künstlerin mit Plattform, die mit der Platte um die Welt tourt und vor tausenden Menschen spielt, könnte ich über viel sprechen. Aber die Zeit verlangt genau das. Vor sechs Jahren hätte ich mir nicht gedacht, dass ich ein Album über Abtreibungspolitik und meine eigene Fehlgeburten schreiben würde. Aber ich fühle mich berufen dazu. Und ich bin aufgeregt, weil ich glaube, dass die Welt bereit dazu ist – mehr, als sie es vor sechs Jahren noch war.

Die Platte wird ja von sehr sehenswerten Bildband begleitet. Wann hattest du da die Idee dazu?

Das passierte zufällig. Ich habe diesen tollen Fotografen in Upstate New York kennengelernt, wo Neil und ich wohnen. Ich fragte ihn, ob er Album-Art mit mir machen möchte – und die Erfahrung war so toll, dass wir einfach weitermachten. Es war bald klar, dass wir immens viel schönes Material zusammenbekommen würden – also fragte ich, ob wir da nicht ein Buch daraus machen wollen. Als ich wusste, dass wir ein Buch machen würden, wusste ich, dass ich etwas schreiben wollen würde. Als wir mit dem Aufnehmen fertig waren, setzte ich mich hin und schrieb eine ausführliche Erklärung zu jedem der Stücke. Ich wollte es in einen Kontext setzen. Die Fotos sind wirklich schön, hast du du bereits reinschauen können?

Ja, sind tolle Fotos.

Die Fotos fühlen sich wie das Album selbst an – theatralisch, aber auch sehr ehrlich, nackt, echt. Ich finde das toll, das Album zu hören und sich dabei die Bilder anzusehen. Bei manchen der Bilder fällt es mir schwer, sie anzusehen, ohne zu weinen. Eines der Fotos zeigt mich hochschwanger, kurz vor meiner Fehlgeburt. Die Bilder entstanden mit den Ereignissen, die zu diesem Album geführt hatten. Es war eine schöne Synchronizität, dass diese Sachen miteinander kollidierten.

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