"Precious Lord, take my hand.
Lead me on, let me stand.
I'm tired, I'm weak, I'm lone.
Through the storm, through the night
Lead me on to the light.
Take my hand, precious Lord, lead me home."
(Thomas A. Dorsey: "Precious Lord, Take My Hand")
Songs wie "Amazing Grace", "When The Saints Go Marching In" oder "Oh Happy Day", mit dem es Edwin Hawkins Ende der 60er Jahre zu seinem ersten Grammy bringt, gehören in der christlichen Welt beinahe schon zum Allgemeingut. Die Wurzeln der Gospel-Musik reichen allerdings bis in die Zeit der Sklavenschiffe zurück.
Im Gepäck der europäischen Eroberer erreichen auch ihre aus den afrikanischen Kolonien verschleppten Leibeigenen die "Neue Welt". Aus Furcht vor Aufruhr werden häufig Mitglieder verschiedener Stämme zusammen gepfercht, die sich untereinander kaum verständigen können. In traurigen, sehnsuchtsvollen, aber auch aufmunternden Melodien finden diese Menschen ein Kommunikationsinstrument.
Gesang und Tanz helfen bei der Wahrung der kulturellen Identität. Schon in der alten Heimat wurden Stammesgeschichte und Traditionen oft verpackt in Gesänge über die Generationen weiter gegeben. Gleichförmige, eintönige Bewegungsabläufe gehen mit Musik besser von der Hand. Aus alltäglichen Situationen wie dem Ruf zum Essen, zur Arbeit oder dem Ausrufen von Waren auf dem Markt entwickeln sich Work Songs, Calls und Cries. Häufig gibt ein Vorsänger Rhythmus und Melodie vor, die von anderen aufgenommen werden. Das hieraus entstandene Ruf- und Antwort-Prinzip findet sich später in verschiedenen Situationen wieder.
Neben den weltlichen Work-Songs spiegelt sich die zunehmende Christianisierung der Sklaven in Nordamerika, zu der die Erweckungsbewegung der Methodisten und Baptisten ab Ende des 18. Jahrhunderts entscheidenden Beitrag leistet, im Aufkommen von Negro Spirituals. Afrikanische Religiosität trifft auf christliche Lehren: Der neue Glaube kommt bei einer Bevölkerungsgruppe, die sich mit dem biblischen Volk Israel in ägyptischer Knechtschaft bestens identifizieren kann, gut an, zudem die Aussicht auf ein besseres, ewiges Leben Hoffnung verheißt.
Den getragenen Hymnen, Chorälen und Psalmen versehen die Sklaven mit Einflüssen aus dem Blues und verleihen ihnen so ganz neue Ideen und unbändige Dynamik. Das Frage- und Antwort-Schema wird auch bei religiösen Treffen beibehalten. Der Prediger gibt nun den Ton an, interagiert jedoch mit der Gemeinde: Jeder Einzelne ist in das Gottesdienstgeschehen eingebunden. Dieses Wechselspiel entwickelt sich zu spirituellen Liedern.
Musik, Tanz und Gesang finden ihren festen Platz im Gottesdienst. Trommeln allerdings werden zunächst von Sklavenhaltern weitgehend untersagt. Zu tief sitzt die Furcht, auf diese Weise können versteckte Botschaften übermittelt werden. Klatschen und Stampfen übernehmen die Funktion der Rhythmusinstrumente. Der Verbreitung von als harmlose Lieder getarnten Fluchtanweisungen oder anderer politischer Inhalte (Coded Songs) gebietet das Verbot keinen Einhalt.
Im Gegenteil: Oft bieten gerade die Messen den Rahmen, in dem sich Schwarze am freiesten artikulieren können. Politische Gedanken und Diskussionen bereichern die Gospelmusik. Die Geschichte zeigt: Häufig bilden Kirchengemeinden die Keimzellen für Bürgerrechts- und Friedensbewegungen.
Nach dem Bürgerkrieg und der offiziellen Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1865 entstehen erste Sammlungen von Slave-Songs. Schwarze besuchen erstmals Bildungseinrichtungen. Als eine der ersten schwarzen Universitäten bedient sich die Fisk University in Nashville, Tennessee-Spirituals singender Musikgruppen zur Entlastung des knappen Etats. Bereits 1871 touren die Fisk Jubilee Singers durch die USA. Erste Aufnahmen von Gospelgruppen wie dem Unique Quartette, den Kentucky Jubilee Singers oder dem Dinwiddie Colored Quartet entstehen um die Jahrhundertwende.
In den 20er und 30er Jahren erfreuen sich die ersten Solisten und der Quartett-Stil großer Beliebtheit. Neben den Gemeinde-Gesängen zelebrieren diese Quartette die älteste Form afroamerikanischer religiöser Musik. "Guitar Evangelists" verbinden traditionellen Country-Blues mit spirituellen Texten. Bereits um 1920 bezeichnen sich die Mitglieder des Spirit Of Memphis Quartets als "Gospel Singers". Erst mit Thomas A. Dorseys "Precious Lord" von 1932 findet der Begriff "Gospel Song" jedoch weithin Verbreitung.
Ende der 30er entwickelt sich die Quartett-Szene weg vom Country-Stil hin zum weit formaleren Jubilee. In diese Phase fällt die Gründung des Golden Gate Quartets, der Five Blind Boys of Alabama und zahlreicher weiterer Gruppen, die später zu Ruhm und Ehren kommen sollen. Das Jubilee, das dem Leadsänger nur wenige Improvisations- und Entfaltungs-Möglichkeiten gestattet, wird allerdings schon bald wieder abgelöst, geht jedoch nicht verloren: Noch nach 2000 pflegen beispielsweite Take 6 einen Stil, der als Neo-Jubilee durchgehen kann.
Die Zeit zwischen 1940 und 1960 gilt weithin als das goldene Zeitalter des Gospel. Der Szene erschließt sich ein weit größerer Markt, als ihn Blues oder Jazz für sich beanspruchen. Positiv-optimistische Gesangsstücke drücken Lob, Dank und Hoffnung aus. Wie einst der Pastor mit seiner Gemeinde, kommunizieren Solisten mit dem Chor, Sänger mit der Band, und verbreiten so ihre Botschaft.
Im Gegensatz zum Vorläufer, dem Spiritual, entwickeln sich Gospelstücke weniger aus der Gruppe heraus: Sie wurden meist eigens komponiert. Auch die vormals besungene Bilderwelt des Alten Testamentes weicht mehr und mehr Darstellungen des Lebens- und Leidenswegs Jesu Christi.
Harmonien und Melodik entstammen der weltlichen Variante, dem Blues - wenn auch die Wirkung des Jazz unüberhörbar ist: Die Nummern entwickeln sich rhythmischer, intensiver und vitaler. Bis um 1950 singen die Quartette noch weitgehend a cappella. Dann beginnen sich zunächst Schlagzeug und Gitarre, dann Orgel, Piano und Bass als Begleitinstrumente durchzusetzen.
Der Leadgesang wird zunehmend expressiver, emotionaler und spielt mit den Reaktionen des Publikums. Auch der Backgroundgesang verändert und verfeinert sich: Ab Mitte der 50er dominieren Falsett-Stimmen, wie bei den Mighty Clouds Of Joy, den Four Knights oder den Gospelaires zu hören ist. Besonders in Philadelphia florieren Frauengruppen wie die Davis Sisters, die Ward Singers oder die Angelic Gospel Singers, die 1949 mit "Touch Me, Lord Jesus" einen Hit landen.
Mahalia Jackson beginnt ihre beispiellose Karriere in einer Baptistenkirche in New Orleans. 1928 zieht es sie jedoch nach Chicago, wo sie fortan mit den Johnson Brothers, einem professionellen Gospelensemble, auftritt. Ab 1937 ist sie als Solistin unterwegs, und das derart erfolgreich, dass ihr ihre Popularität den Vorwurf einträgt, das Genre auszuverkaufen. Mahalia Jackson tritt im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung sowie bei der Beisetzung Dr. Martin Luther Kings auf und stirbt 1972 nach mehreren Infarkten an Herzversagen.
Gospel und Rhythm & Blues prägen und beeinflussen sich gegenseitig. "Vieles im Blues kommt aus der Kirche", erkennt T. Bone Walker. Elvis interpretiert etliche Gospel-Nummern, darunter "Amazing Grace". Zahlreiche R'n'B- und Soul-Stars beginnen ihre Karrieren in den Reihen von Gospel-Ensembles. So singt Sam Cooke vor seinem Crossover-Erfolg in der Welt des Pop bei den Soul Stirres. Lou Rawls macht seine ersten Schritte bei den Chosen Gospel Singers, Al Green mischt bereits mit neun Jahren bei den Green Brothers, der Gospelkapelle seines Vaters, mit.
Edwin Hawkins begleitet als Siebenjähriger den familieneigenen Gospelchor auf dem Klavier. Später gründet er den Northern California State Youth Choir, aus dessen handverlesenen Mitgliedern die Hawkins Singers hervorgehen sollen. Ende der 60er verzeichnet Edwin Hawkins mit "Oh Happy Day" einen Erfolg, der ihm den ersten seiner Grammys und Millionen verkaufter Schallplatten beschert.
1951 tritt der Bluesgitarrist Pops Staples zusammen mit seinen Töchtern Cleotha und Mavis sowie Sohn Pervis vor einer Gemeinde in Chicago auf. Die Staples Singers sind bis in die 80er Jahre hinein aktiv. Mit "We'll Never Turn Back" legt Mavis Staples noch 2007 ein Album vor, das beweist, dass ihre Stimme nichts an Kraft und Zauber verloren hat.
Neben dem Black Gospel, der auf Negro Spirituals zurückgeht, entwickeln sich einige weitere Strömungen, die auf unterschiedlichsten kulturellen und musikalischen Hintergründen basieren. So entsteht Gospel-Musik, die auf Country und Dixieland baut. In Afrika, wohin europäische Missionare Kirchenlieder und Hymnen einschleppen, wird aus diesen der in afrikanischen Sprachen und Stilen gesungene African Gospel. Spirituals wie "Go Tell It On The Mountain" finden sich in der Übersetzung "Komm, Sag Es Allen Weiter" auch in deutschen Kirchengesangbüchern. Mehr und mehr verbreiten sich Gospelchöre in den Kirchen Europas.
Kino-Produktionen wie "Blues Brothers" oder "Sister Act" tragen auch nicht eben dazu bei, das Genre in Vergessenheit geraten zu lassen. Rock, Pop und Hip Hop borgen sich Gospel-Elemente oder nehmen - wie beispielsweise die Housemartins mit "Caravan Of Love" - gleich komplett neue Versionen von Gospel-Klassikern auf. Schließen wir mit Dr. Alban, der letztlich auch nichts anderes als einen Gospel-Song veröffentlicht, wenn er fordert: "Sing Hallelujah!"