Wer auf diesem Niveau agiert, covert nicht einfach nur. Auf Herbie Hancocks "River: The Joni Letters" wird ergründet statt nacherzählt, weiter gegangen statt wiederholt und neu erfunden statt geklont. "Wir haben über die Stimmung eines jeden Songs geredet, als ginge es um einen Film. Überhaupt …

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  • Vor 17 Jahren

    Dass Jazz-Legende Herbie Hancock ein cooler Typ ist, dessen Reputation nicht einmal durch eine Sammlung rhythmischer Cocktails und bunter Melodiensträuße mit Gastauftritten diverser Popstars und -sternchen merklich geschmälert wird, hat sich ja schon herumgesprochen.

    "River: The Joni Letters" ist ein Tribute-Album an die kanadische Singer/Songwriter-Künstlerin und das kreative Multitalent Joni Mitchell, die Ende der Sechziger zur Hippie-Hocharistokratie zählte, sich aber später - ähnlich wie ihr Landsmann Neil Young - eher durch einige sehr eigenwillige und künstlerisch hochgeschätzte Alben hervortat. Sie hatte schon immer eine starke Affinität zum Jazz - unter anderem gab es ein Kollaborations-Album mit keinem geringeren als Charles Mingus. Sie ist eine exzellente Lyrikerin. Und - das merkt man besonders, wenn man mal ein paar Interviews mit ihr gelesen hat - sie scheint auch eine schrecklich selbstgerechte Person zu sein.

    Hancock (am Piano und als Kopf des Projekts) und seine Band (u.a. Wayne Shorter an den Saxophonen) spielten zehn Stücke ein. Allesamt - ganz und gar anders als auf dem Vorgängeralbum "Possibilities" - reduzierte, mattblau schimmernde Nachtstücke, die man sich am besten auch wirklich irgendwann gegen drei Uhr in der Nacht anhört. Beim spazieren durch eine regennasse Stadt vielleicht.

    Vier Titel davon sind Bearbeitungen von Mitchell-Stücken mit mehr oder weniger prominenten Gast-Vokalistinnen. Gleich als Einstieg: "Court and Spark" (vom gleichnamigen Album 1974) mit Norah Jones am Mikrofon. In einem Jazz-Kontext, der sich am Stil der Miles Davis-Quintette der ersten Hälfte der 60er orientiert und ohne die gefällige Mellowness ihrer eigenen Erfolgsplatten, bildet die honigsüße Stimme der Norah Jones eigentlich einen reizvollen Kontrast zu den vorherrschenden Dissonanzen, Brüchen und Reibungen.

    Ausgerechnet der nächste Titel "Edith and the Kingpin" gehört für mich zu den stärksten des ganzen Albums, obwohl ich bei dem die größten Befürchtungen und Vorurteile hatte. Wegen der Interpretin Tina Turner nämlich. Was ich von der gerade noch in Erinnerung hatte, ist das Plakat ihrer letzten großen Tour (um das Jahr 2000 herum) mit John Fogerty im Vorprogramm und der Gedanke, dass ich mir dieses schwitzige Event jetzt nicht unbedingt antun muss. Hier nimmt sie sich tatsächlich vollkommen zurück und tritt in den Dienst des zu interpretierenden Materials. Eine erstaunliche Wandlung. Ich bin beeindruckt.

    Dann "River" mit der britischen Soulsängerin karibischer Herkunft Corinne Bailey Rae. Vielleicht der zugänglichste, freundlichste Titel des Albums. Zugleich auch interessant, weil er - wie das Mitchell-Original mit einem Piano-Intro beginnt. Hancock jedoch nimmt die Akkorde auseinander, spielt mit den Einzeltönen in der modalen Zwischenwelt herum.

    Auf "Amelia" mit der brasilianischen Sängerin Luciana Souza war ich wegen deren vorangegangener Zusammenarbeit mit dem grandiosen Hermeto Pascoal besonders gespannt. Aber gerade der Titel (noch dazu von meinem Lieblings-Mitchell-Album "Hejira") konnte mich bislag noch nicht in dem Maße überzeugen.

    Dann gibt es einen Titel ("Tea Leaf Prophecy"), der von Joni Mitchell selbst gesungen wird. Und zwar sehr überzeugend. Dass die Frau in ihrem Leben wahrscheinlich so einige Quadratkilometer Tabakfeld weggeraucht hat, und man das auch hört, schadet dieser Art von Musik offenbar nicht. Das kunstvolle Vibrato am Ende der Zeilen jedoch - das selbst den Meister persönlich beeindruckte - empfinde ich irgendwie als unpassend. Der Reiz dieses Albums liegt für mich in dem Kontrast zwischen der ruhig atmenden Improvisationskunst der Jazz-Musiker und der kühlen Intellektualität dieser Songs.

    Eine besondere Stellung auf dem Album nimmt der Titel "The Jungle Line" am Ende ein, da er von Leonard Cohen nicht gesungen sondern eingesprochen wird. Da fehlt mir (jetzt noch) ein wenig der Zugang.

    Die Joni-Mitchell-Stücke "Sweet Bird" und "Both Sides Now" werden von Hancock und seiner Band in einer eigenen, instrumentalen Fassung vorgetragen. Sie sollen sich dennoch an den Texten entlang orientieren. Höchst ungewöhnlich für Jazz-Musiker. Hancock erzählt, er habe vor jeder Session seinen Mitstreitern eine Kopie der Texte in die Hand gedrückt und sie hätten sich zunächst versucht, in die Bilderwelt der Mitchell-Lyrik "hineinzudenken". Wie in einem Literatur-Seminar. Eines muss man ihnen ja lassen: Was sie an Bereitschaft zu Grenzüberschreitungen vom Hörer verlangen, sind sie offenbar auch selbst bereit, vorzulegen.

    Schließlich haben wir noch die Interpretation des frühen Duke Ellington-Stücks "Solitude" sowie das ganz herausragende "Nefertiti" - eine Wayne Shorter-Komposition und Titelgeber für ein Miles-Davis-Album von 1967. Anstelle des immer wiederkehrenden Trompete/Saxaophon-Unisono-Themas im Original wird auch hier eher eine spielerische Auflösung und Umordnung betrieben. Eine vorsichtige Aufnahme gewisser FreeJazz-Elemente ist ebenso erkennbar.

    So. Viel zu viel geschrieben. Aber ich hab' die CD dafür auch in den letzten Tagen bestimmt zehn, zwölf mal durchgehört. Es lohnt sich! Genau zum selben Termin (letzten Freitag) erschien übrigens auch das erste Album von Joni Mitchell selbst mit komplett neuem Material seit vielen Jahren. Hoffentlich nicht wieder so ein Murks wie "Taming the Tiger".

  • Vor 17 Jahren

    Sehr guter Post. Dank meinem Vater durfte ich zum Glück mit Jazz aufwachsen. :)

    Muss ich mir also holen...

  • Vor 17 Jahren

    ganz großes Kino!!! Der Mann ist und bleibt ein Genie
    Wer keine Ahnung von Jazz-Musik hat, es ist der perfekte Einstieg!
    Freu mich tierisch!

  • Vor 17 Jahren

    ach ja!
    "Taming the tiger" war kein murks sondern eine Demontage! :mad:

  • Vor 17 Jahren

    @Kukuruz (« Genau zum selben Termin (letzten Freitag) erschien übrigens auch das erste Album von Joni Mitchell selbst mit komplett neuem Material seit vielen Jahren. Hoffentlich nicht wieder so ein Murks wie "Taming the Tiger". »):

    Nee, definitv nicht! "Shine" ist ganz großes Kino - wird langsam Zeit für die "Laut"-Rezension ;)

  • Vor 17 Jahren

    freut mich, dass euch das album ebenso gut gefällt wie mir :-)

    kai

  • Vor 17 Jahren

    Mir bleibt nichts mehr außer: gekauft. ;)
    "The Shine" von Joni Mitchel kommt hoffentlich morgen an. Darauf bin ich äußerst gespannt, aber das nur am Rande, es ist schließlich Herbies Thread. ;)
    Und "uns Tina" ist wohl wieder im Geschäft, auch wenn sie nicht schwitzend und röhrend auf Herbies Album stimmlich loslegt. Obwohl und auch nur am Rande: ich mochte Tina recht gern, wenn sie schwitzte. :D
    Wie Herbie Hancock es geschafft hat, auch noch solche famosen Jungspunde wie Miss Bailey Rae und Norah Jones für die Micros zu gewinnen, ist schon eine famose Sache. Ich freue mich jedenfalls sehr drauf, es dürfte ein Hörgenuss allererster Sahne werden.

  • Vor 17 Jahren

    ich legs mir wohl auch noch mal zu, das klingt alles sehr gut .... und allgemein nur Gutes drüber gehört. Und auch wenns Hancocks Thread ist, vielleicht könnte man auf sie auch noch was näher eingehen: was empfehlt ihr von Joni Mitchell selbst? "Court and Spar"?

  • Vor 17 Jahren

    Hallo Eclipse! :)

    Ich empfehle "Hejira" (76). Mit dem stilistisch sehr prägenden Einfluss von Jaco Pastorius am (Fretless) Bass. Mein Top-Song ist "Coyote". "The Hissing of Summer Lawns" geht in ähnliche Richtung (Singer/Songwriter-Folk-Jazz), soll sogar noch besser sein. Ich muss es mir selbst erst noch zulegen. Ja, und "Blue" wird ja seit eh und je als so einer dieser essenziellen Singer/Songwriter-Klassiker gehandelt. Berechtigterweise.

  • Vor 17 Jahren

    Meine Empfehlung: "Night Ride Home"

    Die "stereoplay" schrieb seinerzeit dazu:

    Zitat (« Neben Mitchell und Klein agieren hier in eindrucksvoller Geschlossenheit lediglich der Perkussionist Alex Acuña und Bill Dillon als zweiter Gitarrist, vereinzelt kommen noch Vinnie Colaiuta am Schlagzeug und der Saxophonist Wayne Shorter hinzu. Bei fast allen Songs begleitet sich Joni Mitchell in der superb perkussiven Manier, die man seit "Hejira" kennt, auf der akustischen, bisweilen elektronisch verfremdeten Gitarre. Zusätzlich rhythmische wie atmosphärische Akzente setzen mehrfach aufgenommene Baßfiguren und Keyboards.
    Überragendes Plus dieses Albums sind allerdings die Melodien, deren Eingängigkeit und Attraktivität überrascht. Wann schon konnte man in den letzten Jahren einen Mitchell-Refrain mitsummen? Auf "Night Ride Home" kommen sie gleich zuhauf, in "Cherokee Louise" etwa, und noch zwingender in "Come In From The Cold", "The Only Joy In Town", schließlich in "Ray's Dad's Cadillac" - zweimal gehört, lassen sie einen nicht mehr los.
    Selbst die weniger refrainlastigen Kompositionen wie der Titelsong oder das mit einem Streicharrangement unterlegte "Two Grey Rooms" schmeicheln die feinen Melodien. Mit diesem Album beweist Joni Mitchell, daß sehr persönliche Popmusik eine großartige Sache sein kann. »):

    Dem ist nicht hinzu zu fügen.

  • Vor 17 Jahren

    Also, das klingt ja wirklich spannend ...

    In Martin Scorseses Musik-Doku "The Last Waltz" gibts übrigens - neben vielen anderen Leckerbissen - "Coyote" in einer Live-Fassung.