laut.de-Kritik
Jazz trifft Singer/Songwriter: Ein Album wie ein Film.
Review von Kai KoppWer auf diesem Niveau agiert, covert nicht einfach nur. Auf Herbie Hancocks "River: The Joni Letters" wird ergründet statt nacherzählt, weiter gegangen statt wiederholt und neu erfunden statt geklont. "Wir haben über die Stimmung eines jeden Songs geredet, als ginge es um einen Film. Überhaupt hat das Album eine sehr filmische Qualität", erläutert Hancock.
Schon der Opener "Court And Spark" ist ein Meisterwerk der Re-Interpretation. Das Gesicht des Songs strahlt einen mit souveräner Erhabenheit an, während Norah Jones' Mund die Geschichte von Court And Spark erzählt. Wayne Shorter bläst sein Horn wie gewohnt genial schön und setzt dem Song die Krone in Sachen Improvisation auf.
Die Messlatte liegt damit hoch, aber die restlichen Songs haben keinerlei Mühe, das Niveau zu halten. Erstklassiger Jazz trifft exquisites Singer/Songwritertum. Feine, sehr feine Sache!
In der benachbarten Schweiz hat Hancock sogar Tina Turner ausfindig gemacht, um mit ihr gemeinsam "Edith And The Kingpin" aufzunehmen. Nicht nur, dass es gut tut, Tina mal wieder singen zu hören. Die Welt wäre definitiv ärmer ohne diese Songadaption, die auf allen Ebenen überzeugt.
Das Instrumental von "Both Sides Now" tritt den Beweis an, dass Hancock und Konsorten den cineastischen Anspruch vollumfänglich einlösen. Grandios, wie die Herren die Stimmung ausloten. "Sogar wenn wir Instrumentalversionen der Songs spielen, geht es um die textliche Umgebung", ergänzt Hancock.
Apropos Herren. Neben dem bereits erwähnten Saxophonisten Wayne Shorter hat sich Herbie Hancock seinen langjährigen Gefährten Dave Holland (Bass), den Drummer Vinnie Colaiuta und Saitenzupfer Lionel Loueke ins Boot geholt. Allesamt erfahrene Garanten für erstklassige Jazzmucke.
Wenn deren Spielkunst auf die Kompositionen von Joni Mitchell und die Stimmen der Sängerinnen treffen, geschieht Unglaubliches: Lebendiger, das Leben atmender Jazz! Man hört, dass hinter jedem Song eine Geschichte steht, die erzählt werden will. Ein Film, der gedreht werden will und Gedanken, die ausgesprochen werden wollen.
In den Playback-Hängematten, die die Jazz-Eminenzen ausbreiten, lässt es sich entspannt und voller Emotionen singen. "River" mit Corinne Bailey Rae gelingt ebenso anmutig wie "Sweet Bird" (das zweite Instrumental) und "Tea Leaf Prophecy", bei dem Joni Mitchell herself den stimmlichen Part übernimmt. Die lange, ebenso poetische wie authentische Geschichte des Songs findet ihre Erlösung in einer filigranen Textvariante: "Wenn man ganz genau hinhört", so Hancock, "merkt man, dass Joni den richtigen Namen ihrer Mutter singt: Myrtle McKee statt Molly McGee".
Wissenswert in diesem Zusammenhang: Über den biografischen Hintergrund von Joni Mitchells Texten wurde viel spekuliert, Mitchells Mutter ist im Januar diesen Jahres gestorben, und der Song erzählt von einer mystischen Begebenheit aus dem Leben von Jonis Mutter, von Kriegsjahren und -wirren, und davon, wie es zu Klein-Joni kam.
Die spannende Frage in diesem Zusammenhang: Wie kam es überhaupt zum Konzept von "River: The Joni Letters"? Herbie und Joni sind alte Freunde, die sich seit fast 30 Jahren kennen. Zahlreiche Kollaborationen kennzeichnen den (gemeinsamen) Weg, der von Respekt und Wertschätzung gekennzeichnet ist. Auf die Idee kam allerdings Hancocks A&R-Chefin.
Sie war es auch, die als Produzenten Larry Klein, den zweiten Ehemann und Produzenten von Mitchells letzten Alben, vorschlug. Wenn der sich nicht gerade mit seiner aktuellen Gattin, der brasilianischen Sängerin Luciana Souza amüsiert, schraubt er an den Alben von beispielsweise Till Brönner oder Madeleine Peyroux herum.
"Ich liebe es, wie sich Luciana gegen Ende von 'Amelia' in das einmischt, was Wayne und ich spielen. Sehr Cool!", schwärmt Hancock über eben diese Luciana Souza. Grandios auch: "Jungle Line", bei dem Herbie fünf Minuten die Spoken Word-Narrationen Leonard Cohens solistisch untermalt. Die ganze Palette seines Improvisations-Könnens spielt Hancock hier aus. Ergreifend schön!
Neben den Mitchell-Songperlen haben sich auch zwei Instrumentals eingeschmuggelt, die nicht aus ihrer Feder stammen, aber viel mit ihr zu tun haben. "Nefertiti" hat mit der Vorliebe für die historische Figur der Nofretete zu tun. Und "Solitude" geht auf Duke Ellingtons "In My Solitude" sowie auf eine noch sehr junge Joni Mitchell zurück, die eine Version Billie Holidays hörte und dieses Erlebnis als prägendes Erlebnis bezeichnet.
Die Begeisterung über "River: The Joni Letters" ist ebenso groß wie die Neugierde, wohin Hancocks Weg noch führt. "'Bring nie etwas zu Ende', hat mir Miles einmal geraten. Ich habe das so verstanden, dass ich immer weiter an mir und meiner Musik arbeiten soll", plaudert Hancock. "Ich habe in letzter Zeit immer mal wieder mit Prince über ein gemeinsames Projekt geredet. Musikalische Herausforderungen gibt es noch genug".
11 Kommentare
Dass Jazz-Legende Herbie Hancock ein cooler Typ ist, dessen Reputation nicht einmal durch eine Sammlung rhythmischer Cocktails und bunter Melodiensträuße mit Gastauftritten diverser Popstars und -sternchen merklich geschmälert wird, hat sich ja schon herumgesprochen.
"River: The Joni Letters" ist ein Tribute-Album an die kanadische Singer/Songwriter-Künstlerin und das kreative Multitalent Joni Mitchell, die Ende der Sechziger zur Hippie-Hocharistokratie zählte, sich aber später - ähnlich wie ihr Landsmann Neil Young - eher durch einige sehr eigenwillige und künstlerisch hochgeschätzte Alben hervortat. Sie hatte schon immer eine starke Affinität zum Jazz - unter anderem gab es ein Kollaborations-Album mit keinem geringeren als Charles Mingus. Sie ist eine exzellente Lyrikerin. Und - das merkt man besonders, wenn man mal ein paar Interviews mit ihr gelesen hat - sie scheint auch eine schrecklich selbstgerechte Person zu sein.
Hancock (am Piano und als Kopf des Projekts) und seine Band (u.a. Wayne Shorter an den Saxophonen) spielten zehn Stücke ein. Allesamt - ganz und gar anders als auf dem Vorgängeralbum "Possibilities" - reduzierte, mattblau schimmernde Nachtstücke, die man sich am besten auch wirklich irgendwann gegen drei Uhr in der Nacht anhört. Beim spazieren durch eine regennasse Stadt vielleicht.
Vier Titel davon sind Bearbeitungen von Mitchell-Stücken mit mehr oder weniger prominenten Gast-Vokalistinnen. Gleich als Einstieg: "Court and Spark" (vom gleichnamigen Album 1974) mit Norah Jones am Mikrofon. In einem Jazz-Kontext, der sich am Stil der Miles Davis-Quintette der ersten Hälfte der 60er orientiert und ohne die gefällige Mellowness ihrer eigenen Erfolgsplatten, bildet die honigsüße Stimme der Norah Jones eigentlich einen reizvollen Kontrast zu den vorherrschenden Dissonanzen, Brüchen und Reibungen.
Ausgerechnet der nächste Titel "Edith and the Kingpin" gehört für mich zu den stärksten des ganzen Albums, obwohl ich bei dem die größten Befürchtungen und Vorurteile hatte. Wegen der Interpretin Tina Turner nämlich. Was ich von der gerade noch in Erinnerung hatte, ist das Plakat ihrer letzten großen Tour (um das Jahr 2000 herum) mit John Fogerty im Vorprogramm und der Gedanke, dass ich mir dieses schwitzige Event jetzt nicht unbedingt antun muss. Hier nimmt sie sich tatsächlich vollkommen zurück und tritt in den Dienst des zu interpretierenden Materials. Eine erstaunliche Wandlung. Ich bin beeindruckt.
Dann "River" mit der britischen Soulsängerin karibischer Herkunft Corinne Bailey Rae. Vielleicht der zugänglichste, freundlichste Titel des Albums. Zugleich auch interessant, weil er - wie das Mitchell-Original mit einem Piano-Intro beginnt. Hancock jedoch nimmt die Akkorde auseinander, spielt mit den Einzeltönen in der modalen Zwischenwelt herum.
Auf "Amelia" mit der brasilianischen Sängerin Luciana Souza war ich wegen deren vorangegangener Zusammenarbeit mit dem grandiosen Hermeto Pascoal besonders gespannt. Aber gerade der Titel (noch dazu von meinem Lieblings-Mitchell-Album "Hejira") konnte mich bislag noch nicht in dem Maße überzeugen.
Dann gibt es einen Titel ("Tea Leaf Prophecy"), der von Joni Mitchell selbst gesungen wird. Und zwar sehr überzeugend. Dass die Frau in ihrem Leben wahrscheinlich so einige Quadratkilometer Tabakfeld weggeraucht hat, und man das auch hört, schadet dieser Art von Musik offenbar nicht. Das kunstvolle Vibrato am Ende der Zeilen jedoch - das selbst den Meister persönlich beeindruckte - empfinde ich irgendwie als unpassend. Der Reiz dieses Albums liegt für mich in dem Kontrast zwischen der ruhig atmenden Improvisationskunst der Jazz-Musiker und der kühlen Intellektualität dieser Songs.
Eine besondere Stellung auf dem Album nimmt der Titel "The Jungle Line" am Ende ein, da er von Leonard Cohen nicht gesungen sondern eingesprochen wird. Da fehlt mir (jetzt noch) ein wenig der Zugang.
Die Joni-Mitchell-Stücke "Sweet Bird" und "Both Sides Now" werden von Hancock und seiner Band in einer eigenen, instrumentalen Fassung vorgetragen. Sie sollen sich dennoch an den Texten entlang orientieren. Höchst ungewöhnlich für Jazz-Musiker. Hancock erzählt, er habe vor jeder Session seinen Mitstreitern eine Kopie der Texte in die Hand gedrückt und sie hätten sich zunächst versucht, in die Bilderwelt der Mitchell-Lyrik "hineinzudenken". Wie in einem Literatur-Seminar. Eines muss man ihnen ja lassen: Was sie an Bereitschaft zu Grenzüberschreitungen vom Hörer verlangen, sind sie offenbar auch selbst bereit, vorzulegen.
Schließlich haben wir noch die Interpretation des frühen Duke Ellington-Stücks "Solitude" sowie das ganz herausragende "Nefertiti" - eine Wayne Shorter-Komposition und Titelgeber für ein Miles-Davis-Album von 1967. Anstelle des immer wiederkehrenden Trompete/Saxaophon-Unisono-Themas im Original wird auch hier eher eine spielerische Auflösung und Umordnung betrieben. Eine vorsichtige Aufnahme gewisser FreeJazz-Elemente ist ebenso erkennbar.
So. Viel zu viel geschrieben. Aber ich hab' die CD dafür auch in den letzten Tagen bestimmt zehn, zwölf mal durchgehört. Es lohnt sich! Genau zum selben Termin (letzten Freitag) erschien übrigens auch das erste Album von Joni Mitchell selbst mit komplett neuem Material seit vielen Jahren. Hoffentlich nicht wieder so ein Murks wie "Taming the Tiger".
Sehr guter Post. Dank meinem Vater durfte ich zum Glück mit Jazz aufwachsen.
Muss ich mir also holen...
ganz großes Kino!!! Der Mann ist und bleibt ein Genie
Wer keine Ahnung von Jazz-Musik hat, es ist der perfekte Einstieg!
Freu mich tierisch!
Hallo Eclipse!
Ich empfehle "Hejira" (76). Mit dem stilistisch sehr prägenden Einfluss von Jaco Pastorius am (Fretless) Bass. Mein Top-Song ist "Coyote". "The Hissing of Summer Lawns" geht in ähnliche Richtung (Singer/Songwriter-Folk-Jazz), soll sogar noch besser sein. Ich muss es mir selbst erst noch zulegen. Ja, und "Blue" wird ja seit eh und je als so einer dieser essenziellen Singer/Songwriter-Klassiker gehandelt. Berechtigterweise.
Meine Empfehlung: "Night Ride Home"
Die "stereoplay" schrieb seinerzeit dazu:
Zitat (« Neben Mitchell und Klein agieren hier in eindrucksvoller Geschlossenheit lediglich der Perkussionist Alex Acuña und Bill Dillon als zweiter Gitarrist, vereinzelt kommen noch Vinnie Colaiuta am Schlagzeug und der Saxophonist Wayne Shorter hinzu. Bei fast allen Songs begleitet sich Joni Mitchell in der superb perkussiven Manier, die man seit "Hejira" kennt, auf der akustischen, bisweilen elektronisch verfremdeten Gitarre. Zusätzlich rhythmische wie atmosphärische Akzente setzen mehrfach aufgenommene Baßfiguren und Keyboards.
Überragendes Plus dieses Albums sind allerdings die Melodien, deren Eingängigkeit und Attraktivität überrascht. Wann schon konnte man in den letzten Jahren einen Mitchell-Refrain mitsummen? Auf "Night Ride Home" kommen sie gleich zuhauf, in "Cherokee Louise" etwa, und noch zwingender in "Come In From The Cold", "The Only Joy In Town", schließlich in "Ray's Dad's Cadillac" - zweimal gehört, lassen sie einen nicht mehr los.
Selbst die weniger refrainlastigen Kompositionen wie der Titelsong oder das mit einem Streicharrangement unterlegte "Two Grey Rooms" schmeicheln die feinen Melodien. Mit diesem Album beweist Joni Mitchell, daß sehr persönliche Popmusik eine großartige Sache sein kann. »):
Dem ist nicht hinzu zu fügen.
Also, das klingt ja wirklich spannend ...
In Martin Scorseses Musik-Doku "The Last Waltz" gibts übrigens - neben vielen anderen Leckerbissen - "Coyote" in einer Live-Fassung.