6. Mai 2002
"Musik hat sich früher wichtiger angefühlt"
Interview geführt von Michael SchuhHallo Steve, Glückwunsch zum neuen Live Album von Marillion! Kaum einer hat ja an das Überleben der Band geglaubt. Wie denkst du heute über eure Höhen und Tiefen nach fast 20 Jahren Bandgeschichte?
Äh, machts dir was aus, wenn ich während des Interviews mein Frühstück mampfe? Ich hab eine lange Nacht im Studio hinter mir und bin erst um halb elf aufgestanden.
Nö, nur zu. Guten Appetit!
Tja, um auf die Frage zurückzukommen, der wesentliche Punkt ist wohl, dass wir versucht haben, uns über die Jahre musikalisch weiter zu entwickeln. Wenn wir "Anoraknophobia" gleich nach "SeasonsEnd" veröffentlicht hätten und jemand sagen würde, das klingt doch alles gleich, würde ich mir natürlich Sorgen machen. Aber wir machen das hier um zu experimentieren und Neues zu schaffen. Wir gehören immerhin zu den wenigen glücklichen Bands, die einfach ins Studio gehen und loslegen können. Wir sind nicht verpflichtet, in einer bestimmten Art mit einer vorgeschriebenen Instrumentierung Musik zu machen. Es ist einfach alles möglich, was wir innerhalb unserer körperlichen Grenzen erreichen können. Ich vermute, dass das natürlich auch für unseren musikalischen Geschmack gilt, hehe. Die Tatsache, dass wir uns einfach alles erlauben können und wir so frei sind, gibt mir ein gutes Gefühl.
Marillion scheinen heute ja eine ganz besondere Beziehung zu den Fans zu haben. Viele Leute, die euch in den 80er Jahren gehört haben, haben euch in den 90ern völlig aus den Augen verloren. Es muss doch ein wenig schmerzen, diesen Bekanntheitsgrad verloren zu haben und jetzt mehr oder weniger nur noch vor gut informierten Insidern zu spielen. Andererseits hat euch BBC vor kurzem eine Dokumentation gewidmet. Seht ihr ein Licht am Ende des Tunnels?
Das Konzept von Licht und Dunkelheit oder von Erfolg und Versagen hat meines Erachtens nur Bedeutung im Hinblick auf Geld. Wenn du mich fragst, ob ich gerne Millionär wäre und ein schickes Landhaus besitzen möchte, dann ist die Antwort natürlich: Ja, klar, wer will das nicht. Aber ich wache morgens nie mit dem Gefühl von Bitterkeit auf, weil keine zehn Ferraris in einer schönen Garage vor meinem Haus stehen. Es gibt sicherlich Leute, die das für ihre Selbstachtung brauchen. Aber so sind wir nicht drauf. Vor 100.000 Leuten zu spielen ist sicherlich etwas ganz anderes als eine Show vor 2.000 Leuten zu geben.
Du hast da auch ganz andere künstlerische Möglichkeiten, man könnte z.B. noch einen Konzertfilm drehen, was wir uns im Moment auf keinen Fall leisten könnten. Oder man könnte nach der Show noch ein Tässchen Tee mit dem Papst schlürfen wie Bono das tut. Aber das Gefühl, dass wir heute weniger Platten als vor 10 Jahren verkaufen..., man, so ist das eben im Leben. Man gewöhnt sich dran. Wenn wir jetzt wirklich pleite wären und wir den Insolvenzverwalter bestellen müssten, würde mich das ziemlich bekümmern. Im Moment geht es uns aber finanziell sogar wiederum deutlich besser als vor zwei Jahren. In diesem Sinne haben wir wohl das Ende des Tunnels erreicht. Wenn ich bewerte, was ich tue, denke ich nicht daran, wie viele Platten wir verkauft haben. Diese Zeit hat es mal gegeben, aber heute denke ich anders darüber nach.
Marillion sind im letzten Jahr mit "Anoraknophobia" zurück gekommen. Könntest du uns bitte noch mal den Titel erklären.
Anorak hat in England zur Zeit zwei Bedeutungen. Zum einen gibt es da das bekannte Kleidungsstück mit der großen Kapuze und dem Reißverschluss. Trainspotters tragen diese Dinger üblicherweise, wenn sie auf den Bahnhöfen oder wo auch immer stehen und die Zugnummern aufschreiben. Dann hat man angefangen, das Wort für Leute zu gebrauchen, die von irgendeiner besonderen Idee besessen sind, die man nicht direkt dem Mainstream zuordnen kann. Also nicht unbedingt Universitätsprofessoren, die ihre Gedanken zu Hause im stillen Kämmerlein ausbrüten, sondern Typen, die sich ein besonders außergewöhnliches Wissen draufgeschafft haben.
Die Leute haben unsere Fans schließlich auch als Anoraks bezeichnet, weil die meisten von ihnen ziemlich verrückte Marillion Anhänger sind. Die wissen einfach alles über uns. Wir wollten mit dem Titel nur klarstellen, dass es in Ordnung ist, ein Anorak zu sein. Was wäre die Welt ohne Anoraks? Es würde ohne diese gewisse Neugier keine Entdeckungen und keinen technischen Fortschritt mehr geben. Es gäbe keine große Kunst, wenn sich nicht irgendwer in seinem Zimmer einschließen würde, um über Jahre hinweg seiner privaten Obsession nachzugehen. Also ohne Anoraks gäbe es letztlich nichts, was der Rede wert wäre. Deswegen habe ich gesagt, lasst uns das Album "Anoraknophobia" benennen. Der Begriff besteht ja eigentlich aus den drei Worten Anorak No Phobia, also keine Angst vor einem Anorak.
Verstehe. Lass uns doch mal über das Finanzierungskonzept für "Anoraknophobia" sprechen. Als Ihr Euch entschieden habt, die Fans übers Internet anzuschreiben und Geld für die nächste Veröffentlichung zu organisieren, hattest du da nicht den Eindruck, dass das euer letztes Album sein könnte? Das war ja eine ziemlich gewagte Sache.
Na ja, wenn man von außen drauf schaut, sieht das sicherlich sehr ungewöhnlich aus. Aber ich möchte hier auch mal ein paar Dinge klarstellen. Zum damaligen Zeitpunkt lagen bei uns drei Plattenvertragsangebote auf dem Tisch. Wir haben sie uns angeschaut und uns entschlossen, sie in den Mülleimer zu werfen. Das war kein Akt der Verzweiflung, sondern wir wollten uns einfach bestimmte Freiheiten bewahren. Wir haben das Papier nicht vernichtet, weil wir das Geld nicht gebraucht hätten. Das Geld mussten wir dann wohl anders auftreiben. Wir haben das Geld schließlich auch nicht wie bei einem normalen Venture-Konzept aufgebracht und nach den üblichen Investoren gefragt.
Wir haben unsere Fans lediglich übers Internet angeschrieben und gefragt, "Was denkt ihr darüber, das nächste Album schon jetzt zu kaufen, obwohl es noch gar nicht existiert". Das Konzept bestand also darin, den Leuten zu vermitteln, im voraus für ein Album zu zahlen und zu bestellen und es am Ende von uns zugeschickt zu bekommen. Mehr haben wir eigentlich gar nicht getan. Und aus meiner Sicht war diese Vorgehensweise auch ziemlich risikolos. Unsere Fans hatten ja bereits die Amerika-Tour mit 60.000 US-Dollar mitfinanziert. Damals haben wir gemerkt, die Leute tun einfach alles für uns. Das war für uns das große Erwachen, als wir merkten, wie ehrlich sie es mit uns meinen und was wir ihnen bedeuten. Wir wussten also, dass wir den Fans ebenso viel Ehrlichkeit und Respekt schulden.
Als wir dann vor den Aufnahmen zum nächsten Album standen, war uns klar, dass wir eigentlich nur Geld brauchten und nicht unbedingt ein Label. Es hat sich dann fast von selbst ergeben, die Fans per e-mail anzuschreiben und sie nach ihrer Meinung zu fragen. Es ist einfach faszinierend, übers Internet 20.000 Leute so einfach nach ihrem Standpunkt fragen zu können, ohne dass es irgend jemand besonders viel kostet oder großen Zeitaufwand erfordert. Das Internet ist wirklich das denkbar beste Medium für Künstler wie uns.
Was hat euch überzeugt, zu diesem Zeitpunkt ein Live-Album zu veröffentlichen?
Also ich erwarte nicht, dass wir uns deswegen alle demnächst einen neuen Ferrari bestellen können. Wir haben das Live-Album gemacht, weil für uns das live Spielen genauso wichtig ist wie das Plattenmachen. Aber ein gutes Live-Album aufzunehmen, das wirklich die Atmosphäre eines Abends wiedergibt, war dieses Mal unser großes Ziel. Uns hat das schon immer viel Spaß gemacht, aber man kann das natürlich nicht andauernd machen, zumal es ja inzwischen eine irrsinnige Anzahl von Marillion Bootlegs gibt. Wir warten eigentlich immer so lange damit, bis es ausreichend neues Material gibt, so drei bis vier neue Studioalben. Der Zeitpunkt war jetzt einfach mal wieder gekommen. Außerdem gibt es so viel positive Energien in dem "Anoraknophobia" Album, dass wir dachten, es ist eine gute Sache, die Anoraknophobia Tour aufzunehmen. Wir sind sehr zufrieden mit dem Ergebnis.
Kannst du mal die Show im London Astoria bei der Tour im letzten Jahr beschreiben?
Das war wirklich einer dieser magischen und überraschenden Abende. Ich weiß nicht, was passiert ist oder woher es kam. Im Laufe der Jahre habe ich mir eine Menge Shows in London angesehen und natürlich auch selbst gegeben. Das Publikum hat an diesem Abend ganz außerordentlich reagiert. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Die Presse hat ja ausführlich darüber berichtet. Das Konzert wurde dann in einem englischen Musikmagazin von einem Journalisten als langweilig beschrieben. Ich hab ihm einen langen Brief geschrieben, weil mich das ziemlich verärgert hat. Es macht mir nichts aus, eine schlechte Kritik wegzustecken. Aber wenn etwas nachweislich so falsch wiedergegeben wird, regt mich das schon auf, weil es schließlich einer der besten Gigs unserer Karriere war.
Alle fünf von uns waren in der denkbar besten Form, und wir haben das auch alle so empfunden. Kommt eigentlich nicht so oft war, weil es immer jemanden gibt, der abends von der Bühne geht und sagt, oh man, dies und das hat heute nicht gestimmt. Aber an dem Abend hat jeder das gleiche von Anfang bis Ende gefühlt oder erlebt. Wenn du dann etwas liest, was das eigentliche Geschehen überhaupt nicht reflektiert, bist du ganz schön angepisst. Das ist aber auch ein gutes Beispiel dafür, wie unterschiedlich die Perspektive der Leute sein kann. Wie kann jemand in einem Raum mit 2.500 Leuten stehen, die völlig ausrasten, und hinterher schreiben, dass der Abend sehr uninteressant gewesen sei?
Warum habt ihr den Titel "Anorak in the UK live" für das neue Album gewählt? Klingt ein bisschen wie "Anarchy in the UK" von den Sex Pistols. Wollt ihr damit ausdrücken, eine kleine Revolution im Musikgeschäft angezettelt zu haben?
Ja, ein bisschen stimmt das wohl schon. Der Mainstream hat uns in den Medien in der Vergangenheit so weit marginalisiert, dass wir nach meiner Auffassung noch viel stärker dem Bereich der alternative music zuzuordnen sind, als die bekannten alternative bands. Wir bewegen uns völlig außerhalb des üblichen Geschäfts da draußen und machen unser eigenes Ding. Eine Menge Bands, die die 80er Jahre überlebt haben, gehen alle zwei Jahre nur noch auf Tournee und spielen ihre Hits vor Leuten, die nichts anderes wollen, als genau diese Songs noch mal zu hören.
Auf dieses Niveau haben wir uns nie begeben. Wir haben nicht einmal "Kayleigh" auf der letzten Tour gespielt. Wir wollen keine Nostalgietickets verkaufen. Wir möchten, dass die Leute kommen, weil es sie fasziniert, was wir tun, und nicht, weil es uns schon seit 20 Jahren gibt und sie das toll finden. Aber der Titel ist natürlich als Parodie auf "Anarchy in the U"K gemeint. Soll zum Lachen anregen.
Trotzdem könnte ich mir vorstellen, dass Johnny Rotten nicht gerade zu deinen Lieblingskünstlern gehört. Was für Musik hörst du dir an, wenn du dich außerhalb des Musikgeschäfts privat mit Musik beschäftigst?
Also es gab eine großartige Punkband, nämlich The Clash. Die haben wirklich gute Songs geschrieben. The Clash hatten zwar die Punk-Attitüde mit den entsprechenden Klamotten und Haarschnitten, und die Typen waren eine echte Ansammlung von rough and ready guys. Aber der Drummer Topper Headon war einer der besten überhaupt. Hin und wieder gehen solche tollen Bands aus einer Modebewegung hervor. Leider verkennen die Medien häufig, um was es dort eigentlich geht. Ich spreche hier als Musiker und nicht als Modestylist oder als Sozialkommentator.
Es geht hier um Musik. Es passiert den Medien zu oft, dass es sie mehr interessiert, wer welchen Haarschnitt hat und wer verhaftet wurde und wer an einer Heroin-Überdosis gestorben ist, weil das die Dinge sind, die sie gut verkaufen können. Eigentlich interessiert sie häufig nur der Schmutz. Aber darüber wird völlig vergessen, dass beispielsweise in der Punkbewegung eine so großartige Band wie The Clash entstanden ist. Mein eigener Musikgeschmack ist letztlich ziemlich breit gefächert. Aber um ehrlich zu sein, in der letzten Zeit hat es nichts gegeben, was mich umgehauen hat. Die letzte herausragende Platte, die ich gehört habe, war "Grace" von Jeff Buckley.
Das bringt uns zur nächsten Frage. Wenn man auf eurer Website surft, ist dort oft von dem zynischen Musikgeschäft die Rede. Unterstellen wir einmal, dass das Musikgeschäft nicht nur aus Klonen wie Britney Spears besteht. Andererseits geht es in diesem Geschäft ja auch ums Geldverdienen, und auch Marillion könnten ohne die Unterstützung von EMI nicht überleben. Was genau findest du zynisch an dem Geschäft? Ist Promotion der einzige Schlüssel zum Erfolg und nicht unbedingt Qualität?
Ja, ich glaube, das ist heutzutage leider so. Ohne Promotion gibt es keinen flächendeckenden Erfolg mehr. Und damit sind wir wieder beim Thema Geld und der Frage der globalen Dominanz. Ohne massive Promotion wüsste ich wahrscheinlich nicht einmal, wer Whitney Houston ist. Ich glaube nicht, dass ich auf Whitney Houston selbst gestoßen wäre. Das einzige was ich über sie oder Mariah Carey oder Jennifer Lopez weiß, ist das Konzept, das mich das Fernsehen und das Radio zwingen zu konsumieren. Globaler Erfolg ist in dieser Dekade nur noch mit der großen Marketing-Maschinerie denkbar. Das ist nicht immer so gewesen. Es hat bemerkenswerte Ausnahmen gegeben.
Das größte Beispiel ist wohl Greatful Dead, die in Amerika unglaubliche Erfolge gehabt haben und eigentlich nie ein Thema für das amerikanische Fernsehen waren. Man konnte noch nicht einmal etwas über Greatful Dead in den Musikmagazinen lesen, bis sie schließlich unübersehbar groß geworden waren. Es war für Künstler zu einer bestimmten Zeit also durchaus möglich, den Durchbruch zu schaffen. Oder nehmen wir Led Zeppelin. Das waren Giganten und hatten nicht einmal bei Top of the Pops gespielt. Die sind einfach durch Mundpropaganda groß geworden. Nach meinem Eindruck hat die Welt nicht mehr den gleichen großen Hunger nach neuer Musik. Musik hat sich früher wichtig angefühlt. Die Leute haben sich in den 70ern Platten gekauft, weil es sie irgendwohin tragen und sie verändern würde. Der Kauf einer neuen Platte war ein wichtiges Ereignis in ihrem Leben. Ich glaube, das sich nur noch wenige heute eine Platte mit so einer Einstellung kaufen. Aber vielleicht denke ich das auch nur, weil ich älter werde und den Kontakt ein wenig verliere. Ich hoffe, dass die jüngeren Hörer immer noch auf diese Art und Weise rausgehen und sich wichtige Platten kaufen, weil sie erkannt haben, dass es gut für sie ist.
Vielen Dank für das Interview.
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