2. Oktober 2003

"Wir bemitleiden Bands, die gehypt werden"

Interview geführt von

Das ist Dominic Howard, Drummer einer der eigenständigsten Bands, die England im Moment zu bieten hat. Dass er das genau so sieht, stellt sich bald heraus.

Ihr habt gestern ein tolles Fan-Konzert gespielt. War das eure Idee?

Ja. Wir haben seit über einem Jahr nicht gespielt und gestern war der dritte Gig unserer kleinen Tour. Wenn man ein Album veröffentlicht, muss man eine Menge Interviews und anderen Promo-Geschichten machen, und da wollten wir für uns ein kleines Warm-Up in kleinen Clubs geben. Die Fans sollten die Möglichkeit haben neue Songs zu hören. Alle Tickets wurden umsonst verlost. Wir wollten uns daran erinnern, wie es war in den kleinen Clubs. Wir hatten jetzt die längste Periode in der Geschichte der Band in der wir keinen Gig gespielt hatten. Ungefähr 13 Monate. Währenddessen haben wir ein relativ normales Leben geführt und das Album aufgenommen. Das ist so weit weg von dem verrückten und schnellen Lebensstil der letzten Jahre. In den kleinen Clubs sieht man die Gesichter der Leute. Da findet man eine Intimität, die in einer großen Halle nicht möglich ist, und das ist perfekt, um uns daran zu erinnern wie es ist, einen Gig zu spielen. Und es fühlt sich gut an! lacht

Wie sehr denkt ihr an das Publikum wenn ihr spielt? Wie sie auf euch reagieren, was sie in euch sehen oder was ihr für sie bedeutet?

Ziemlich viel. Man sieht Leute mit den verschiedensten Ausdrücken. Du siehst vorne Leute, die sich in der Musik verlieren. Leute, die wirklich aggressiv werden, und wieder andere, die nur starren, sich kaum bewegen und versuchen, zu verstehen, was da gerade passiert. Diese ganzen Gefühle nimmt man selbst mit an Bord. Das hilft einem, Energie auf der Bühne zu bekommen.

Ihr habt das neue Album präsentiert. Warum heißt es nun "Absolution" und nicht "Small Print"?

Es sollte eigentlich nie "The Small Print" heißen. Das waren nur Gerüchte. Den Namen "Absolution" wählten wir aus mehreren Gründen. Der Song "Sing For Absolution" ist über das Musikschreiben und das Musikmachen. Das kann auch eine Art von Absolution sein, aber nicht im religiös gemeinten Sinne. Absolution kann bedeuten, dass man eine Reinheit oder etwas Positives findet, durch Dinge, die man vielleicht nicht so ganz versteht, oder Dinge, die strange oder verwirrend sind, Dinge, die du zunächst als negativ ansiehst. Singen oder Musikmachen kann ein Weg sein, diese Dinge zu verstehen. Sie in einen Rahmen zu packen, der sie verständlich macht. Der erste Track "Apocalypse Please" ist ein sehr theatralischer Song über religiöse Fanatiker und ihren Wunsch, dass ihre Prophezeiungen wahr werden. Damit sie ihre Religion bestätigen können. Es gibt eine Menge moderne Religionen, die viele Prophezeiungen über das Ende der Welt haben und wirklich wollen, dass dies passiert. Das Ende der Welt ist ein ziemlich angsteinflößendes und beunruhigendes Ding. Es gibt eine Menge Songs auf dem Album, die über mögliche Dinge reden, die zu Ende gehen. Ob das jetzt das Ende der Welt ist, das einer Beziehung mit irgendjemand oder dein Job ist. So wie "Butterflies and Hurricanes". Es geht in dem Song darum, Hoffnung zu finden und gegen Sachen anzukämpfen, um das Beste aus diesen Situationen zu machen. Und das lässt sich wohl auch in Beziehung zu einer bestimmten Absolution setzen.

Auf eurem letzten Album ging es in den Texten meistens darum, in jemanden verliebt zu sein, von dem man nicht zurück geliebt wird. Nun ist es geht es eher um Verluste. Denke ich.

Ein Song wie "Falling Away" geht bestimmt um verlorene Erinnerungen und wie die Erinnerung sich davon schleicht und man einfach manche Dinge vergisst. Das kann aber gleichzeitig auch eine gute Sache sein, da es einem hilft, sich selbst zu entwickeln und zu verändern, wenn man das muss. Es gibt auch einige Liebeslieder wie "Endlessly". Es gibt eine Menge mehr umgreifende Songs wie "Time Is Running Out" oder "Hysteria", die eher ein abstraktes Bild zeichnen und zu vielen Sachen in Verbindung gestellt werden können, so wie "Time Is Running Out" bedeuten kann, Dinge zu ändern, zum Beispiel eine Beziehung, oder wie man sich gegenüber der Gesellschaft fühlt. Das sind eher generalistische Gebiete.

Ihr habt erzählt, dass euer neues Album von Momenten extremer Angst handelt. Dominic sagt nichts. Guckt mich verständnislos an. Ich weiß ja nicht, wer das war, vielleicht hast du das auch gar nicht gesagt ...

Ich weiß nicht so recht. Angst, hm, "Rule By Secrecy" handelt von Angst vor Leuten mit Macht oder Verantwortung. Angst, die man nicht so unter Kontrolle halten kann, so viel man dagegen auch ankämpfen mag. Ich denke aber nicht, dass man auf dem Album so viel Angst findet, es ist viel positiver und erhebend.

In einem Interview zum ersten Album habt ihr mal gesagt, dass ihr bei jedem Album immer mehr wagen wollt ...

Bevor wir gesignt wurden, waren wir einfach, wer wir waren. Drei Neunzehnjährige, die in den Keller gegangen sind, um für sich Musik zu machen. Ich denke "Showbiz" repräsentiert ganz gut, was für Leute wir damals waren. "Origin Of Symmetry" war sehr von unserem damaligen Lifestyle beeinflusst. Das ganze Touren und Reisen. Alles war damals sehr chaotisch, verrückt und schwer zu verstehen. Das Album wurde praktisch in jeder freien Minute geschrieben. Manche Songs wurden während Soundchecks geschrieben, und der ganze Aufnahme-Prozess fand inmitten von Touren statt. Das Album zeigt auch diesen konfusen Aspekt, was damals mit unseren Leben passierte und unseren Prozess der Veränderung. Dieses Mal war es wieder eher wie beim ersten Album. Wir haben uns eine Auszeit genommen und wollten ein Album machen, das mehr von einem persönlichen Gebiet von uns kommt. Wir hatten einen Riesen-Raum in London und sind dort einfach hingegangen, wann wir wollten. Wir hatten keine Verpflichtungen wie Konzerte oder Interviews. Wir sind nur in diesen Raum gegangen, um Musik zu machen. Das ganze Album klingt persönlicher und ist mehr von Alltags-Gefühlen beeinflusst. Ich denke, wir leben auch ein relativ normales Leben.

Ihr habt euch ein großes Orchester ins Studio geholt. Hattet ihr das Gefühl, dass ihr als Three-Piece nicht genug geben konntet?

Dominic sieht aus, als sei er sehr stolz auf diese Aktion Es gab ein paar Songs, die mit Streichern im Hinterkopf geschrieben wurden. Das haben wir auf dem zweiten Album auch schon probiert, dann aber nichts davon benutzt. Jetzt wollten wir mehr Streicher benutzen und dachten vielleicht so an achtzehn Leute. Dann war es aber ein ganzes Orchester. Wir wollten etwas Neues machen und es hat wirklich gut funktioniert. Bei den zwei Songs, bei denen wir die Streicher eingeplant hatten, "Blackout" und "Butterflies And Hurricanes", hat das auch sehr gut funktioniert. Wir haben das noch bei anderen ausprobiert, aber da hat es sich nicht gut angefühlt. Es wurde einfach zu klassisch. Es war nicht das richtige Feeling für die Songs. Deshalb haben wir auch den Producer gewechselt und mit Rich Costey gearbeitet. Wir hatten wieder einen minimalistischeren Anspruch an einige Songs. Danach haben wir uns wieder voll auf die Rock-Seite konzentriert, um diese "over-the-topness" der Streicher auszubalancieren.

Ich finde eure neuen Songs viel straighter als die letzten, die eher verschachtelt waren. War das beabsichtigt oder hat es sich einfach so entwickelt?

Das war einfach der Weg, wie die Songs dieses Mal funktioniert haben. Ich weiß es gar nicht wirklich ... "Butterflies" und "Blackout" waren die ersten Songs, die wir aufgenommen haben, und das sind wirklich komplexe Songs. Mit straighteren Stücken wie "Time Is Running Out" oder selbst "Hysteria" wollten wir das ausbalancieren. "Endlessly" zum Beispiel hat sich sehr verändert. Am Anfang war das mehr ein Rocksong, ein bluesy Riff. Dann haben wir beschlossen, ihn so einfach wie möglich zu machen. Weil es sich einfach so angefühlt hatte, wie der Song sein sollte. Er musste nicht extravagant sein.

Eure Single "Stockholm Syndrom" habt ihr über das Internet verkauft. In Deutschland hat das angeblich nicht so richtig funktioniert.

Überall sonst hat es das. In der Industrie wurde es als sehr großer Erfolg betrachtet, da es ein sehr neuer Weg war, eine Single zu veröffentlichen. Wir hatten eine neue Website gelauncht und wollten dazu noch einen neuen Song mitgeben. Es gab eine Menge Downloads, und wenn das Format Charts-relevant wäre, wäre es ein Top Ten-Hit gewesen. Es war einfach etwas, das wir tun wollten. Viele Leute kämpfen gegen Downloaden, aber wir sind alle daran schuldig. Ich tue es ja auch. Wenn man ins Netz geht und Musik runterlädt, ist das einfach ein guter Weg, neue Künstler zu finden, um Musik auszubreiten.

Denkst du, dass die Leute irgendwann dafür zahlen werden?

Das ist jetzt nicht aus dem Gesichtspunkt gesagt, dass wir damit kein Geld verdienen: Dinge umsonst zu bekommen, ist einfach zu einfach. Die Leute haben kein Problem damit, für Musik Geld zu zahlen, das machen sie schon seit einiger Zeit. Es geht nur darum, dafür auch im Internet einen akzeptablen Weg zu finden. Aber jetzt, wo Filesharing so groß geworden ist, zieht das auch einige Nachteile mit sich: der Sound ist manchmal sehr schlecht, und manchmal weiß man gar nicht so genau, was man da gerade herunter lädt. Ich hasse diesen shitty Sound. Wenn du zahlst, und dafür weißt, dass es dafür gute Qualität ist, kann es funktionieren. Schau dir Ipod an. Da zahlen die Leute 99 Cents für einen Track und gibt Millionen von Downloads.

Manche Künstler fürchten, dass damit das Album verloren geht. Dass man nur einzelne Songs kennt und nicht die ganze Reihenfolge, die sich die Band gedacht hat.

Wenn man anfängt, Musikdownloads zu kontrollieren, wie es bei I-Tune passiert, kann man das Album immer noch so präsentieren, wie es gemeint war. Außerdem wird das Internet immer schneller, und früher oder später wird man nicht mehr nur einen Song runterladen. Man wird einfach draufklicken und Buff, da ist das Ganze.

Ich denke immer, dass Muse immer sehr auf Perfektion aufgebaut ist. Alles was ihr macht, sieht immer sehr perfekt aus. Habt ihr keine Angst, dass die irgendwann mal nicht der Fall ist?

Ich denke nicht, dass alles was wir tun perfekt ist.

Wenn ihr auf der Bühne steht klingt es schon sehr straight und perfekt.

Das klingt für uns nicht so Lacht. Das ist wohl einfach, wie wir spielen. Aber ich denke auf keinen Fall, dass es zu perfekt ist. Es ist immer sehr spontan und energiegeladen. Wir haben immer die Musik gemacht, die wir machen wollen. Wir alle drei nehmen aber unser jeweiliges Instrument sehr ernst und analysieren uns selbst sehr viel. Das kann gut oder schlecht sein, aber meistens ist es eine Erfahrung, aus der man sehr viel ziehen kann und die auch deinen eigenen Stil verändern kann.

Wie viel Routine habt ihr über die Jahre bekommen? Ist es nicht manchmal langweilig?

Übung?

Nein, Routine!

Dominic schaut von seinem Fuß auf, der mit einem Coladeckel rumgespielt hat. Jetzt kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen: Nein! Wir spielen die Songs jeden Abend anders und haben nie eine völlig festgesetzte Show gespielt, die keinen Raum zum Atmen lässt. Es fühlt sich auch immer anders an, und genau darum macht man es ja weiter.

Ihr habt mal gesagt, dass ihr stolz drauf seid, nicht groß gehypt zu werden. Wie wichtig ist das für euch?

Es ist nicht wirklich wichtig, da wir inzwischen bei unserem dritten Album sind. Wir sind schon so etwas wie eine alte Band, da ist das Hypen langsam vorbei. Wir waren nie eine der coolen Bands. In der britischen Presse werden eine Menge Bands richtig aufgebaut. Da waren wir nie dabei, und das war wirklich gut. Ich denke, die Leute können das mit uns sowieso nicht machen. Denn wir fühlten uns immer sehr anders, verglichen mit allen anderen Bands.

Warum?

Weil niemand Musik wie wir macht. lacht. Wir waren nie an irgendeiner Szene beteiligt und wurden nie mit anderen Bands in einen Topf geworfen. Wir fühlen uns sehr unabhängig von irgendeiner Szene, irgendeiner anderen Band oder irgendeinem Style. Wir haben unsere eigene Identität. Ich habe wirklich Mitleid mit vielen Bands, die richtig gehypt werden, die offensichtlich in eine Kategorie abgeschoben werden. Dann muss man wirklich denken, dass man kaum Individualität hat. Ich bin mir sicher, dass sich das nicht gut anfühlt.

Wie bewahrt ihr eure Freiheit als Band? Fühlt ihr euch von irgend jemanden unter Druck gesetzt?

Nicht wirklich. Wir stehen unter keinem Druck. Wir haben alle musikalisch Freiheiten und die meisten Dinge unter unserer Kontrolle. Ich habe keine Ahnung, warum wir diese Freiheit als Band haben, vielleicht weil wir nie Angst davor hatten, etwas auszuprobieren. Wir haben uns immer von vielen verschiedenen Styles und Zeitaltern der Musik beeinflussen lassen und hatten nie Angst, musikalisch etwas auszuprobieren.

Haben sich eure Einflüsse über die Zeit verändert?

Äääähm, klar. Man von vielen Dingen beeinflusst. In der Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Album hat Matthew angefangen, viel mehr Klavier-Musik zu hören, wie Chopin oder Rachmaninow. Das war sicherlich ein massiver Einfluss darauf, wie die Band danach geklungen hat. Aber ich denke, es ist ein sehr schmaler Grat, diese verschieden Stile und Genres zu mixen und einen guten Song zu machen, der nicht wie ein abgewichster Prog-Rock-Song klingt. Aber darauf kommt es an, wenn man einen originellen Style finden will. Wir haben Einflüsse vom harten Rock bis zu Sachen, die schon Hunderte Jahre alt sind. Man versucht, das alles zusammen zu mixen. Das ist zwar sehr schwer, aber genau darin finden wir unseren Sound.

Ich hab in einem Artikel über euch gelesen, dass ihr mit euren After-Show-Partys Kontakt zum normalen gesellschaftlichen Leben bekommen wollt. Sind After-Show-Partys ein normales soziales Leben für euch?

Auf der letzten Tour haben wir haben eine Menge Leute getroffen und nach den Gigs immer viele Leute backstage eingeladen. Das war auch gut so. Wir hatten eine gute Zeit und haben dadurch Kontakt mit den Leuten bekommen, die gekommen waren, um uns auf der Bühne zu sehen. Das ist auf jeden Fall besser, als wenn man von allem um einem herum komplett abgeschottet ist. Wir hatten also eine Menge Partys. Das passiert einfach, wenn man eine Menge Leute in einem Raum hat, eine Stereo-Anlage und viel zu trinken. Freut sich und lacht. Das war gut, obwohl es auch etwas durcheinander war. Aber damals, back in those days, war es gut. Die Dinge waren sehr verrückt ...

Warum?

Drunk times on the road ... damals.

Also habt ihr heute keine Partys mehr?

Keine Ahnung. Das kann eben passieren, wenn man für eine lange Zeit tourt. Man kann wirklich sehr gelangweilt werden und muss das mit Partys ausgleichen. Aber wer weiß, was nächstes Mal passiert. Wir haben seit einiger Zeit nicht getourt, wir wissen nicht, was dieses Mal passiert. Vielleicht ist es ein sehr cleanes Leben und wir fangen an, Kathedralen wie die da drüben (zeigt auf den Kölner Dom, auf dem er schon zweimal war) schätzen zu lernen. Oder es wird wieder eine wilde, crazy Zeit. Vielleicht beides. lacht

Vielleicht!

Das Interview führte Vicky Butcher.

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