14. September 2006
"Ich finde MySpace ein wenig geschmacklos"
Interview geführt von Michaela PutzMorgen erscheint das neue Napalm Death-Album "Smear Campaign". Im Interview mit laut.de erweist sich Mastermind Mark 'Barney' Greenway als Idealist, der keinerlei Angst davor hat, anzuecken.Der Napalm Death-Frontmann ruft mich gut gelaunt an, entschuldigt sich einige Male für die Verspätung und zeigt sich äußerst gesprächsbereit. Bald philosophiert der Mann am anderen Ende der Telefonleitung über dies und jenes - von gängigen Moralvorstellungen über Gott bis hin zu freiem Denken und Tierschutz. Auch über Jesse Pintado, den ehemaligen Napalm Death- und Terrorizer-Gitarristen, unterhalten wir uns. Der ist drei Tage nach unserem Gespräch plötzlich gestorben.
Hallo Barney, wie geht es dir?
Mir geht es gut. Und dir?
Danke, mir auch. Lass uns über euer neues Album "Smear Camapign" reden. Worum geht es darin?
Das muss man ein wenig erklären. Größtenteils geht es darin um Religion. Es gibt natürlich viele Alben und viele Bands, die versuchen, sich mit diesem Thema zu befassen. Was ich jedoch versucht habe, ist, nicht auf gewöhnliche Weise damit umzugehen. Ich wollte etwas betrachten, worin die Religion einwirkt: Das ganze Konzept der Moral. Man muss bedenken, dass unser Moralsystem in der Religion begründet liegt. Das ist schon Tausende Jahre her. Damals wurde so das Zusammenleben geregelt. Wenn man etwas Ketzerisches tat, etwas, das dem Wort Gottes widersprach, führte das zu Exkommunikation, Folter, Tod. Diese Moralvorstellung lebt teilweise noch immer in uns weiter. Und sogar Menschen, die sehr offene Denker sind, versuchen, nach ihnen zu leben. Für mich ist das ziemlich unheimlich. Das alles klingt zwar sehr unschuldig, aber schau, was ist Moral? Sie ist eine Art Mantel.
Moral als Konstrukt?
Ja. Durch sie bekommt man eine Vorstellung von Unmoral. Und ab hier gibt es Leute, die nicht konform gehen. Das Problem daran ist, wenn du nicht nach der Moral gehst, bist du weniger wichtig, weniger zugehörig als Person. Du bist weniger ein menschliches Wesen, weil du für unmoralisch gehalten wirst. Sieh dir die Probleme an, die wir im Moment in der Welt haben. Das geht schon in Richtung moralische Verurteilung. Wir sagen, diese Menschen sind anders als wir, deshalb sind sie unmoralisch. Wir behaupten, wir sind im Recht, nicht sie.
Wenn man darüber nachdenkt, ist das die Basis vieler Probleme. Und wenn du jetzt diese Moralvorstellungen zurück verfolgst zu den Anfängen der Religion ... Was ist Religion? Sie ist Mythologie. Keine ihrer Grundsätze konnte je überprüft werden. Es gibt keinen Beweis, der irgend eine Religion auf der Welt belegen würde. Religion ist fest verankert und ein funktioneller Teil unserer Welt. Und das, obwohl sie ein Mythos ist (lacht). Die Bibel ist eine großartige Geschichte. Und das ist alles, was sie ist. Sie ist wahrscheinlich eines der besten Bücher, aber sie ist eine Geschichte.
Durch die Bibel wurde ja einfach auch das damalige Zusammenleben geregelt, wie es heutzutage Gesetze tun.
Ja, genau. Ich meine, lass uns ein wenig darüber hinaus gehen und uns eine Alternative überlegen. Ich persönlich, ich glaube an die Evolutionstheorie. Wir menschliche Wesen – ich, du, jeder andere – wir sind sehr komplexe Maschinen. Wir sind lebende, arbeitende Maschinen. Obwohl wir aus Knochen, Muskeln und so fort bestehen. Wir sind menschlich, trotzdem sind wir Maschinen. Der Punkt ist, wenn wir so komplex sind, haben wir absolut die Möglichkeit, für uns selbst zu denken. Dafür gibt es keine Frage. Wenn wir also diese moralischen Barrieren aus unseren Leben entfernen, wenn wir uns selbst verstehen und für uns selbst denken, verstehen wir auch andere Menschen besser. Und ohne diese Barrieren würde es mehr Frieden, mehr Harmonie geben und wir hätten mehr Selbstvertrauen. Dann erkennen wir, dass wir unsere Existenz vor niemandem rechtfertigen müssen, der gar nicht existiert.
Da fällt mir die USA ein, wo viele die Evolutionstheorie negieren.
Das ist etwas, das wir auch auf dem Album behandeln. Sie versuchen, Wissenschaft und geprüfte Theorien vom Programm zu stoßen und zu widerlegen. Das ist lächerlich. Ich finde das unglaublich. Und viele Leute akzeptieren das einfach.
Ihr habt euch also wieder sehr schwieriger Themen angenommen.
Ja, das stimmt. Aber ich hatte nie Angst vor so etwas. Und das werde ich auch nie haben (lacht).
"Wir Menschen haben die Möglichkeit, für uns selbst zu denken."
Auf dem neuen Album habt ihr euch eine Gaststimme ins Boot geholt.Ja, Anneke [Van Giersbergen, The Gathering-Sängerin, Anm.d. Red.].
Warum habt ihr sie ausgewählt?
Ich denke, Gastsänger einzubringen hängt immer von den Tracks ab. Als ich die Songs schrieb, auf denen Anneke nun zu hören ist, hatte ich diese speziellen Parts schon beabsichtigt. Was ich jedoch zuerst probierte, war, diese Stellen selbst zu singen und eine Frauenstimme nachzuahmen. Denn das ist etwas ganz anderes. Who's the man? (lacht). Und weißt du was? Beängstigenderweise hat es funktioniert!
Tatsächlich?
Ja, es funktionierte! Als wir uns das noch mal angehört haben, haben wir jedoch gefühlt, dass es noch mehr Dynamik benötigte. Und etwas mehr Soul, wenn du das so nennen möchtest. Und wir überlegten, was wir tun könnten, wen wir uns da holen könnten. Und dann sagte ich: Anneke von The Gathering! Und es schien perfekt. Wir sandten ihr den Track zu und das wars.
Sie hat sofort zugestimmt?
Ja. Und das wirklich Gute daran ist, sie ist jetzt eine weitere Freundin. Wir haben sehr viel miteinander geredet. Und sie wird kommen, wenn wir in Holland spielen. Ich freue mich schon darauf.
Glaubst du, mit deiner Musik etwas verändern zu können? Kennst du Leute, die aufgrund eurer Musik ihren Lebensstil geändert haben?
Ich glaube nicht, dass ich mit meiner Musik die Welt verändern kann. Aber: Wir sind eine kleine Stimme in einer Schar kleiner Stimmen. Und je mehr kleine Stimmen es gibt, desto größer wird die Stimme. So einfach ist das. Die Selbstgefälligkeit hindert die Menschen daran, etwas zu tun. Sie denken 'Ach ja, das ist ein Problem, aber ich habe Besseres zu tun' und blablabla. Das ist die Gefahr. Deshalb: Eine kleine Stimme ist eine kleine Stimme.
Es kommen Kids zu uns und sagen, sie haben durch unsere Alben so viele neue Fakten bekommen. Es gibt so viele Verse, mit denen sie sich identifizieren können. Sie checken es dann für sich selbst ab. Und lass uns die andere Seite ansehen, also Leute, die nicht damit einverstanden sind, was ich sage. Egal, ob sie einverstanden sind oder nicht: Sie denken! Sie hören etwas, dass mal nicht von den großen Jungs dieser Welt kommt und das sie als erwiesen annehmen.
Du warst mit Napalm Death am Poster einer PETA-Kampagne gegen Vivisektion. War das deine Idee?
Es war die Organisation PETA, die uns angesprochen hat. Und wir haben es dann einfach gemacht. Ich meine, es gibt immer mehrere Möglichkeiten und Perspektiven, etwas zu betrachten. Aber bei Vivisektion ist das etwas anderes. Ich meine, man macht Experimente mit Affen weil sie nahe Verwandte des Menschen sind. Jedoch sind sie nur nahe Verwandte. Aber nicht nah genug. Es gibt einen Grund dafür, dass ein Affe so lebt, wie er lebt. Und es gibt einen Grund dafür, dass der Mensch so lebt, wie er lebt. Wir sind nicht gleich und wir funktionieren auch nicht gleich. Wir haben uns einfach anders entwickelt. Es gibt sehr unterschiedliche Ergebnisse, wenn man entscheidende Arzneien testet. Solche Tests können keine beweiskräftigen Ergebnisse liefern. Es starb beispielsweise ein Typ in den USA an einer Arznei, die an Tieren getestet wurde. Es trat ein Nebeneffekt auf, den man so nicht voraussehen konnte. What the fuck!
In unserem letzten Interview hast du erzählt, du dächtest darüber nach, ein Buch über Menschenrechte zu schreiben. Was wurde aus dieser Idee?
Ja ja, da waren eine Vielzahl an Dingen, die ich tun wollte und aus denen noch nichts wurde (lacht). So viele Dinge schwirren mir im Kopf herum, aber ich bin eben so beschäftigt. Doch ich habe immer die besten Absichten, nur später denke ich dann 'Oh Gott'. Aber ich werde das noch machen. Ich bin sehr entschieden in den Dingen, die ich tue. Ich stoße immer vorwärts und bin ein sehr positiver Mensch. Es gab Zeiten in meinem Leben, wo ich nicht so positiv war. Aber manchmal muss man durch negative Zeiten gehen, um das Positive zu erreichen.
"Man fliegt mich ein und gibt mir was zu essen. Das ist cool!"
Ich habe Napalm Death auch auf MySpace gefunden. Was hältst du von dem Portal? Ist es eine gute Möglichkeit, in Kontakt mit eigenen Fans zu treten?Hmm. Es gibt eine große Anzahl an 'Friends' da draußen. Das ist das Gute dran. Aber eigentlich ist mir das Ganze auch etwas suspekt. Ich bin allerdings nicht wirklich involviert in das MySpace-Ding. Irgendwie finde ich es etwas geschmacklos.
Viele junge Bands nutzen MySpace auch, um bekannt zu werden.
Ja, es ist etwas schwierig für Fans. Es gibt so viele Bands da draußen. Ich möchte niemanden kritisieren. Manche Bands, auf die ich gestoßen bin, waren so ... na ja (lacht). Aber eigentlich möchte ich nichts darüber sagen. Denn ich glaube daran, dass sie überzeugt davon sind, was sie machen.
Heute gibt es so viele Bands, die extreme Musik machen. Ihr seid jedoch noch immer eine Kultband. Wie erklärst du dir das?
Einfach dadurch, dass wir die ganzen Jahre überdauert haben. Es gab oft Zeiten, in denen wir einfach hätten aufhören können. Wir sagten uns aber immer, wir wissen, dass es schwierig ist und wir kennen diese Schwierigkeiten auch. Wir haben entschieden, dass Napalm Death nur dann enden würde, wenn wir uns dazu entschließen sollten. Nicht wegen äußerer Einwirkungen.
Was denkst du über die jüngsten Entwicklungen in der Metalszene? Gibt es Bands, die dich beeinflussen könnten und gibt es Entwicklungen, die du nicht begrüßenswert findest?
Also, mein Einfluss ist noch der gleiche wie vor fünfzehn, sechszehn, siebzehn Jahren. Wir haben das traditionelle Zeug, aber wir bringen auch Neues ein. Obwohl mein Einfluss schon so alt ist, denke ich doch, dass das neue Album frisch klingt. Aber wenn du auf die Riffs hörst, hörst du zum Beispiel Celtic Frost und andere heraus. Ich könnte dir eine lange Liste geben. Ich habe sie schon vielen Leuten gegeben (lacht). Mein Einfluss ist ein traditioneller. Ich würde aber nie etwas gegen neuere Entwicklungen sagen. Denn ich hoffe für diese Musiker, dass sie am Ende des Tages sagen können, dass sie Musik machen, weil sie die Musik lieben. Dass sie nicht nur von Geld getrieben sind. Musik zu machen ist etwas Gutes, ich versuche, die Leute nicht zu kritisieren. Sie machen ihr Ding, und ich glaube wirklich, dass es gut für sie ist.
Was hältst du vom neuen Terrorizer-Album?
Ich habe es einmal gehört, aber es ist mir zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich reingelaufen. Dennoch sage ich: Gut für Jesse. Ich wünsche ihm das Beste. Denn wir bleiben noch immer Freunde. Von meiner Seite aus auf jeden Fall und ich denke, auch von seiner. Ich wünsche ihm das Beste. Ich hoffe für ihn, dass alles klappt, was er tut. Er hat ja viel zu tun mit Terrorizer und so.
Euer Basser Shane ist ebenfalls in einige Nebenprojekte involviert [u.a. Brujeria, Venomous Concept, Anm.d.Red.].
Ja, er ist ein sehr produktiver Kerl. Es ist großartig, denn er ist generell ein sehr enthusiastischer Musiker. Er hat mir seine Songs für "Smear Campaign" gegeben, sechs Monate bevor wir das Album gemacht haben. Es hat mich richtig weggeblasen.
Hast du eigentlich ein Nebenprojekt?
Nein. Es gibt immer wieder Möglichkeiten, als Sessionmusiker zu arbeiten. Ich bin zum Beispiel am neuen Album von Born From Pain beteiligt. Wenn mich irgendjemand fragt, mache ich das einfach. Die fliegen mich ein, geben mir was zu essen und zum Übernachten. Das ist cool.
Wie ist es, nach so langer Zeit noch zu sehen, wie die Leute auf euren Konzerten abgehen?
Oh, das ist großartig. Wir versuchen immer, jeden Gig so zu spielen, als wäre es unser letzter. Ich genieße es wirklich. Wir reden auf der Bühne auch immer über alles Mögliche mit dem Publikum. Und die Leute hören zu. Sie sind nicht immer mit allem einverstanden was wir sagen. Aber wenigstens denken sie darüber nach.
Stell dir bitte einmal vor, du wärst nie Musiker geworden. Was oder wer wärst du heute?
Ich würde wahrscheinlich in irgendeiner Form der Gemeinschaft dienen. Großes Geld zu verdienen würde mir nicht liegen. Ich denke, ich wäre Sozialarbeiter oder so.
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