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Reyhan Şahin- "Amazonenbrüste"

Worum gehts?

Eine Frau bekommt eine Diagnose: Bei dem Knoten, den sie in ihrer Brust ertastet hat, handelt es sich um einen bösartigen Tumor. Es folgen Untersuchungen, Chemotherapie, OPs, das volle Programm. Mit diesem Buch lässt die Autorin teilhaben: an ihrer Todesangst, ihrer Verlorenheit in den Mühlen des Gesundheitssystems, der Hilflosigkeit, dem Sich-ausgeliefert-Fühlen. Als prekär verdienende Selbständige, die darauf angewiesen ist, zu arbeiten, ergo zu funktionieren, kommt noch die pure Existenzangst dazu, obendrein die Notwendigkeit, den eigenen Gesundheitszustand vor der Öffentlichkeit möglichst zu verschleiern.

Diesen ganzen Struggle bekommen wir aus der Perspektive einer Wissenschaftlerin (und, ja, auch Rapperin) mit migrantischer Biografie und einer Vorgeschichte als Depressionspatientin erzählt, sehr, sehr mitreißend, ultrapersönlich und, obwohl das angesichts der Schwere des Themas durchaus nachvollziehbar gewesen wäre, kein bisschen wehleidig. Im Gegenteil: Der Erfahrungsbericht klingt unprätentiös und selbstironisch, gerät stellenweise sogar witzig. Vor allem benennt er, was in einer bedrohlichen Situation besonders zählt, was buchstäblich überlebenswichtig wird: professionelle Betreuungsstrukturen, Empathie, Solidarität und Freundschaft.

Wer hats geschrieben?

Reyhan Şahin ist studierte Linguistin, sie beschäftigt sich mit dem Islam, Migrations- und Genderthemen. Ihre Promotion beleuchtete die Bedeutung des muslimischen Kopftuchs. Sie forscht und lehrt interdisziplinär in Berlin, wo sie gerade erst eine einjährige Gastprofessur für Kulturwissenschaften an der Universität der Künste angetreten hat. Sie hat mehrere Bücher verfasst, hält Vorträge und gibt Workshops. Darüber hinaus war und ist sie als Schauspielerin und Modedesignerin tätig.

Ihre aktive Zeit als Rapperin liegt schon eine ziemliche Zeit zurück. Lady Bitch Ray hatte keineswegs den übermächtigen Impact und nie den Legendenstatus, den sich Şahin gerne selbst attestiert, dazu war sie, pardon, als MC einfach zu medioker und als Person zu anstrengend. Womit sie allerdings Recht hat: Sie hat drastischen, sexpositiven, feministischen Rap auf Deutsch gemacht, bevor irgendjemand auch nur ahnte, dass soetwas überhaupt existieren könnte.

Wer solls lesen?

Im Grunde alle, die sich, aus welchem Grund auch immer, dafür interessieren, wie sich von Brustkrebs betroffene fühlen. Patientinnen, die Şahins Diagnose teilen, und Personen in deren direktem Umfeld sind natürlich besonders angesprochen. Ihnen gibt dieses Buch zum einen das tröstliche Gefühl, nicht der einzige Mensch in einer wahrlich beängstigenden Lage zu sein. Zum anderen verschafft es einen Eindruck von Abläufen, Diagnose-, Behandlungs- und Reha-Maßnahmen und zeigt, welche Anlaufstellen und Hilfsabgebote es gibt. Orientierung in der Not: unbezahlbar. Besser die Finger von diesem Buch lassen sollte alle, denen es um Lady Bitch Ray rein als Rapperin geht: In den Passagen, in denen sie über ihre musikalische Karriere schreibt, übertreibt Şahin wieder einmal gnadenlos ihre Rolle und ihre Legacy und schiebt die Schuld daran, dass sie nie durchgestartet ist, allen anderen zu, nur nicht sich selbst. Zum Glück bleiben diese Stellen aber dünn gesät, so dass sie den positiven Gesamteindruck kaum stören.

Das beste Zitat:

"Mit heftigsten Magenschmerzen und auf 500er-Novaminsulfon-Schmerztabletten ging ich nach der letzten Chemo zur Nachuntersuchung ins Brustzentrum. Göttin sei Dank war heute Dr. Bruns da! Während ich mich auf die Liege legte, erzählte ich ihr von meiner Polyneuropathie, die noch schlimmer geworden war. Inzwischen krabbelten in regelmäßigen Abständen eine gefühlte Million von Ameisen über meine Arme und Beine. Das Kribbeln machte mich waaahnsinnig. Dr. Bruns blickte mich so verständnisvoll an, während sie meine Brust inspizierte, dass ich einfach weiterredete. Ich erzählte von meinem Nasenbluten und meinen Magenschmerzen, dem Durchfall, der immer wiederkam, meinen Geschmacksveränderungen, meiner unendlichen Müdigkeit ... Auf einmal hielt Dr. Bruns inne. 'Frau Şahin ...', unterbrach sie mich. Ich reagierte nicht. OMG! 'Frau Şaaahin ...', wiederholte sie lächelnd. 'Nein!', antwortete ich erschöpft. 'Doch!', sagte Dr. Bruns. 'Es ist nichts mehr zu sehen im Ultraschall. Ich sehe zwar etwas, genau an der Stelle des Metallclips, aber das ist, denke ich, die Narbe.' 'Eine Narbe', fragte ich aufgeregt. 'Ja, die Chemo hinterlässt Narben. Sie müssen sich die Chemo vorstellen wie einen Brand - und danach bleiben eben Brandnarben. 'Ist die Kastanie also weg?' Ich kämpfte mit den Freudentränen. 'Ja, der Tumor ist nicht mehr zu sehen.'"

Wertung: 4/5

Text von Dani Fromm

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