Gegenposition
Ich zitiere einfach mal den langen Facebook-Post von Phillip Gässlein dazu, der - weil er keine dummen Diskussionen anfangen wollte - nicht teilbar ist. Trotzdem dürfen wir verbreiten, weil seine Argumente den Kern der Sache sehr gut treffen. Danke für's verwenden lassen!
"Wow. Wissenschaftliche Herangehensweise an Jugendkultur: Copy&Paste, dann Word-Wörterzählung anwerfen, Statistiken erstellen. Völlig ohne Kontext.
Ich lass mich mal nicht über die "Es geht auch ohne" Kategorie aus, die überdeutlich nicht mal alle Songs der Diskografien erfasst, sondern lediglich Studioalben - wenn überhaupt (wer auf den sieben Studioalben von Fiva Sexismus entdeckt, ohne den Kontext, dass sie sich darüber ärgert, der möge mich bitte benachrichtigen). Blumentopf und Fanta 4 haben gemeinsam gefühlt 50 Alben veröffentlicht und sollen weniger als 46 Songs ohne sexistische Begriffe haben? Scherz?
Aber nehmen wir OG Keemo. Wird mit 65% hier in der Champions League des Sexismus erwähnt - ich kenne nicht seine ganze Diskografie, zugegeben, aber ich kenne keinen einzigen (!) Song, in dem das Wort "Bitch" an eine Frau adressiert ist. Und hier liegt das grundlegende Verständnisproblem: Bitch ist nicht gleich Bitch. Kool Savas ist nicht Edgar Wasser. Rap hat ein super breites Spektrum, in dem "Bitch"
- als Schimpfwort für den (männlichen) Gegner eingesetzt wird, dem damit weibisches Verhalten unterstellt wird, was natürlich sexistisch ist - aber indirekt.
- als Schimpfwort für Frauen eingesetzt wird, insbesondere für Frauen die einem überhaupt nicht - oder viel zu schnell - gefügig sind - klar sexistisch, direkt.
- genutzt wird, um sich über andere Rapper und deren Ausdrucksweisen lustig zu machen. Satire. Main Concept, Eins Zwo, Edgar Wasser.
- als generelles Schimpfwort genutzt wird - Mein Leben ist ne Bitch, Karma ist ne Bitch, Emotionen sind ne Bitch. Da hat sich das Schimpfwort, genau wie im amerikanischen, inzwischen völlig von seiner originären Bedeutung verabschiedet und fungiert einfach nur noch als Äquivalent zum "Arschloch".
Mir fällt spontan der Text von Fatoni ein: "My Life is a bitch? / Stimmt aber nicht. / Ich mein', ich muss arbeiten gehen, um es zu finanzieren / demnach bin die Bitch doch einfach ich!" Ohne journalistische Sorgfalt - und es besteht aufgrund den Hinweisen in der Sektion, wie gearbeitet wurde, kein Hinweis darauf, dass diese gewahrt wurde - wird das einfach als sexistisch abgekanzelt. "Life's not a bitch, life is a beautiful woman, you only call her a bitch because she won't let get you that pussy" ebenfalls, von Aesop Rock.
Hip Hop war und ist ein Spiegelbild der Gesellschaft, das hat ihn als wichtigste sozialkritische Jugendkultur den Punkrock ablösen lassen. Deutscher Rap führte bis zur Jahrtausendwende ein Nischendasein (warum schreibt man das eigentlich nicht mit ie? Spricht man doch wie Biest, nicht wie Fisch??), wo quasi nur gelangweilte bekiffte Gymnasiasten ihre anerzogene Wortgewandtheit zum besten gaben, weil sie Englisch gut genug verstanden, um die lyrischen Strukturen zu blicken. No Offense an dieser Stelle - ich war ja einer davon. Seit 2000 ist deutscher Rap dahin gewandert, wo er international immer war: Problembezirke, wo unterprivilegierte, verarmte Kids ohne legale Aufstiegschancen auf ihre Lebenssituation hinweisen. Und dort werden Frauen nunmal nicht so hoch geachtet wie unter Doktoren der Kulturanthropologie.
Hat deutscher Rap also ein Sexismusproblem? Jep. Massiv. In genau dem üblen Maß, wie es die deutsche Gesellschaft hat. Es gab Texte in den letzten 10 Jahren, bei denen mir schlecht geworden ist, und ich habe mich früher beruflich sehr stark und später auch in schwachem Maß wissenschaftlich damit befasst.
Das macht aber nicht deutschen Rap zum Bösewicht. Das ist der gleiche idiotische Ansatz wie bei Killerspielen. Das ist die Crux, wenn du so sehr im Mainstream ankommst, dann selbst Spiegel und Welt sich mit dir beschäftigen - sonst hätten wir diese Debatte längst über Punkrock geführt oder würden mal den Granden der Reggaeszene bezüglich ihrer Einstellung zur Homosexualität auf den Zahn fühlen. In einer an Langweiligkeit nicht zu überbietenden Argumentationskette ist immer irgendjemand Schuld an der Verrohung der Jugend. Jazz, Gitarrenmusik, Negermusik, Computerspiele, Kino, LoveParade, Privatfernsehen. Hauptsache nicht die Tatsache, dass dutzende Prozente der Deutschen von armen Deutschen ohne Bildung geboren werden, in Armut und ohne nennenswerte Bildung aufwachsen und wiederum Kinder zeugen, deren Perspektive Armut und mangelnde Bildung ist.
Ein maßgeblicher Unterschied zwischen unserer tollen demokratischen und liberalen Gesellschaft zu alten, aristokratischen Gesellschaften, ist, dass das "Prekariat" Zugang zur Kunst hat. Wenn das Prekariat auf einmal "Fotze" sagt, tun alle ganz entsetzt so, als würden sie das Wort niemals selbst verwenden. Ich liebe immer noch die Worte von Westerwelle, als er von der spätrömischen Dekadenz sprach, und so Recht hatte, obwohl er was völlig anderes meinte."
5 Kommentare mit 19 Antworten
der Philipp Gässlein https://www.laut.de/Alben?autor=99 ? quasi der "Vaterabraham" der laut.bar??
ja.
https://giphy.com/gifs/not-mitsubishi-1cv7…
Blumentopf haben echt wenig sexistische Tracks, kann ich bezeugen! Horny Smudo hingegen...
Er hat "Negermusik" geschrieben!
Prima Comment! Ja, das habe ich. Und nach SPON-Wissenschaftsstandards wäre ich jetzt Nummer 1 der Rassisten-Liga, weil ich in 100% meiner Kommentare, die an die Öffentlichkeit dringen, die N-Bombe droppe.
Ohne den Kontext zu erwähnen, dass Jazz und Blues nicht nur in den USA auch von renommierten Magazinen halt genau so genannt wurden.
Genau der Punkt.
Vater Abraham
asli
Mein Gott ist das ein langer Text. Tldr. Aber wenn ein Typ einen Post von sich gibt, in dem er auf eine Diskussion eingeht, dann aber Kommentare und Teilen verbietet, weil er keine Diskussion lostreten will, dann ist das doch einfach nur unglaublich schwach.
Naja, das sagt sich von deiner Warte mit den drei Facebook-Freunden so einfach. Vllt hat er einfach keinen Bock seine Timeline wochendlang mit sonst einem Müll geflutet zu bekommen.
Dann kann er auch schlichtweg die Schnauze halten. So hält er seine (nicht-)Diskussion in einem elitären Journalistenkreis, die alle voll fancy Meinungen haben.
Verstehe nicht, was daran schwach sein soll.
Wie das genau? Hier wird ja in laut-Kommentarspalten auch mittelprächtig diskutiert und das kann ja jeder auf seiner Facebookseite oder sonstwo trotzdem zum Thema machen. Oder meinst du nur Journalisten beherrschen Copy&Paste?
Ich meine, wenn das Dauerverhalten ist und jemand systematisch Sachen herausposaunt, ohne Gegenargumente hören zu wollen, ist das natürlich ziemlich lappig. Aber wenn man ab und an mal keinen Bock auf ne größere Diskussion hat, ist das mMn vollkommen legitim.
Hallo The Squall
Ich habe auf meiner Facebookseite meine Meinung zu dem Artikel abgegeben. Selbstverständlich offen zur Diskussion - für jeden, der auf Facebook mit mir befreundet ist. Auch als (ehemaliger) Journalist kann ich völlig frei darüber bestimmen, wer meine privat geschriebenen Texte zu sehen bekommt und wer sie kommentieren darf.
Wenn ich Lust auf endlose Social-Media-Schlachten mit gesichtslosen Fakeprofilen habe, dann mache ich auch mal was teilbar oder poste unter dem entsprechenden Artikel öffentlich.
Was ich privat poste und wer es zu sehen bekommt, darüber möchte dann schon gerne noch ich selbst bestimmen dürfen. Natürlich steht es dir auch offen, das "unglaublich schwach" zu finden. Fairerweise muss ich zugeben, dass mich deine Einschätzung da jetzt nicht sooo zu 100% interessiert.a
"..., dass mich deine Einschätzung da jetzt nicht sooo zu 100% interessiert."
Eine gelungene Pointe nach 20 Zeilen Stellungnahme
"Ich schreibe ein Buch über Deine Aussage, weil sie mir so egal ist!" - Gässlein 2020
Laut.de 2020
"Zwing mich nicht, herauszufinden, wie viele Zentimeter in die Kehle deines Mädchens passen"
Ein paar sexistische Lines hat Keemo dann schon, aber klar Top 10 würdig sehe ich ihn dann auch nicht. Trotzdem spannend, weil er ja eigentlich immer so ein bisschen auf woke machtund sich auch mal in Tweets über sexistische Kommentare beschwert hat. Ganz ohne geht es ja auch bei ihm nicht.
Insgesammt haben Yannick unf Gässlein ganz gut dargelegt, warum der Artikel Käse ist. Dieses Spiegel der gesellschaft Bild gehe ich aber nicht ganz mit.
Ultrakrasser Sexismus (inklusive gruseliger Rollenbilder, Frauenschlägerromatik und Pillen ins Glas Geschmeiße) wird im Deutschrap schon in einem Ausmaß zur Selbstaffirmation benutzt, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse sprengt, die dort angeblich gespiegelt werden sollen, zumindest die der Mehrheitsgesellschaft, die den Sound ja zur relevantesten Musikrichtung für Menschen unter dreißig gemacht hat. Wen die Gesellschaft so sexistisch wäre wie Deutschrap, würde der dort vorhandene Sexismus ja erstens keinem mehr auffallen (so wie z.B. der Sexismus in Cro-Songs seltener thematisiert wird, weil er gesellschaftlich akzeptierter ist) und zweitens wäre Deutschland dann wirklich die von Sibel Schick beschriebene Todeszone, in der jede Frau an jedem Ort zu jeder Zeit vergewaltigt und totgeschlagen werden würde.
Dieses Spiegel der Gesellschaft blabla halte ich eh für schwierig. Als weiße Dorfkids haben wir Bushido ja nicht gehört und seine kraßen Lines ja nicht gefeiert, weil das unsere Lebensrealität widergespiegelt hat, sondern weil das krass und nicht normal war. Und ohne mich da zu weit aus dem Fenster lehnen zu wollen, würde ich sagen, dass das bei Kids, die in Köln-Kalk aufgewachsen sind ähnlich ging, auch wenn das was für sie an dem Zeug krass war nicht dasselbe war wie bei uns.
Insbesondere zu dieser "Spiegel der Gesellschaft"s-Karte, die mMn einfach bei vielen arg locker sitzt:
Guter Kommentar, der einige richtige Kritikpunkte beinhaltet. Gegenfrage: Spiegelt Deutschrap denn die Nische, aus der er inzwischen mehrheitlich stammt? (18-30, männlich, "bildungsfern" und finanziell angespannt)?
Dass Pubertierende auch immer genau die Mucke aufdrehen wollen, die ihre Eltern am meisten schockt, ist jetzt auch kein ganz neues Phänomen. Es ging in dem Artikel aber nicht um die Konsumenten, sondern die Artisten.
Das kann ich weder verneinen noch bejahen, weil ich diese Nische fast nur von Deutschrap Alben kenne.
Ich denke, dass Rap wie jedes andere Genre Narrative entwickelt hat, die so allgegenwärtig sind, dass sie bedient werden, ohne dass das besonders viel mit der "Persönlichkeit des Künstlers zu tun hat und abwertend bis entmenschlichend über Frauen zu rappen, scheint eines davon zu sein. Gleichzeitig scheint es eine Überbietungslogik zu geben, die dazu führt, dass Karate Andi nicht mehr nur Pimpslaps verteilen kann, sondern Frauen, die Zähne mit der Brechstange rausreißen muss, ohne dass ihn das zwangsläufig sexistischer macht als einen Battlerapper, der fünf Jahre früer ins Mic gespittet hat.
Interessanterweise handelt es sich bei der Top-3 der sexistischen Deutschrapper, die der Spiegel gekürt hat, ja zum Beispiel nicht um klassische Gangster Rapper, die vom harten Leben auf der Straße erzählen, sondern um eine Witzfigur (Spongebozz) und zwei Dudes, deren künstlerische Eigenständigkeit auf sexistischen/sexualisierten Entgleisungen beruht (Frauenarzt und Orgi). Alle drei spiegeln wahrscheinlich genausowenig ihren Alltag wie den ihrer Hörer. Das sieht zugegebenermaßen bei Gzuz oder Bausa anders aus.
Pillen ins Glas:
https://youtu.be/a_I1BLl7Eyg