Zum 30. Geburtstag spielt die Band aus London im Tempodrom ein denkwürdiges Doppelkonzert: vier Studioalben an zwei Abenden.
Berlin (dr) - 30 Jahre Archive. Grund genug, um in Berlin ein besonderes Liveevent aufzusetzen: Die englische Band um die Masterminds Darius Keeler und Danny Griffiths führte am Wochenende an zwei ausverkauften Folgeabenden vier ihrer Studioalben auf: "You All Look The Same To Me" (2002) und "Noise" (2004) sowie "Controlling Crowds" und "Controlling Crowds Part IV" (beide 2009). Wir waren dabei.
Der Freitag: Volles Electrorock-Pathos und stark variierende Gesangsleistungen
Das Tempodrom wird in blaues Licht getaucht, Bässe wummern, die Electro-Eminenzen Darius Keeler und Danny Griffiths nehmen ihre Plätze ein, und das Riff von "Get Out" ertönt als Loop. Immer und immer wieder, noch ehe die beiden Sänger Dave Pen und Pollard Berrier die Bühne betreten. Es mag auch dem zu Beginn eingesetzten Stimmfilter zu verdanken sein, aber Pen klingt im Opener mehr denn je wie Craig Walker – was er als großes Kompliment verstehen darf.
Craig Walker? Er war der Sänger Archives auf "You All Look The Same To Me" und "Noise", den beiden Alben, die an diesem Abend fast in Gänze gespielt werden. Der Opener verdeutlicht: Die Band bringt ihre (neben dem oft übersehenen Trip Hop-Debüt "Londinium") besten LPs unchronologisch auf die Bühne – mit Wucht und einem stimmlich gut aufgelegten Dave Pen.
Gleich nach dem Opener folgt eines der Highlights des Abends. "Numb" macht seinem Namen alle Ehre: Es wird laut, die Synthies knallen, die gesampelte Percussion und Steve "Smiley" Barnards Drums gehen – und das war nicht immer so im Livearchiv der Band – eine stilvolle Symbiose ein. Während Danny Griffiths gewohnt stoisch seine Tasten drückt, reckt Darius Keeler zum ersten Mal in seiner unnachahmlichen Manier die Fäuste und animiert das Publikum zum Ausrasten, was vorzüglich funktioniert. Das kreischfreudige Grüppchen neben mir spendiert meinem rechten Schuh spontan ein klebriges Kaltgetränk. Meine Damen, ich hätte es doch auch getrunken!
Bei allem Bombast: Die ruhigen, instrumentalen Keyboard- und Synthesizer-Passagen in Tracks wie "Fool" und dem "Love Song" entpuppen sich als die schönsten des ersten Abends. Die Fülle an wunderschönen Melodien, die Keeler und Griffiths in den Jahren von 2002 bis 2004 fanden, beeindruckt. Sind diese Melodien der einzige Grund, warum in Tracks wie "Fool" an diesem Abend die Instrumentalpassagen am meisten überzeugen? Leider nicht.
Lisa Mottram, seit dem letzten Archive-Album "Call To Arms And Angels" als Sängerin an Bord, enttäuscht maßlos. Ihr vernuschelter Schlafzimmergesang klingt zu oft, als hätte sich Annett Louisan nach einer durchzechten Nacht in eine Karaokebar verirrt. Das mag in einem anderen musikalischen Kontext charmant wirken, zerstört live aber mit "Meon" und "Conscience" zwei der schönsten Songs der Band. "Pulse", auf der 2019er-Tour dank Maria Q noch ein absolutes Highlight, beginnt mit leidlich erfolgreichen Falsettgesangsversuchen Mottrams und endet in Gekreische. Das Publikum quittiert die irritierend schlechte Performance mit überschaubarem Applaus.
Ein sattes "Fuck U"
Zum Zugabenfinale sorgt Dave Pen für ein Novum in der Geschichte Archives: Der sonst abseits von Danksagungen zwischen den Songs stumme Sänger widmet "Fuck U" allen da draußen, die, wie er erklärt, verhindern wollen, dass wir zusammenkommen, gemeinsam Freude empfinden und Spaß haben. Im Jahr 2025 definitiv die richtige Entscheidung, die einem auch selbst das Mitsingen erleichtert.
Dass zwei Sänger und das Publikum sich während eines überlangen Schrammeloutros gegenseitig zum "Fuck U!"-Brüllen animieren, erwartet man zwar eher bei Pöbelpunk-Bands als bei Archive, aber: Es funktioniert. Der traurige politische Kontext macht den Unterschied. Abseits der indiskutablen gesanglichen Leistung Lisa Mottrams nicht nur ein sehr druckvolles, sondern auch ein feines Konzert.
Setlist:
- Get Out
- Numb
- Sleep
- Noise
- Love Song
- Meon
- Now And Then
- Finding It So Hard
- Fool
- Conscience
- Waste
- Pulse
Zugabe:
- Goodbye
- Again
- Hate
- Fuck U
Der Samstag: Mehr Atmosphäre, es menschelt
Archive-Abend Nummer zwei im Tempodrom: Diesmal steht das Quasi-Doppelalbum "Controlling Crowds" aus dem Jahr 2009 auf dem Programm. Im Gegensatz zum Vorabend wird das Rund zunächst in rotes Licht getaucht. Zudem lässt einen der Titeltrack als Opener die Vermutung anstellen, die Band präsentiere ihre 2009er-Songs gemäß Albumreihenfolge. Tut sie aber nicht.
Den Titeltrack dennoch an den Konzertbeginn zu packen, erweist sich als goldrichtige Entscheidung: Synthies, Keyboards und Pollard Berriers frostiger Gesang packen direkt und werfen einen in die dystopisch-kalte Großstadtwelt. Nein, nicht in die Berlins, sondern in die der "Controlling Crowds"! Anders als am Freitagabend übernimmt Berrier, traditionell mit Hut, wie in den Studioversionen bei den meisten Songs den Leadgesang – und überzeugt durchweg.
Nach der Wucht der ersten drei Tracks nimmt die Keyboardballade "The Feeling Of Losing Everything" Tempo raus. Dave Pen glänzt am Mikro, das Publikum hört andächtig zu. Während dieser magischen vier Minuten hätte man in den vorderen Reihen eine Stecknadel fallen hören können. Diesmal fliegen keine Plastikbecher, das Publikum um mich herum ist nicht nur weniger quatschfreudig als noch am Vorabend, sondern auch charmanter.
Erst, als die Band mit "Quiet Time" die Gretchenfrage 'Wie hältst du rs mit dem Rap?' stellt, runzelt sich die ein oder andere Stirn. Nicht jede Person im Publikum scheint mit der abwechslungsreichen Diskografie der Londoner Gruppe vertraut, die vorderen Reihen lichten sich minimal – was nicht an der Leistung Jimmy Collins' alias 24Vision liegt. Der ist zwar kein gleichwertiger Ersatz für Rosko John, aber insbesondere in den aggressiven Rap-Parts, etwa in "Bastardized Ink", zeigt er seinen soliden Flow.
Lisa Mottram trifft die Töne einfach nicht
Dass die Anzahl der (Halb-)Balladen und ruhigen Passagen insbesondere auf "Controlling Crowds Part IV" höher ausfällt als die auf "You All Look The Same To Me" und "Noise", kommt dem zweiten Abend zugute. An die Stelle des Dauer-Pathos tritt viel Atmosphäre. Leider klingt Lisa Mottram auch diesmal sowohl im tranceartigen "Collapse/Collide" als auch im Uptempo-Ohrwurm "Pills", als hätte sich Crippled Black Phoenix-Sängerin Belinda Kordic ein Wollknäuel in den Mund gestopft.
Das Hauptproblem ist allerdings nicht die stark von den Vokalistinnen Maria Q und Holly Martin abweichende Stimmfarbe, nicht einmal der im Vergleich zu jenen beiden begnadeten Sängerinnen weitaus geringere Stimmumfang. Nein, das Hauptproblem bleibt auch an diesem Abend, dass Mottram auf ihrer eigenen Tonleiter die Töne nicht trifft. Sehr schade, vor allem, da der Abend ansonsten makellos ausfällt. Besonders positiv hervorzuheben: "Funeral", der von Pollard Berrier herausragend vorgetragene letzte Song vor dem Zugabenblock.
Im entspannten "Remove" glänzt Berrier mit souligem Gesang, ehe die Band einen via "Dangervisit" mit voller Mann- und Frauschaft, unnachahmlichen Synthiesounds und reichlich angemessenem Pathos in den angenehm milden Abend entlässt. Die abschließende Lasershow überwältigt und doch menschelt es – mehr als tags zuvor.
Darius Keelers Grinsen ist breit, mehrfach winkt er ins Publikum. Der 43-Jährige besiegte den Krebs und steht nun so wild und fröhlich gestikulierend wie eh und je auf der Bühne, lebt die Musik seiner Band mit jeder Faser. Schön, dass Archive wieder da sind! Und schön, dass Sie wieder da sind, Mr Keeler!
Setlist Samstag:
- Controlling Crowds
- Bullets
- Kings Of Speed
- The Feeling Of Losing Everything
- Blood In Numbers
- Quiet Time
- Bastardized Ink
- Collapse/Collide
- Clones
- Words On Signs
- Whore
- Come On Get High
- Chaos14. Razed To The Ground
- Funeral
Zugabe:
- Pills
- Lines
- The Empty Bottle
- Remove
- Dangervisit
Text: Dennis Rieger. Fotos: Rainer Keuenhof.
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