Song der Woche: Kiev Stingl - "Rosenblatt"
Kiev Stingl ist Anfang 2024 im Alter von 80 Jahren nach langer, schwerer Krankheit gestorben. Der zuletzt in Berlin lebende Musiker war ein Mann des Untergrunds, ein von Mainstream-Deutschland verschluckter Dichter und Provokateur, über dessen Einfluss meist nur Musiker zu berichten wussten. 2022 erschien auf Klangbad, dem Label des Faust-Gründers Hans-Joachim Irmler, eine EP mit neuen Songs. Niklas David von Audiac, seit vielen Jahren musikalischer Partner Stingls, arbeitet seit dessen Tod an den zuletzt aufgenommenen Songs, die kommendes Jahr auf einem Album erscheinen.
Ein eisiges Cembalo mit "Abbey Road"-Zug eröffnet "Rosenblatt", dann setzt der Maestro ein. Seine Stimme, brüchig und doch durchdringlich, zitternd und hell: "Ein Schmerz wie ein Schrei / Wenn ein Rosenblatt fällt". Später übernehmen Streicher und Piano und tauchen alles in noch dunklere Gefilde, Stingls Stimme derweil über allem Irdischen thronend wie ein ganz weit entfernter Mahner, der er nun ja auch ist. Davids Instrumentierung schlicht meisterhaft mit einem Hauch des späten Nick Cave und der Schwerelosigkeit von Radiohead. Spätestens das Distortion-Solo schnürt einem am Ende die Kehle zu.
Dass die Entstehung von "Rosenblatt" nicht über Nacht gelungen ist, verwundert kaum, vielmehr unterstreichen Davids erklärende Worte das Gewicht dieses Geniestreichs: "Das zentrale Stück in unserer Zusammenarbeit. Der erste seiner neuen Songs, den ich arrangierte. Unzählige Versionen haben wir in den Jahrzehnten durchlaufen (mit viel Distortion, unterschiedlichsten Instrumenten, Synthie-Overdubs etc.). Nach 15 Jahren dann wieder zur ursprünglichen Version zurückgekehrt. Die blieb dann doch die Beste. Ökonomisch gesehen ein absoluter Wahnsinn. Pure Verschwendung aller Ressourcen. Ein solches Vorgehen liebte Kiev. Pirouetten schlagen um ihrer selbst willen."
Auch in der Literatur erlebt Stingl posthum einen zweiten Frühling. Vor kurzem ist der Gedichtband "Briefe an Gabriella" im Flur Verlag erschienen. Dabei handelt es sich um Briefe, die Stingl in den 1960er Jahren an seine Jugendliebe verfasste.
		
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