Zu früh für Punk, zu rebellisch für die Masse: Der Berliner Provokateur und Underground-Poet ist nach langer Krankheit gestorben.

Berlin (mis) - Kiev Stingl ist im Alter von 80 Jahren nach langer, schwerer Krankheit gestorben. Der zuletzt in Berlin wohnhafte Dichter, Provokateur und Underground-Musiker, der zwischen 1975 und 1989 vier obskure wie beeindruckende Studioalben veröffentlichte, starb bereits am 20. Februar, wie es in einer Mitteilung von Klangbad Tonträger heißt. Das Label des Faust-Gründers Hans-Joachim Irmler sorgte 2022 mit der Veröffentlichung einer Stingl-EP für ein spätes Comeback des Szene-Revoluzzers, auf der er unveröffentlichte Texte neu vertonte.

Der 1943 in Hamburg geborene Stingl schrieb in den 70er Jahren für das Poesie-Blatt "Boa Vista" und trieb sich in Künstlerkreisen herum, als ihn das Zusammentreffen mit dem ehemaligen Rattles-Star Achim Reichel zur Musik führt. Gemeinsam entsteht seine Debütplatte "Teuflisch", auf der der Oberschichtensohn mit einem Faible fürs Zwielicht in deutscher Sprache über Rocker, Rotlicht und vor allem über Sex singt. Die visionäre Platte mit einer eigenwilligen Interpretation von Deutschrock und Blues verbunden mit der Monotonie und dem Überraschungsreichtum des Krautrock floppt. Stingl verteidigt den Künstler als Freigeist, der in der Bundesrepublik der 1970er Jahre grundsätzlich wenig zu lachen hatte, gegenüber den Langweilern in ihren Spießerjobs.

Dabei reimt er auch mal "Lippen" auf "Milchkuhtitten", was dem deutschen Michel drei Jahre vor Nina Hagens Debütalbum nicht vermittelbar ist. Spätere Fans wie Rammsteins Flake sind dagegen nachhaltig beeindruckt. "In bestimmten Momenten des Schmerzes, der Wollust und ähnlichen exzessiven Gefühlszuständen fing ich an Lieder zu machen", erinnerte sich Kiev Stingl letztes Jahr im Gespräch mit laut.de an den entscheidenden Schritt hin zur Musik.

Das für unsere "Meilenstein"-Rubrik ausgewählte Album "Hart wie Mozart" erscheint 1979, ganze vier Jahre später. Holger Hiller ist nun Teil seiner Studio-Band, der später als das Gesicht von Palais Schaumburg bekannt wird. Herrlich croont Stingl auf dieser New-Wave-Scheibe mit der Nonchalance eines Iggy Pop und eines Falco, seinerzeit freilich noch ein Unbekannter namens Hans Hölzel.

Trotz spannender Texte und kantiger, unorthodoxer Popmusik, wie sie zu dieser Zeit von Indie-Guru Alfred Hilsberg unter dem Terminus Neue Deutsche Welle noch ausschließlich für Spex-Leser*innen subsummiert wird, bleibt Stingl ein Randthema. In die Medien kommen eher kleinere Skandale: Das Cover der Erstauflage zieht eine Klage des Magazins Der Spiegel nach sich, da es dessen Titelblatt nachempfunden ist. Zudem druckt Stingl darauf noch Telefonnummern Hamburger Prostituierter ab. Für ein wenig Wirbel sorgt auch eine TV-Sendung, in der der 36-Jährige eine Bierflasche durchs Studio wirft.

1981 ist auch dem dritten Album "Ich Wünsch' Den Deutschen Alles Gute", das wieder gemeinsam mit Reichel entsteht, kein Erfolg beschieden, und Stingl setzt sich nach Madagaskar ab, wo er nach einem Scharmützel mit Spielzeugpistolen eingesperrt und als CIA-Spion verurteilt wird. 1988 ist er in Christel Buschmanns Film "Ballhaus Barmbek" neben Nico zu sehen. Im Folgejahr lädt ihn Yello-Sänger und Stingl-Fan Dieter Meier nach Zürich ein, wo die vierte Platte "Grausam Das Gold Und Jubelnd Die Pest" entsteht.

Mit dabei sind die Einstürzende Neubauten-Mitglieder FM Einheit (Schlagzeug) und Alex Hacke (Gitarre) sowie Bassist Thomas Stern (Crime And The City Solution, Rausch). Die Arbeit mit dem Exzentriker führt nicht dazu, dass man sich anschließend in Freundschaft verbunden bleibt, wie es später heißt. Die Platte erscheint auf Hilsbergs Label What's So Funny About, allerdings wiederum zu früh, um etwa vom Blumfeld-Hype zu profitieren.

Jahrelang sind Stingls Platten out of print und nur noch nostalgischen Musikveteranen ein Begriff. Dies ändert sich 2021, als seine drei Alben "Teuflisch", "Hart wie Mozart" und "Ich wünsch den Deutschen alles Gute" erstmals im Angebot der Streamingdienste auftauchen. 2022 holt sich das Klangbad-Team um Irmler und Niklas David von der Band Audiac seine Erlaubnis ein, 1982 angefertigte Texte zu vertonen. Das Ergebnis ist die EP "X R I NUIT".

Mit der überschaubaren Rezeption seines Schaffens hatte Stingl wenig Probleme, wie er letztes Jahr betonte: "Es gab ja früher nicht nur negative Kritik, sondern von intelligenterer Seite durchaus euphorische Kommentare. Aber natürlich war das alles nicht publikumswirksam und meine Songs wurden in den 70er-Jahren zum Teil als obszön und aus der Zeit gefallen wahrgenommen. Rundfunkanstalten spielten dann praktisch von mir gar nichts mehr. Aber ich war irgendwie so eigenwillig in meiner Sprache, dass ich das eher als Auszeichnung empfand denn als Rückstufung. Ich war mir immer sicher, dass meine Sachen außergewöhnlich und einzigartig sind."

Seine Lust an der Provokation hatte er dabei auch im Alter nicht verloren. Über sein als problematisch wahrgenommenes Verhältnis zum anderen Geschlecht ließ er wissen: "Es ist ein großer Irrtum von Naiven, zu glauben, Frauen seien harmlose Wesen, die man nicht angehen dürfe. Das ist ein Trugschluss der neueren Zeit." Er habe Frauen nicht nur sexistisch beleidigt, sondern sie "auch im gleichen Maße in den Himmel gelobt und ihre Außergewöhnlichkeit gepriesen", verteidigte er sich da.

Seine Kunst spricht gleichwohl für sich: Stingl sei der exaltierteste Stecher der deutschen Musikgeschichte, einer ihrer markantesten Textdichter sowie ihrer betörendsten Stimmen, schwärmte laut.de-Autor Maximilian Schäffer in seiner Rezension zu "Hart wie Mozart", ein homme fatale ohne Gnade gegenüber sich selbst und allen anderen. Auch in seinen letzten Monaten blieb Kiev Stingl produktiv. Ein finales Studioalbum ist fertiggestellt und erscheint in diesem Jahr, so sein musikalischer Partner Niklas David. Mit der Nachricht von Stingls Tod wurde ein bisher unveröffentlichter Song veröffentlicht. In "Endlose Nacht" hört man Stingl an der Gitarre, aufgenommen im Jahr 2006, mit einem Text aus den frühen 70er Jahren.

Hendrik Otremba von Messer, der noch mit Stingl im Austausch war, kondolierte bereits.

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