laut.de-Kritik

Der Stecher der deutschen Musikgeschichte.

Review von

Die Geschichte geht so: Achim Reichel kennt da einen Burschen namens Stingl, der ihm seinen (ebenso) dichtenden und singenden kleinen Bruder Gerd alias Kiev empfiehlt. Auf Akustikgitarre spielt dieser Kiev Stingl eines schönen Tages seine Kompositionen vor, singt konkrete Dichtung drüber. Irgendwas zwischen Bukowski, Burroughs und Lou Reed und zwar auf deutsch. Reichel zeigt sich beeindruckt und produziert eine erste Langspielplatte mit dem höchst attraktiven Vollexzentriker, 1974 ist der bereits 31 Jahre alt. Ein damals noch langhaariger Athlet aus Hamburg. Ein Oberschichtensohn mit Faible fürs Zwielicht, der über Rotlicht, Rocker und vor allem über Sex singt, wie es sich in der BRD der 1970er-Jahre bisher niemand getraut hatte.

Man muss sich vorstellen, dass Nina Hagen erst drei Jahre später ihr erstes Album veröffentlichte und mit zarten Andeutungen lesbischen Knutschens "am Bahnhof Zoo im Damenklo" für den deutschen Michel bereits schwer zu schlucken war. Bei Udo Lindenberg war damals immer noch "alles im Lot aufm Riverboat" und genug genuschelt. Kiev Stingl aber stöhnt währenddessen folgendes: "Vielleicht schenk ich dir den Ozean / Vielleicht schenk ich dir auch Aga Khan / Du mit deinen lila Lippen / Du mit deinen Milchkuhtitten!". Wenn sowas vom Jugendzimmer in den Flur dröhnt, gibt's (für das was davon verstanden wird, nämlich der vulgäre Part und nicht die zarte Poesie der ewigen Verzweiflung des Stenz') – Ärger.

Obwohl sich schnell ein kleiner, aber überzeugter Fankreis bildet und obwohl – ganz objektiv – "Der Sommer ist längst vorbei" auf dem Debüt "Teuflisch" (1975) wohl eine der allergrößten deutschen Balladen überhaupt ist, bleibt Kiev Stingl in den kommenden Jahren und bis heute Obskurant. Das hat Gründe, die auch im Sumpf des hörigen, deutschen Feuilletons zu finden sind. Früh gibt es Medienskandälchen, Radioauftritte mit Flaschenwürfen, Beleidigungen, antifeministische Tiraden, humorvolle Wahrheiten. Zitat, live im Hessischen Rundfunk: "Ab sofort verbiete ich, Kiev Stingl, der Sprecher der deutschen Schweinenation, sämtlichen Jugendlichen, Staatsnegern und sonstwem, den Keuchakt loszuficken." Dazu gesellt sich beim Protagonisten ein überzeugtes Desinteresse am Betrieb, gar geile Gleichgültigkeit gegenüber der Plattenfirma. Unzuverlässigkeit und die Unwilligkeit, vielleicht doch einmal auf Tournee zu gehen, stören den Businessplan noch dazu. In Stingls Karriere bleibt es bei einer einzigen Tour, organisiert von Karsten Jahnke im Jahr 1980, sie endet halb im Chaos. Drei Jahre vergehen, ein paar tausend Alben verkaufen sich, die Erstauflage von "Teuflisch" ist erst später vergriffen.

Stingl, der sich weigert, im bürgerlichen Sinne "erwachsen" zu werden, hängt mit der jungen Avantgarde Hamburgs ab. Er schart ein Grüppchen von Musikern um sich, die im Durchschnitt bestimmt zehn Jahre jünger sind, will aufnehmen, Achim Reichel ist erneut willig. Ein zweites Album entsteht 1979 in den Teldec-Studios, es muss "Hart wie Mozart" heißen, denn Kiev vergleicht sich, wenn überhaupt, nicht mit den kleinen Deutschen um ihn herum. Nach eigener Aussage hat er Lindenberg und Westernhagen nie gehört, höchstens mal die Doors oder The Velvet Underground.

Sterea Lisa nennt der Große seine Band, die es nur fürs Studio und dann noch für einen einzigen Auftritt 1979 ("Into the Future"-Festival, Hamburg, Markthalle) gibt. Der Name ist eine wortwörtliche Schnapsidee des Meisters, damals noch gut am Verstoffwechseln von Schnaps und Koks und Quaaludes. Stellt man sich saublöd an, kommt man recht einfach drauf: aus Mono wird Stereo, aus Mona also Sterea. Es spielten mit: André Rademacher an der Gitarre, Walter Thielsch am Schlagzeug, Götz Humpf an Orgel und Synths, Jean-Paul Prat an Bass und Flügel, sowie ein gewisser Holger Hiller, später das Gesicht von Palais Schaumburg, an Gitarre und Violine.

Schon das Cover wird zum nächsten Skandälchen, Der Spiegel klagt gegen die Plattenfirma, die zweite Auflage von "Hart wie Mozart" schmückt folglich nicht mehr das an ein einschlägiges Wochenmagazin angelehnte Artwork. 39:57 Minuten Wahnsinn beginnen mit "Made In Make Up", einer übercoolen Tanzbodennummer mit stark rhythmischen, anglogermanen Vocals. Stakkatogitarren, eine super fette Bassline dazu und hektisches Violinengezitter von Hiller als John Cale im Hintergrund. Fast schon Proto-Rap. Zumindest aber Post-Punk, wenn nicht gar No Wave in Deutschland, 1979. Stingl shoutet sich in Ekstase: "Öffnet ihre Clit / illustriertentot / sagt how Matsch? wieviel / öffnet ihre Seele / produziert Gefühl / produziert Produkte / hängt sie an sich ran / künstlich paradiesisch / PAN AMERICAN!"

"Wir sind modern" beginnt wieder mit Hillers Geige und baut sich mit präzisem Schlagzeug und leichten Snaredrum-Wirbeln auf. Kiev liebt seine Konsonanten, surrt das "s" und rrrolt das "r", croont ganz nah am Mikrofon seinen sich die feuchten Lippen leckenden Bassbariton. Übersexy stöhnt es: "Süß sehn wie Südseen im Karstadt-Dress / Sterea Lisa, monoman: Mona Lisa ist ein Mann." Ist das schon queer?

Klargestellt wird in "Süss und rein" die Position des Autors als zartkalter Mädchenverführer. Süß und rein, süß und klein, hängt sich an ihn ran. Ein Uptempo-Song mit viel Orgel. Eher ein Beiwerk zum folgenden "Babies", das sehr verständlich den Blickwinkel eben jenes Objekts der Begierde einnimmt. Kiev singt ein Mantra von den sexuell erfolgssüchtigen Versprechen der geilen Männer, von den aufgesetzten Komplimenten mit berechnend gespannter Hose: "Ein Lolli steht dir gut / sagen dir die Jungs / Dein Lippenstift schmeckt süß / sagen dir die Jungs / auf Sofas geht es gut / sagen dir die Jungs." Es beginnt im Schmeicheln und endet natürlich nur im Bett. Wieder viel Velvet Underground gibt es hier zu hören, vielleicht "Sunday Morning", oder gar Suicide, vielleicht "Dream Baby Dream".

"Solang du willst" geht in Richtung Hardrock, ist musikalisch der wohl konventionellste Song auf "Hart wie Mozart" und dem Vorgängeralbum am ähnlichsten. "Ich sag den Frauen, tut mir leid, dass ich nicht glaube ans Glück", konstatiert der Dandy, aber zum Trost "solang du willst, bleib ich dein Mann." Was für ein Mann allerdings? Einer mit unlimitierten Freiheiten, und großem Drang: "Ich bleib dein Mann, solange ich kann".

Ein Lied wie "Keine Täter" mit seinem minimalistischen Sound und seinen harten Brüchen passt gut zur kommenden NDW, zumindest deren progressiveren Ansätzen. Könnte ein bis drei Jahre später von Hans-A-Plast kommen oder Der Moderne Man oder Kleenex oder eben von Palais Schaumburg. Hiller brüllt im Hintergrund auf Anweisung Kievs wie ein Ochse. Ähnlich gibt sich "Der Tod der Marilyn Monroe", der sich in rasende Hektik steigert.

Dazwischen läuft "Lila Diva", ein sehr eigenwillig arrangiertes Stück mit Reggae-Orgel im Off-Beat und darüber Orchesterarrangement. Schließlich geht es um die "New York Opera". Gutturales Gestöhne von Kiev im breiten Crescendo mit monumentalen Streichern und Bläsern. Viel Aufwand, keine kleine Produktion, wie man es eigentlich für so einen Sonderling, so ein Nischenprodukt, vermuten würde.

"Einmal Erröten" ist der leiseste Song, gleichzeitig der eindrücklichste, in seiner Brutalität schon fast gruseligste von allen: "Siehst du wie mein Sex glüht, wie er dich ins Nichts sprüht, wie ein Intimspray", heißt es da, oder: "Zu viel lieben das ist neue Einsamkeit (...) Einmal erröten, einmal dich töten." Zeilen, die sich nah am Slogan bewegen, aber wohl nicht anders, nur prägnant auszudrücken sind. Man glaubt Kiev sein notwendiges Dasein als Solitär und hat kein Mitleid – er will auch keines. Das ist das Hauptmerkmal, das seine Musik fundamental von der sich ewig für Begierde und Leidenschaft entschuldigenden, deutschen Berufsabiturientenschaft unterscheidet.

Die alternative deutsche Musikszene sucht seit jeher krampfhaft nach Vernunft und Fortschritt im Punk. Versteckt sich hinter Feminismen und Sprachkosmetiken. Fordert ständige Erbaulichkeit und darf kein paradoxes Gefühl äußern, kann höchstens Albernheit, wenn sie es versucht. Die Szene muss Stingl hassen und tut es: "Zusammen mit den unsäglichen Texten ist das alles nur noch affektiert und peinlich bis scheußlich" und "Zwischen Kraftkerlpose und Larmoyanz taumelt er inhaltlich hin und her. Das ist nun weniger modern: Der mädchenfressende Männermann mit dem weichen Kern". (Rezensionen aus dem Magazin „Szene Hamburg“, 1979)

Nach dem kurzen, straffen, voyeuristischen, pornografischen "Ich knips dich" endet die Platte mit dem ikonischen "Westeuropa Sohn". "Es lebe die Sowjetunion, nieder mit dem Zar!", brüllt Kiev zu Beginn. Er will das bis heute eindeutig als Ironie verstanden wissen, schließlich outete er sich damals in Punkkreisen gerne als überzeugter rechtsliberaler Prokapitalist, oder was eben der Situation angemessen war. "Ich war früher Lenin, ich war Napoleon / Ich bin Frank Sinatras Westeuropa Sohn!": Zum Ende nochmal ein irrer Slogan voller Pose, voller Geilheit, voller popkultureller Anarchie – er endet in zartem Fade-Out. Der baffe Hörer fragt sich unweigerlich, was ihm da gerade 40 Minuten lang serviert wurde.

Es blieb für Kiev Stingl bei drei Major-Alben, angesichts der extremen Volatilität des Künstlers wie gesagt ein Wahnsinn. 1981 folgt echter deutscher Proto-Rap-Detroit-Sound plus noch mehr Advantgarde mit Stingls Abschied vom Geschäft, einem Album namens "Ich wünsch den Deutschen alles Gute!". Ob Falco oder sein Produzent Robert Ponger den Opener "Einsam weiss Boys" rauf und runter gehört haben, müsste erst belegt werden. 1989 fertigt er mit Mitgliedern der Einstürzenden Neubauten das experimentelle "Grausam Das Gold Und Jubelnd Die Pest". 2022 folgen von Niklas David (Audiac) instrumentierte und arrangierte Überbleibsel alter Sessions. 2021 erschien zudem der poetische Dokumentarfilm "Kiev Stingl – No Excuses" von M.A. Littler und D.H. Ottn. Zu Stingls populären Fans zählen bis heute Flake von Rammstein, Dieter Meier von Yello, der Filmemacher Klaus Wyborny, der Autor Franz Dobler und andere stille Kenner.

Sicher ist Kiev Stingl einer der seltenen, echten Transgressiven, gleichzeitig der exaltierteste Stecher der deutschen Musikgeschichte. Genauso sicher, wie er einer ihrer markantesten Textdichter sowie einer ihrer betörendsten Stimmen ist. Ein homme fatale ohne Gnade gegenüber sich selbst und allen anderen. Er reiht sich lose ein in die Riege der Lou Reeds, Nicos (an deren Seite er im Film "Ballhaus Barmbek" von Christel Buschmann spielt), Thomas Braschs und Klaus Kinskis dieser Welt. Kiev Stingl ist das zu unrecht vergessene Genie der letzten 50 Jahre GEMA.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Made In Make Up
  2. 2. Wir sind modern
  3. 3. Süss und rein
  4. 4. Babies
  5. 5. Solang du willst
  6. 6. Keine Täter
  7. 7. Lila Diva
  8. 8. Der Tod der Marilyn Monroe
  9. 9. Einmal Erröten
  10. 10. Ich knips dich
  11. 11. Westeuropa Sohn

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