17. Februar 2009

"MP3 ist wie das Foto eines Picasso"

Interview geführt von

Mit dem Israeli Aviv Geffen verbindet Steven Wilson eine jahrelange enge Freundschaft, die über das gemeinsame Musizieren in der Band Blackfield hinaus geht. So ist es für ihn selbstverständlich, seinen Kumpel bei dessen erster Solo-Headliner-Tour durch Europa auf der Gitarre zu begleiten.

Da Wilson gerade unterwegs durch die Land zieht, bietet es sich auch an, über sein neues Baby zu sprechen, nämlich über das erste Album unter seinem eigenen Namen. Zu diesem Behufe trifft man sich im Münchner Ampère-Club zum lockeren Plausch.

Wilson veröffentlicht jedes Jahr mindestens ein Album. Entweder mit seiner Hauptband Porcupine Tree oder unter dem Namen eines seiner Projekte. Nebenbei produziert der schmächtige Tausendsassa zahlreiche Bands, ist immer wieder live zu sehen und scheint auch sonst kein Leben abseits der Musik zu besitzen. Zumindest kommt einem das in den Sinn, wenn man das Schaffen des Engländers etwas näher verfolgt.

Aviv ist auch ein politischer Aktivist. Beeinflusst das deine eigene Arbeit in irgendeiner Art?

Im politischen Sinne? Nein. Der Grund, warum die Zusammenarbeit mit Aviv so gut funktioniert ist, dass wir so unterschiedlich sind. Er ist ein Pop-Star im traditionellen Sinne. Sehr charismatisch und energiegeladen. Ich bin da eher der Musiker und kümmere mich weniger um Image und solche Sachen. Wir bewundern uns gegenseitig für die Eigenschaften, die wir jeweils nicht besitzen. Das bezieht sich auch auf das Politische. Ich bin in einem sehr behüteten Umfeld aufgewachsen, ohne große politischen Turbulenzen. Das war also nie Teil meiner Geschichte. Sicher habe ich meine Ansichten über die Situation im nahen Osten. Aber es liegt mir nicht im Blut, dieses Bedürfnis zu kämpfen, ich bin eben einfach nicht in dieser Umgebung aufgewachsen. Wenn ich in Israel geboren wäre, bin ich mir sicher, dass das dann anders wäre. Aviv und ich unterscheiden uns da, ergänzen uns aber auch.

Du begleitest Aviv auf seiner ersten Solo-Tour durch Europa. Hierzulande hat er bislang sehr viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, er war sogar im Fernsehen. Ist es nicht schade, dass er hauptsächlich aufgrund des Krieges im Gaza-Streifen für die Medien interessant ist?

Ja, stimmt, aber niemand kauft deswegen seine Platten. Um aber eine Persönlichkeit in den Medien zu sein, musst du jede sich bietende Möglichkeit wahrnehmen, dich in Szene zu setzen. Bislang hat er - nicht zuletzt aufgrund des Krieges - einige tolle Presse-Reaktionen bekommen. Man kann jetzt zwar sagen, dass der Grund unglückselig ist, aber das bedeutet für das nächste Mal, wenn er seine Platte veröffentlicht, kennt man seinen Namen. Das kann ja den Unterschied ausmachen, dass Journalisten sich seiner annehmen. Das ist wohl Teil des Spiels mit den Medien, einen Namen bekannter zu machen. Deshalb wechseln wohl auch viele Leute, die sich im Reality TV rumtreiben, ins Pop-Business. Man kennt eben ihre Namen. Paris Hilton oder ... Aviv Geffen ... oh nein, ich sollte die zwei wohl lieber nicht miteinander vergleichen, Aviv hat wenigstens Talent. (lacht)

Kommen wir auf dein Album zu sprechen

Oh ja genau, mein Album. Ich bitte darum.

Beschreibt der Name "Insurgentes" (span. für 'Rebellen', Anm. d. Red) dich selbst?

Lass mich ein wenig ausholen. Das Album entstand an verschiedenen Orten. Als es darum ging, ein Solo-Album aufzunehmen, wollte ich daraus eine Art Road-Trip machen und Länder besuchen, wo ich entweder noch nicht war oder wo ich nicht genug Zeit verbracht habe. Eines dieser Länder war Mexiko. In Mexiko City waren wir einmal für zwei Tage, und was ich dort in der kurzen Zeit gesehen habe, hat mich fasziniert. Ich habe mich in die Stadt verliebt wie ich mich vor einigen Jahren in Tel Aviv verliebt habe. Durch Mexiko City verläuft diese Straße, die "Avenida De Los Insurgentes", ich glaube, es ist die längste Straße der Welt. Und wann immer du dich durch Mexiko City bewegst, liest du dieses Wort: "Insurgentes". Auf Bushaltestellen, Bahnhöfen, Straßenschildern, diese Straße ist einfach eine der größten Orientierungshilfen in der Stadt. Irgendwann hat sich das in meinem Kopf eingebrannt.

Ich bin zwar nicht wirklich ein Rebell, aber die Art, wie ich Musik mache und wie ich mich innerhalb der Musikindustrie positioniere, ist schon unkonventionell. Ich war nie Teil des Mainstreams, ich habe nie Musik gemacht, um jemandem zu gefallen außer mir selbst. In diesem Sinne bin ich schon so etwas wie ein Rebell.

Liegt hier auch der Hase im Pfeffer, warum du so viele Projekte am Start hast?

Ich möchte eben nicht in eine bestimmte Schublade gesteckt werden. Ich mag es nicht, wenn mich Leute als 'der Typ von Porcupine Tree' bezeichnen. Das gefällt mir nicht wirklich, Porcupine Tree ist nur ein Teil dessen, was ich mache. Es gibt zahlreiche andere Sachen, die ich als Teil meiner musikalischen Persönlichkeit betrachte. Das Solo-Album jetzt ist einfach eine treffendere Spiegelung dieser Persönlichkeit. "Insurgentes" ist eine umfassender klingende Scheibe als das, was ich mit meinen anderen Projekten bislang gemacht habe. Es beinhaltet Elemente aus all diesen, man kann Porcupine Tree heraus hören, man erkennt Blackfield, Bass Communion und hoffentlich hört man auch einige neue Sachen heraus.

Auf der neulich erschienenen DVD von Klaus Schulze hast du mit ihm ein sehr ausführliches Interview gemacht. Wie kam es denn dazu?

Das kam über seinen Manager Michael zustande. Ihn kannte ich von InsideOut, als ich mit ihnen wegen Paatos zu tun hatte. Michael managt Klaus jetzt und er weiß, dass ich ein großer Klaus Schulze-Fan bin, da ich ihn immer nach den Wiederveröffentlichungen der alten Schulze-Scheiben angegangen bin. Klaus ist dann nach England in die Real World-Studios gekommen. Das war nicht so sehr ein Interview als vielmehr eine Unterhaltung. Ich hatte gar keine Fragen vorbereitet und habe einfach angefangen, indem ich Klaus gesagt habe, wie ich seine Musik entdeckt habe. Ich habe die Aufnahme noch gar nicht gesehen und will es mir auch gar nicht anschauen. Es ist immer hart, sich selbst in einem Film zu sehen.

Das befindet sich auf der Bonus-DVD, du kannst dir das Teil also ruhigen Gewissens zulegen und das Interview weglassen.

Das Konzert habe ich ja schon gesehen, nur das Interview nicht. Ich erinnere mich nur, dass das eine sehr informelle und zwanglose Konversation mit einem meiner musikalischen Helden war. Das war Kommunizieren auf gleicher Augenhöhe und darauf kam es mir in erster Linie an.

"Einige Texte waren Scheiße"

Was die Texte deines Albums anbelangt. Im Gegensatz zu zum Beispiel "Fear Of A Blank Planet" kann ich keine Muster oder einen roten Faden entdecken.

Ne, es gibt auch keinen. Ich habe zwar ein paar Phrasen ins Booklet aufgenommen, aber die Texte lasse ich nicht drucken. Der Grund ist, dass sich das Album auch in textlicher Hinsicht von Porcupine Tree-Alben unterscheidet. PT-Texte sind sehr durchdacht und sehr sorgfältig strukturiert. Diesmal war das komplett anders. Die meisten Texte sind improvisiert. Ich bin einfach zum Mikro hin, um ein paar Melodien zu singen. Die Worte sind dann aus dem Unterbewusstsein heraus gesprudelt. Einige waren scheiße und einige gut. Die beschissenen habe ich ersetzt und solange herum gemacht, bis ich genügend beisammen hatte. Das lief eben auf dieser improvisierten unterbewussten Ebene ab und sollte nicht zwingend einen Sinn ergeben und wenn du mich jetzt fragst, was sie bedeuten sollen? Was immer du dir vorstellen magst. Ich habe zwar einige Phrasen ins Booklet drucken lassen, die mir gefallen, kann dir aber trotzdem nicht sagen, was sie im Speziellen bedeuten. Ich bin mir sicher, ob das irgendwas zu bedeuten hat, aber das liegt wohl irgendwo in meinem Unterbewusstsein begraben.

Die Arbeit an den Texten unterschied sich eben sehr von anderen Werken. Manchmal sind Texte eben ein weiterer Aspekt der Musik und müssen nicht zwingend poetisch sein. Der Singer/Songwriter John Martyn zum Beispiel hasst Lyrics so sehr, dass er manchmal so singt, dass du kaum verstehen kannst, was er da überhaupt von sich gibt. Auch wenn er Texte in einem Song nicht mag, mag er das Gefühl und den Ausdruck der Stimme. Manchmal ist mir dieser Ansatz sehr sympathisch. So kann man die Stimme auch als ein weiteres Instrument einsetzen.

Du hast dich also eher darauf konzentriert, eine bestimmte Atmosphäre aufzubauen?

Ich denke schon. Dieses Album ist vom spieltechnischen her gesehen nicht sonderlich ausgeklügelt. Der "Twilight"-Song vielleicht, aber der Rest des Album ist von der Performance her recht simpel gehalten, die Komplexität kommt mit der Produktion, mit der Art, wie die Klänge übereinander geschichtet sind und wie das Sound-Design ausgestaltet ist; im Mix sind immer interessante Dinge zu hören. Das ist ebenfalls wieder ein Unterschied zu Porcupine Tree, wo es eine starke Betonung des musikalischen Könnens gibt. Speziell beim Drummer. Gavin spielt hier zwar auch mit, aber ich habe ihm extra gesagt, er soll nichts Extravagantes sondern nur die puren Rhythmen spielen. Es klingt zwar immer noch nach ihm, weil er so ein einzigartiger Musiker ist, aber es ging mir diesmal viel mehr um den Aufbau, das Gefühl und die Atmosphäre der Musik.

Bei den Einflüssen, die man auf "Insurgentes" heraus hören kann, fallen einem zuerst Nine Inch Nails ein ...

Absolut. Auf jeden Fall! Speziell der Trent Reznor-Einfluss. Trent ist als Produzent einer meiner größten Einflüsse. Seine Verwendung von purem digitalen Krach ist so etwas wie ein filmisches Instrument. Ein Song, auf den ich besonders stolz bin, "Get What You Deserve", beginnt als sehr einfache Piano-Ballade, die schrittweise von dieser größer werdenden Wand aus Krach zerstört wird. So etwas zu machen hat etwas sehr Filmisches. Etwas Zerbrechliches und Schönes nehmen und darauf herum zu trampeln. Das sieht man auch oft in Filmen, wenn eine vormals harmonische Stimmung in Traurigkeit oder Wut abgleitet. In der Musik gibt es das nicht allzu oft. Die Stimmung ist entweder fröhlich oder traurig. Was ich an Trents Sachen so mag ist das Nebeneinanderstellen von Schönheit und Brutalität im selben Song. Im Kontext meiner Musik ist das etwas Neues.

"90% der Musik wird heute über beschissene kleine Kopfhörer gehört"

Auf der DVD sieht man dich im Lasse Hoile-Film wieder bei deinem Kreuzzug gegen iPods. Ist das für dich ein Privatkrieg, den du gegen diese Dinger führst?

Der iPod ist eher ein Symbol. Ich hasse iPods jetzt nicht zwangsläufig, ich hasse eher das, was sie repräsentieren. Musik ist heutzutage vielmehr ein simples Verbrauchsgut, das nicht unbedingt für Qualität steht. Um fair zu bleiben, dank dieser Dinger wird heute mehr Musik gehört. Aber 90% der Musik wird heutzutage als komprimierte Datei über beschissene kleine Kopfhörer oder beschissen klingende Laptop-Boxen gehört. Das stimmt mich schon traurig. Denn auch wenn es normal ist, Musik auf diese Weise zu hören, die Qualität ist doch um einiges geringer. Dass ich im Film iPods verbrenne und zerstöre ist eher in dem Sinne gemeint, dass ich ein Statement abgebe. Ich will sicher nicht, dass die Leute aufhören, mit iPods Musik zu hören, aber gleichzeitig ist es wichtig, daraus Diskussions-Stoff zu machen. Speziell für die Jüngeren, die denken, dass Musik eben genauso wie auf iPods klingen muss. Produzent Trevor Horn ist in dem Film zu sehen und bringt es auf den Punkt. Wenn du bislang immer MP3s gehört hast und dir das Zeug zum ersten Mal auf einer CD oder eine Vinyl-Schallplatte anhörst, bekommst du den Schock deines Lebens, du wirst den Unterschied kaum glauben können.

Den Jüngeren ist das gar nicht wirklich klar. Die denken, dass sie Musik so hören, wie es vom Künstler beabsichtigt ist, und das ist einfach nicht wahr. Es ist ungefähr so, als ob du auf eine Fotokopie eines Picassos schaust. Es ist einfach nicht dieselbe Erfahrung.

Der Qualitätsaspekt steht dabei gar nicht mal so sehr im Vordergrund. Die Frage ist doch eher, wie die Kids Musik erfahren. Heutzutage ist das Hören von Musik ja nur mehr Konsum und keine künstlerische Erfahrung.

Das ist der andere Aspekt. Du kannst ja mittlerweile den kompletten Katalog eines Künstlers ratzfatz runterladen und genauso schnell wieder löschen. Da gibt es keinerlei Investition mehr, weder was Zeit Energie oder Geld betrifft. Wie ich im Film gesagt habe, als Jugendlicher musste man da schon einigen Aufwand betreiben, um neue Musik zu entdecken. Du musstest das Zeug kaufen, du musstest Plattenläden durchstöbern. Ich bin in einem kleinen Kaff aufgewachsen und konnte froh sein, wenn sie ein Album von Frank Zappa im örtlichen Laden stehen hatten. Wie finde ich also den Rest der Zappa-Alben? Ich musste mein Taschengeld beisammen halten und nach London fahren. Jetzt kann man sich das Zeug mit einem Klick aus dem Netz runterladen. Ist das etwas Positives? Es scheint so zu sein, denn die ganze wunderbare Welt der Musik ist sehr einfach erhältlich. Das Problem liegt in der Natur des Menschen. Wenn du nichts dafür investieren musst, wirst du es auch nicht wertschätzen. Das fehlt den Kids heute einfach. Für die ist Musik ein Wegwerfartikel.

Du verkaufst deine Mucke aber auch als Download.

Natürlich! Wir müssen. Am Ende des Tages möchte ich, dass so viele Leute wie möglich meine Musik hören. Ich mache Musik nicht nur für Leute mit Plattenspielern oder für diejenigen mit Surround-Anlage. Ich mache 5.1.-Mixe für die, die das mögen, aber ich bin mir trotzdem im Klaren darüber, dass die meisten "Insurgentes" als digitalen Dowanload hören werden. Sollte ich es lieber verbieten? Natürlich nicht! Ich möchte, dass meine Musik gehört wird. Wenn ich die Wahl hätte, ob man meine Musik im beschissenen MP3-Format hört oder gar nicht, soll sie sie doch im beschissenen Dateiformat gehört werden. Auch wenn ich auf der einen Seite für bessere Soundqualität kämpfe, muss ich die Leute doch erst einmal für meine Musik begeistern. Wenn mir das gelingt, dann habe ich sie an der Angel und kann sie vielleicht auch mit Hilfe des Films davon überzeugen, die Musik in einer besseren Qualität zu hören. Die meisten werden einen Scheiß drauf geben, aber einige eben nicht. Ich verfolge beide Extreme. Ich mag MP3s einfach nicht. Vielleicht bin ich einfach zu altmodisch.

Jep, wir sind beides alte Fürze

Aber weißt du was? Es gibt Kids da draußen, die sich sehr wohl für Vinyl interessieren. Ich weiß das, weil ich selbst Exemplare dieser Spezies kennen gelernt habe. Speziell die Metal-Kids stehen komplett auf Vinyl und Tonträger, die in einer schönen Verpackung daher kommen.

Eigentlich schade, dass das so wenige Bands machen.

Es scheint so zu sein, dass eher die kreativen Künstler so etwas machen. Radiohead, Trent Reznor, Portishead. Kanye West und P. Diddy interessieren sich nicht dafür. Die sind ohnehin keine kreativen Musiker. In meinen Augen sind das keine Musiker, sondern nur Entertainer. Deshalb interessieren sie sich auch nicht für die Verpackung. Wir kreativen Künstler - ich bin so frei und bezeichne mich mal so - beschränken uns nicht nur auf die Musik. Das schließt das Artwork, Videos, die Art, wie die Live-Show aussieht, die Homepage ein. Kreativität hört ja nicht auf, wenn du die fertige Musik bei der Plattenfirma oder wem auch immer ablieferst. Ebendies sieht man aber nur bei wirklichen Künstlern und nicht bei den ganzen Bullshit-Entertainern.

Ihr seid ja mit Porcupine Tree schon wieder dabei, ein neues Album aufzunehmen. Hast du noch ein paar Worte über, wohin die Reise diesmal gehen soll?

Ja, wir haben gerade angefangen. Ich bin mir noch nicht sicher. Ich habe einen 55-minütigen Song-Zyklus geschrieben. Kann sein, dass daraus das Album entsteht. Ein bisschen weniger Metal und dafür ein wenig von dem, was auf dem Solo-Album ist. Wir werden sehen, ich bin mir noch nicht so ganz schlüssig. Aber es wird nach Porcupine Tree klingen.

Steven, danke für das Gespräch.

Es war mir ein Fest.

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