11. Februar 2025
"Die weibliche Ambient-Szene ist faszinierend"
Interview geführt von Rinko HeidrichAm Freitag erscheint "Golden Years", das mittlerweile 14. Studioalbum der Hamburger Indie-Institution. Wir sprachen mit Sänger Dirk von Lowtzow.
"Wie Wir Leben Wollen" hieß einst ein Album von Tocotronic. "Überleben oder über Leben" wäre mittlerweile auch kein schlechter Albumtitel. "Nie Wieder Krieg" verarbeitete 2022 die dunkle Zeit der Pandemie-Jahre, am Freitag folgt mit dem 14. Studioalbum "Golden Years" eine Betrachtung der Verwerfungen, die im Leben und in der Gesellschaft auftauchen. Ein dunkles Thema für ein Album, das auch auf unser Interview abfärbt.
Guten Morgen, Dirk. Ein neues Jahr hat begonnen, mit welchen Gefühlen schaust du auf die kommende Zeit?
Dirk: Ach, ich verbinde mit Neujahr im kalendarischen Sinne nicht besonders viel. Ich schaue aufgrund unserer Releases und der Tour positiv gestimmt auf den Februar, aber davon abgesehen ist meine Grundstimmung nicht so euphorisch. Es passieren aktuell in der Welt und hier Deutschland Dinge, die mir sehr große Angst bereiten: der Amtsantritt von Donald Trump Ende Januar und das Abschneiden der AfD bei der Bundestagswahl. Auch sonst schaue ich sorgenvoll auf die Lage in der Ukraine. Ich denke dir und vielen anderen ergeht es gerade ähnlich. Auf unser Album bezogen bin ich natürlich glücklich. Das ist immer noch ein besonders schöner Moment, wenn etwas, woran man zwei Jahre gearbeitet hat, endlich erscheint.
Sind einige der Songs schon während oder kurz nach "Nie Wieder Krieg" entstanden?
Dirk: Nein, nicht während des Aufnahmeprozesses, aber wir konnten nach der Fertigstellung von "Nie Wieder Krieg" wegen Corona-bedingten Konzertabsagen nicht sofort auf Tour gehen. Wenn ich nicht komplett falsch liege, haben wir im Januar 2022 mit den ersten Songs angefangen und konnten erst im späteren Verlauf des Jahres wirklich auf Tour gehen. Genau in dieser Wartezeit sind die ersten Stücke entstanden. Der erste Song "Der Tod ist nur ein Traum" ist nach meiner Erinnerung auch tatsächlich der erste Song in dieser Zeit gewesen sein.
An diesem Song liebe ich ja diesen verspulten Verfremdungseffekt direkt am Anfang. Wie ist der eigentlich entstanden?
Dirk: Ich glaube, das ist ein Melotron-Effekt. Es geht jedenfalls stark in die Richtung. Wie unser Produzent Moses Schneider diesen Effekt aus seiner Zauberkiste geholt hat, gehört zu seinen vielen großen Tricks. Wir sagen ihm dann, ob wir es super oder eher nicht so gut finden. Aber ich weiß, was du meinst: Dieser Sound am Anfang vermittelt das Gefühl, dass man zwischen Traum und Wirklichkeit festsitzt und schwebt. Das mochte ich natürlich sehr gerne, weil der Song auch eine Art Traumtext beinhaltet.
Aus meiner Interpretation heraus nimmt der Song dem Tod den realen Schrecken und wandelt ihn sogar in etwas Versöhnliches um.
Dirk: Ja, obwohl das natürlich gelogen ist. Der Tod ist sehr real und leider kein Traum, aber es soll auf jeden Fall einen gewissen Halt für eine Person geben, die einen geliebten Menschen verloren hat. Der Song soll also Trost spenden, ohne zu pazifizieren oder mit einer "Ruhigstellung" rüber zu kommen. Wirklichen Trost kann Kunst auch nur dann bieten, wenn sie die Zerrissenheit der menschlichen Existenz widerspiegelt, sonst wird es nur noch reines Beruhigungsmittel oder Sedativum. Das möchte man ja eigentlich nicht, aber ich hoffe diese Gratwanderung gelingt, allein durch die Verrückung des Buchstabens "a" und "e" bei den Worten fast und fest.
Eigentlich erwartet man, dass das lyrische Ich in dem Song "Du kannst mir fest vertrauen" singt - und nicht stattdessen "fast". Mit "fast vertrauen" drückst du eigentlich "Du kannst mir nicht vertrauen" aus. Hier gibt es ja keine zwei Möglichkeiten: Entweder ist Vertrauen da oder nicht. Aber genau solche Brüche oder Stolperstellen sind wichtig, dass man glaubhaft Halt und Trost versprechen kann. Es wäre sonst reine Heuchelei.
"Ich bin großer Drone- und Ambient-Fan"
Es geht auch um einen Zwischenraum bei solchen Texten. Diese Koexistenz von Traum und Realität, Drama und Freude. Das liegt nahe beieinander. Letztes Jahr tauchte etwa die Nachricht in meinem Feed auf, dass der Musikjournalist Jan Wigger verstorben ist. So eine Nachricht vom Tod eines Menschen, den man wirklich sehr mochte und zu dem man auch aufschaute, reißt einem den Boden unter den Füßen weg. Du bist erstmal in einem unwirklichen Moment gefangen.
Dirk: Es ist schön, dass man in Promo-Interviews für ein neues Album auch solche Gespräche führen kann. Wie du richtig sagst: In der Biografie von vielen von uns finden sich mittlerweile Brüche und Verluste. Ich glaube, Verluste sind ein sehr wichtiges Thema, über das man nicht oft genug sprechen kann. Jan Wigger kannte ich auch lange, lange Jahre und natürlich auch als Praktikanten von unserem Label L'Age D'Or. Ich denke natürlich auch an den plötzlichen Tod meines Freundes, dem Theatermacher René Pollesch. Das sind alles sehr einschneidende Erfahrungen, die einen sehr mitnehmen.
Mir fällt gerade eine andere Begegnung mit dem Tod ein. Ich war letztes Jahr auf dem Friedhof in Hamburg, dessen Namen mir natürlich genau jetzt nicht mehr einfällt ...
Dirk: Der Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf?
Ja genau! Also ich ging jedenfalls über diesen wirklich schönen Friedhof, auf dem sich Menschen mit teilweise lächerlich pompösen, aber mitunter auch berührenden Grabstätten von unserer Welt verabschieden. Plötzlich sah ich vor einer Kapelle lauter bunte Stände. Das war erstmal etwas verstörend, aber als dann bemalte Menschen zu lauter Musik aus der Kapelle strömten, war klar, dass es sich um eine mexikanische "Día de los Muertos"-Feier handelt. Das war nach den traurigen Monaten ein versöhnlicher Moment.
Dirk: Das stimmt. Da fällt mir ein, dass wir zu unserem Album "Pure Vernunft Darf Niemals Siegen" auch ein Lied mit dem Namen "Tag der Toten" geschrieben haben, also die genaue Übersetzung von "Día de los Muertos".
Im christlichen Glauben ist der Tod ja etwas Endgültiges und sehr Schweres. Die Beerdigungen laufen nach einem Muster ab, dass die eh schon große Traurigkeit noch verstärkt. Sorry, irgendwie bleibe ich gerade an dem Thema hängen ...
Dirk: Nee, das ist doch gerade gut, wenn man abseits der üblichen Themen in so einen Bereich vordringt und sich dadurch neue Themenfelder ergeben.
Okay, dann bleiben wir dabei. Du hast vor ein paar Jahren einen Song namens "Tod in Theben" veröffentlicht. Es war, wenn ich mich recht erinnere, ein Instrumental-Song für eine Theateraufführung von Jon Fosse. Beim Wiederhören war ich erstaunt, wie Drone und Ambient der Song eigentlich ist. Man vergisst ja manchmal eure Projekte neben Tocotronic, die teilweise ganz anders klingen.
Dirk: Ein Freund der Regisseurin Angela Richter, die dieses Stück von Jon Fosse bei den Salzburger Festspielen aufführte, hat das damals in Auftrag gegeben. Ich habe das Stück selbst gar nicht gesehen, sondern nur die Musik dazu geliefert.
Ich fand es spannend, so eine Drone-Seite hatte ich nicht erwartet, dabei habt ihr ja neben Tocotronic einige andere Betätigungsfelder.
Dirk: Ich bin großer Drone- und Ambient-Fan. Das ist eigentlich die Art Musik, die ich privat am meisten höre. Für dieses Theaterstück konnte ich das mal ausleben, ebenso für den Soundtrack des Films "Styx". Das ist ein sehr schöner Film von Wolfgang Fischer; der Musikanteil ist eher gering, aber es geht auch stark in die Richtung Ambient-Drone.
"Die Kürzungen im Kulturbereich werden leider nicht aufhören"
Kannst du dich dann auch für Bands wie Sunn O))) begeistern?
Dirk: Ja, zum Beispiel. Sunn O))) ist eine Band aus den Nullerjahren, die mich auch geprägt haben. So aus heutiger Sicht finde ich das aber auch ziemlich Macker-mäßig, das hat so einen maskulinen Anstrich. Mir fällt dann doch auf, dass ich Ambient-Musik/Drone-Sachen von Frauen bevorzuge. Da gibt es eine große, faszinierende Szene, von denen ich ein Riesenfan bin. Das ist Musik, die ich gerne privat höre, also non-vokale Musik. Wenn ich überhaupt mal Musik höre. Es ist für mich schwierig, außerhalb von Tocotronic Musik mit Gesang zu hören. Ich kann eine ganz tolle Künstlerin empfehlen: Éliane Radigue. Sie macht schon sehr lange Musik und entwirft trotz ihres hohen Alters immer noch stundenlange Drone-Symphonien mit Modular-Synthesizern.
Oh, Frankreich. Eine gute Brücke zu Zaho De Sagazan, von der du auch Fan bist, wie ich dem Reflektor-Podcast von Jan vernommen habe. Ich durfte sie letztes Jahr auf dem Rock-En-Seine-Festival sehen und bin auch total begeistert. Was für eine Energie!
Dirk: Ja! Sie hat auf ihrem Album "La Symphonie des éclairs" auch viel mit Modular-Synthesizern gearbeitet und ist großer Kraftwerk-Fan. Ich finde, sie hat auch eine unfassbar sympathische Art und eine total offene Ausstrahlung. Man hat in den letzten Jahren selten eine Musikerin erlebt, die so von innen heraus leuchtet und wo man das Gefühl bekommt, man möchte diesem Menschen alles vor die Füße legen.
Ich war auch direkt verzaubert. Es ist so eine komplette Neuordnung eines Genres, von dem ich ehrlich gesagt auch nicht so wahnsinnig viel weiß.
Dirk: Ja, sie ist wirklich super! Auch ihr Auftritt in Cannes war herzzerreißend und mitreißend.
Zurück zu euch und eurem neuen Song "Bye, Bye Berlin". Steckt dahinter ein wirkliches Vorhaben oder steht er symbolisch für das Ende einer gewissen Ära?
Dirk: Er ist auch eine Reminiszenz an den amerikanischen Künstler Austin Martin White und sein Gemälde "Bye Berghain - Fire At The Church Of Club". Der hat sich sehr mit Club-Kultur beschäftigt, aber als schwarzer Künstler auch viel mit Kolonialismus. Ich fand das Bild direkt wahnsinnig faszinierend und der Titel hat mich zu diesem Lied inspiriert. Die Idee dahinter ist eine Art Vogel, vielleicht auch Zugvogel-Perspektive auf Berlin, wo man fast wie bei Hitchcocks Vögel auf das brennende Berghain runter schaut. Das Bild fand ich extrem stark. Ich lasse mich im Songwriting oft von solchen Bildern bewegen oder antreiben. Diese Mehrdeutung des Titels fanden wir in der Band auch ganz witzig, weil man dahinter natürlich auch andere Absichten vermuten könnte.
Ich finde es zum jetzigen Zeitpunkt ganz spannend, weil eine große Veränderung in der Club-Kultur Berlins stattfindet, angetrieben von dieser Kahlschlag-Politik und ihren Kürzungsorgien. Dies ist eine weitere Ebene von "Bye Bye Berlin", weil das Kulturleben die Stadt Berlin ja auszeichnet und lebenswert macht. Die Kürzungen werden in dem Bereich aber leider nicht aufhören, und vielmehr auch vor dem Sozialwesen und der Jugendarbeit nicht Halt machen. Vielleicht markiert "Bye Bye Berlin" den Anfang eines Endes von Berlin als vorwärtsgehende Stadt. Insofern hat das Stück, das eher als Insider-Witz geplant war, diese Aktualität hinzu bekommen. Es ist somit plötzlich auch politisch geworden.
Zum Schluss möchte ich noch kurz sagen, wie schön ich deinen Auftritt in "Hallo Spencer" fand. Ein Traum! Meine Kindheit und die Adoleszenz in einem Film.
Dirk: Das war ein schöner Zufall, weil unser Freund Timo Schierhorn dafür verantwortlich war. Er hat mich nach einer kleinen Gastrolle angefragt und ob ich nicht mit den Quietschboys ein Lied zusammen performen möchte. Es war eine ganz wunderbare Erfahrung, weil ich schon immer mal mit so Klappmaul-Figuren wie in "Hallo Spencer" oder auch "Sesamstraße" auftreten wollte. Es war spannend, hinter die Kulissen einer solchen Produktion zu schauen, und wie solche Puppen zum Leben erweckt werden.
Warum habt ihr eigentlich nie ein Musikvideo mit solchen Klappmaul-Figuren gedreht?
Dirk: Wir hatten das mal vor, ich glaube für "Aber Hier Leben, Nein Danke". Das ist aber gar nicht so einfach zu realisieren und nun konnte ich in "Hallo Spencer" aus nächster Nähe sehen, mit welch großem Aufwand das verbunden ist. Aber das ist eigentlich eine gute Idee mit den Figuren und ich behalte das mal im Hinterkopf.
Okay, dann gehen wir doch beide etwas weniger betrübt aus dem Interview. Kunst überlebt den Tod und transformiert auch gerne das Unsagbare in etwas Schönes. Also das habe ich mir gerade noch zurecht gelegt.
Dirk: Haha, sehr schön, ich pflichte dir bei.
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