laut.de-Kritik

Die goldenen Jahre behalten das Ende immer im Blick.

Review von

Es gibt viele Dinge, die Tocotronic in ihrer hyperbolischen Welt erstürmen, aufbauen und verteidigen konnten. Die unerschütterliche Realität des Todes überschreitet jedoch die Grenzen zwischen Wunsch nach Unendlichkeit und Wirklichkeit. Das bedrückende Thema drängt gerade ab der Lebensmitte immer weiter in den Vordergrund und jede Bemühung, ein großes Kind in einer kalten Erwachsenenwelt zu bleiben, weiter zurück.

Der Tod war bereits mehrfach zu Gast: Zunächst verklausuliert-monumental im Abschiedslied "17" vom sowieso düsteren Album "K.O.O.K", später noch einmal deutlich in "Unwiederbringlich", einer melancholischen Winterreise mit tragischem Ende, begleitet von Oboen-Klängen und einer fast fröhlichen, klaglosen Melodieführung. "Der Tod Ist Nur Ein Traum", der sanfte Einstieg in "Golden Years", erlaubt sich ebenfalls keine Deutung, aber wagt den Schritt in eine Zwischenwelt, in der sich Leben und Tod verständigen.

Dirk von Lowtzow erhebt nicht den Anspruch, genau zu wissen, was nach dem Ende des Lebens geschieht. "Du kannst mir fast vertrauen", ein Spiel mit den Wörtern "fest" und "fast", lässt bewusst kleine Zweifel zu. Was sich hinter dem Vorhang verbirgt, bleibt rätselhaft - und so verharrt auch der Hörer in einem Zustand zwischen Hoffnung und Zweifel. Den Songtitel habe er dem Film "Vortex" von Gaspar Noé entnommen, behauptet Dirk, vielleicht eine Finte, um die Interpretationen seiner Texte in die Irre zu führen. Immerhin bleibt hier der Glaube an einen sanften Übergang in die Zwischenwelt.

Keine Versöhnung mit einem weiteren Schrecken erfolgt in "Denn Sie Wissen, Was Sie Tun". Das Schreckgespenst des Faschismus, der lange als besiegt galt, feiert in diesen Tagen seine Auferstehung. Es gäbe viele Möglichkeiten, auf diverse sprachliche Tabubrüche der blauen Krawall-Partei zu reagieren, aber Hass mit Hass zu begegnen, bleibt für die Tocos keine Option. "Darum muss man sie bekämpfen, denn es werden immer mehr / Darum muss man sie bekämpfen, denn sie werden zahlreicher / Darum muss man sie bekämpfen, aber niemals mit Gewalt / Wenn wir sie auf die Münder küssen, machen wir sie schneller kalt."

Eine schöne und auch naive Vorstellung - von dem Kurt Tucholsky-Gedicht "Rosen auf den Weg" entliehen - wie wir komplett empathielose Menschen doch noch erreichen könnten. Die Sorge, vielleicht nur ein paar Jahre vor einer neuerlichen Übernahme von Faschisten zu stehen, nimmt einem dieser Menschlichkeitsappell natürlich auch nicht. Gerade bei einem Zeitgeist, der Sanftmut gerne mit weichlicher Schwäche gleichsetzt und unverhohlen mit rechtem Übermenschen-Gedankengut sympathisiert. Eine versöhnliche Handreichung, so stellte von Lowtzow in einem Podcast-Beitrag klar, stand nicht zur Debatte, vielmehr ein Gegenentwurf zur maskulinen Hass-Rethorik der Faschisten. "Harmonie Ist Eine Strategie", das wissen wir ja bereits seit "Kapitulation".

Ernste Themen und Grübeleien auf dem Album einer Band, die dennoch gerne mit ihrem eigenen Humor kokettiert. Das schön rauschig-knisternde "Mein Unfreiwillig Asoziales Jahr" bringt mit seinem albernen Titel zumindest kurz Heiterkeit, auch wenn das lyrische Ich hier eher in Agonie erstarrt und sorgenvoll in die Zukunft blickt. Es sind kleine Mini-Dramen, die sich abspielen, so kämpft "Ein Rockstar Stirbt Zum Zweiten Mal" mit Bedeutungsverlust. "Es ist nur ein Wimpernschlag bis zum Jüngsten Tag": Die Hölle öffnet ihre Pforten, doch der Rockstar landet nur im Hospital. Ein überraschend harter Rocksong, besonders in Anbetracht der letzten Alben, die eine Transformation Richtung Pop durchliefen.

Weniger Arrangement, dafür kompromisslos nach vorne, das dürfte Fans der Hamburg Years durchaus gefallen. Eine Phase, in der Tocotronic ihren Idolen Dinosaur Jr. und Hardcore-Punk-Bands nacheiferten. Auch "Bye Bye Berlin", eine leicht sarkastische Anklage der Berliner Kahlschlag-Politik, flirtet wieder mehr mit dem Lo-Fi-Pastiche der frühen Tage. In dem wunderbaren Tele-Song mit dem gleichen Titel ging es vor achtzehn Jahren noch um das Ankommen in der hektischen Hauptstadt und all ihren Möglichkeiten, bei Tocotronic steht das Ende einer wunderbaren Utopie im Raum.

Dirk klingt logischerweise reifer als noch zu Zeiten von "Freiburg". Es ist eine ruhigere Tonlage, die mehr Lakonie als ungestüme Wut verströmt. So spiegeln Tocotronic das Lebensgefühl wider, das in der Mitte des Lebens auftaucht: Das bedrohliche Auftauchen der Vergänglichkeit, eine Routine, die Leidenschaft in Alltäglichkeit verwandelt und der innere Konflikt, ob nach all dem Drama noch ein Reboot nötig ist. "Ich Schreibe Jeden Tag Einen Neuen Song" wirkt in seiner repetitiven Aufzählung des Songwriting-Prozesses zuerst unspektakulär, aber bringt es sehr gut auf den Punkt: "Ich schreibe jeden Tag einen neuen Song über die Grausamkeit / Ich schreibe jeden Tag einen Song über die Zeit, die noch bleibt", aber auch "Und dann fange ich wieder von vorne an".

Weil es immer weiter geht und auch Schmerzen vergänglich sind. Es fühlt sich an, als ob Tocotronic mit "Golden Years" eine Trilogie über Leben, Tod und Unendlichkeit beenden. Eine Zeit, die uns allen viel Kraft, Mut und Hoffnung kostete, aber auch daran erinnerte, was Menschlichkeit bedeutet. So ist mit "Golden Years" vielleicht die Zeit gemeint, die wir miteinander und nicht mehr gegeneinander verbringen.

Trackliste

  1. 1. Der Tod Ist Nur Ein Traum
  2. 2. Bleib Am Leben
  3. 3. Golden Years
  4. 4. Ein Rockstar Stirbt Zum Zweiten Mal
  5. 5. Denn Sie Wissen, Was Sie Tun
  6. 6. Mein Unfreiwillig Asoziales Jahr
  7. 7. Niedrig
  8. 8. Vergiss Die Finsternis
  9. 9. Wie Ich Mir Selbst Entkam
  10. 10. Bye Bye Berlin
  11. 11. Der Seher
  12. 12. Ich Schreibe Jeden Tag Einen Neuen Song

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11 Kommentare mit 26 Antworten

  • Vor 6 Tagen

    Allein schon die Zitate mal wieder... :eyeroll:

    Bleibt konstant Musik für die penetrant langweiligsten, unbeweglichsten, selbstgerechtesten Zeitgenossen. Bestes Qualitätsmerkmal: Hören bleibt optional.

    • Vor 6 Tagen

      Damit hast du deine Persönlichkeit ja perfekt beschrieben, du alter, linksextremer Deutschlandhasser und Russlandliebhaber.

    • Vor 6 Tagen

      @Ragi …
      Finde das Album auch furchtbar dröge. Sowohl textlich als auch musikalisch.
      Dennoch mag ich einige Toco Album sehr gerne. Habe sicher auch mal langweilige Phasen. Aber als unbeweglich und selbstgerecht würde zumindest ich mich nicht bezeichnen.
      Du vllt auch nicht, würdest du mich kennen. Aber egal. Wird sich eh nie ergeben.
      Welche deutschsprachige Musik taugt dir denn? Ganz unironisch gefragt. Interessiert mich einfach.

    • Vor 6 Tagen

      "Welche deutschsprachige Musik taugt dir denn? Ganz unironisch gefragt. Interessiert mich einfach."

      Es müsste hierzu mit Witz, Spiel und Charme Geschichten erzählt werden, die nah am Alltag sich bewegen und dennoch Lehrreiches für alle Lebenslagen zum Weitererzählen zu bieten haben.

      Im Englischen ist das einfach. Dort gibt es das wunderschöne Wort "sparkle" und man muss lediglich "No Matter What They Say" weglassen. Schon unfair.

    • Vor 6 Tagen

      "Dirk von Lowtzow erhebt nicht den Anspruch, genau zu wissen, was nach dem Ende des Lebens geschieht. "Du kannst mir fast vertrauen", ein Spiel mit den Wörtern "fest" und "fast", lässt bewusst kleine Zweifel zu. Was sich hinter dem Vorhang verbirgt, bleibt rätselhaft - und so verharrt auch der Hörer in einem Zustand zwischen Hoffnung und Zweifel."

      Haben wir hier einen Wiesel-Fan in der Redaktion :lol:?

    • Vor 6 Tagen

      @Losti
      Kann leider kein Englisch.
      ¿Qué música en alemán le gusta?

    • Vor 5 Tagen

      @Giz: Ach, ab und zu wird denen schon was gelungen sein, würde ich nicht ausschließen. Jedem Tierchen sein Pläsierchen, und jeder macht andere Lebensphasen durch, logisch. Die ungefähre Zielgruppe der Band sieht für mich so aus, und das sollte für Dich nix bedeuten. Erst recht nicht, ob Du Dich dazu zählst oder nicht.

      Die deutsche Sprache empfinde ich schon als komplett unmusikalisch, ähnlich wie Französisch. Die zeichnen sich nicht gerade dadurch aus, besonders interessante Melodien anzubieten, weswegen es meistens auf eher monotonen Singsang oder Sprechgesang hinausläuft. Melodien und Harmonien sind mir hundertmal wichtiger als Texte, also finde ich grundsätzlich weniger Angebot im deutschen (oder französischen) Sprachraum, mit dem ich was anfangen kann. Wenns dann noch nichtssagendes, befindliches, gefühlloses Geschwurbel ist, schalte ich endgültig ab.

    • Vor 5 Tagen

      Putinknecht Ragism. Geht dir jetzt einer ab ob Trumps "Friedensplan"? Ekelhaft.

    • Vor 5 Tagen

      @c4
      Ich hätte eine interessante Reiseempfehlung für dich. Du scheinst ja sehr viel Leidenschaft zu haben. Pack dir nen' Survival-Schlafsack ein, wird kalt. Sind übrigens noch Plätze im Bus frei, falls du noch Freunde hast. Man soll ja stets gleiche Interessen teilen.

    • Vor 5 Tagen

      @Ragi
      Mir fallen auch nur wenige deutschsprachige Künstler ein, die mich kontinuierlich packen. Denke, dass diese unfassbar unangenehmen deutschsprachigen Radiohelden wie Giesinger einem die Lust auf die deutsche Sprache völlig vergällt haben.
      Aber es gibt immer noch einige tolle Bands, die selten enttäuschen. Für mich wären das Fliehende Stürme, EA80, Rachut Kram oder Fehlfarben.
      Gerade was Harmonien und Texte angeht, sind die Stürme herausragend.

    • Vor 4 Tagen

      Ne, das geht mir nicht erst seit Giesinger so. Der Inhalt der Texte ist für mich erst mal sehr unwichtig - weswegen ich Rap idR. auch wenig abgewinnen kann. Es ist vor allem der Klang dumpfer, verschluckter Vokale in der deutschen Sprache, der sehr wenig Raum für Melodien lässt. Mit diesen Vokalen ist es kaum möglich, mehr als Sprechgesang zu machen oder etwas zu skandieren. Daher auch der Vergleich mit Französisch, wo ebenfalls kaum der Mund aufgemacht wird bei Vokalen, nur dass da noch hässliche Würgegeräusche dazukommen.

      Die Bands, die Du aufgezählt hast (vielleicht mit Ausnahme von Fehlfarben) sind eher postpunkig, wavig. Die Musikrichtung war schon immer kompatibel mit Deutsch, weil dort auch selten große Tonumfänge zu finden sind. Melodien bewegen sich idR. In einer engen Range von ungefähd einer Quarte. Hätte prinzipiell auch nicht so viel dagegen, deutsche Bands zu hören, wenn ich Bock auf diese Genres habe.

      Grundsätzlich weiß ich aber bei hiesiger Musik, daß ich musikalisch kaum etwas bekommen werde, was ich wirklich lieben kann. Ich brauche Dynamik, aufregende Melodien usw. Dafür braucht es auch Sprachen, welche Vokale wirklich klingen und singen lässt, imho.

    • Vor 4 Tagen

      Für dieses peinliche Gefasel wurde der Augenrollsmiley erfunden, ma sagen.

    • Vor 4 Tagen

      Ich gelobe Besserung und versuche in Zukunft, mich mehr dafür zu interessieren, was Ski Aggu oder Shirin David so posten

    • Vor 4 Tagen

      Wenn ich so recht darüber nachdenke, klingt Französisch tatsächlich so, als wäre es reine sprachliche Provokation gegen die damals Herrschenden gewesen, eine Anti-Sprache sozusagen. Klingt auch irgendwie sehr bäuerlich. Ich denke, da hat Ragi einen Punkt. Im Schlimmsten Falle ist es Gefusel und kein Gefasel.

    • Vor 4 Tagen

      ... ich spreche jetzt nur noch Französisch auf der Arbeit, wenn mir Aufgaben übermittelt werden. Und wenn ich auf ein Date gehe am Besten auch.

    • Vor 4 Tagen

      Genau mein Punkt, Wiesli. Wenn du ner Frau zeigen willst, dass du ein richtiger Bad Boy bist, der sich an keine Regeln hält, dann rede konsequent nur Französisch mit ihr. Ziemlich egal, obs korrekt ist; selbst wenn sie Französisch kann. Genau das ist der Punkt im Französischen: "Ihr könnt mich mal alle" sagen.

  • Vor 6 Tagen

    Mochte die früher ja sehr, aber mittlerweile ist das ganze ja wirklich längst auserzählt

  • Vor 6 Tagen

    Die letzte Platte noch mal deutlich unterboten. Deutsche Kritiker halt trotzdem immer: "Oh, eine neue Tocotronic LP. Ungehört 8/10".

  • Vor 5 Tagen

    Dieser Kommentar wurde vor 5 Tagen durch den Autor entfernt.

  • Vor 5 Tagen

    Tocotronic ist einfach die Studentenversion von Unheilig.

  • Vor 5 Tagen

    Es ist natürlich anders, als so mancher hier subjektiv meint: objektiv betrachtet sind jedenfalls die ersten vier Alben der Band absolute Spitzenklasse. Wer anderes behauptet, irrt.
    Das neue Album ist gut. Punkt. Das sage ich als subjektiv Betroffener, denn beim albumtitelgebenden Stück Golden Years ist die Rede von "Freilichtbühne Recklinghausen - wo die öden Winde wehen ... Den ganzen Abend hat's geregnet, aber man muss dankbar sein", also vordergründig ne ordentliche Beleidigung des Konzertortes und ggf. auch -publikums. Ausweislich des in der Rezension angesprochenen Podcasts (Reflektor) ist damit das Konzert vom 06.08.2023 in der Freilichtbühne Dinslaken gemeint, nur dass "Recklinghausen" besser in den Text passte bzw. besser klang. Und ja, es hat die ganze Zeit geschifft wie aus Eimern, ja, es waren nur verhältnismäßig wenige Leute da, aber ja: "man muss dankbar sein". Die Band war es, die Zuhörer nach meinem Empfinden auch, trotz der widrigen Umstände, trotz des fehlenden Charismas der Stadt Dinslaken (gesprochen nicht mit kurzem "i" wie in "Wind", sondern mit langem "i" wie "Dienslaken", lieber Dirk von Lowtzow). Zusammengefasst: wer Tocotronic nicht mag, ist wahrscheinlich backgammonspielender Fahrradfahrer und hat engen Bezug zu Freiburg. Selbst schuld.

    • Vor 3 Tagen

      Wobei die ich die mittlere Phase (das Weiße bis Kapitulation) mittlerweile fast spanneder finde, durch den leicht psychedelischen Hauch, den viele Songs zu der Zeit haben.