laut.de-Kritik

Schwülstige, euphorische Oden für die Akademiker-Disko.

Review von

Beginnt so ein Alterswerk? "Hey! Ich bin jetzt alt / Hey! Bald bin ich kalt / Im Keller wartet schon der Lohn / Ich war keiner von den Stars / Ich war höchstens Mittelmaß / Doch schwere Arbeit war es nicht für mich." Tocotronic-Hassern dürften schon die ersten koketten Assoziationsfetzen von "Im Keller" reichen, um sich in ihren jahrelang gepflegten Resentiments bestätigt zu fühlen, zumal Dirk von Lowtzow sie mit unbändiger Lust am Schwulst dahersingt.

Ja, sie sind jetzt alt. Tatsächlich. Im 20. Jahr ihres Bestehens veröffentlichen Tocotronic, die wegen der Trainingsjacken und Ponyfrisuren, ihres dilettantischen Grunge-Krachs und des rebellischen Sloganizings ungewollt auf ewig Teil einer Jugendbewegung sein dürfen, mit ihrem zehnten Studioalbum "Wie Wir Leben Wollen" so etwas wie das zweite große Scharnierwerk ihrer Karriere.

Das erste war im Jahr 1999 "K.O.O.K" gewesen, ein stoizistischer Brocken, mit dem sich Tocotronic von der authentischen Ich-Perspektive lossagten und in unrockbare Abstraktionen einer allzu verkopften Magisterarbeit flüchteten. Unsere damalige Rezension titelte recht passend: "Hilfe, wir werden erwachsen".

Dabei fand mit dem äußerst sublimen "K.O.O.K." eine Entalltäglichung ihres lyrischen wie musikalischen Bezugsrahmens statt, der Schritt in die Künstlichkeit der Diskurswelt, ohne den Tocotronic heute nur traurige Karikaturen ihrer selbst wären. Die Leser der Spex kürten "K.O.O.K." deshalb kürzlich etwas überraschend, aber nicht von ungefähr zu ihrem Lieblingsalbum.

So ganz vermochte man sich damals eine Zukunft dieser sprachverliebten Meta-Rock-Band dennoch nicht vorstellen, als sie 2003 nach dem weißen Album, diesem kühlen, verwunschenen Pop-Elfenbeinturm, etwas orientierungslos ihren zehnten Geburtstag feierte. Doch dann kamen der Gitarrist Rick McPhail und Produzent Moses Schneider, und mit ihnen die prächtige "Berlin-Trilogie".

Auf den folgenden drei Alben wurden Tocotronic in ihren Kompositionen roher, direkter, romantischer, auf subversive Weise politischer, ja, im besten Sinne widersprüchlicher. Einfach schrammelige Rockmusik war das schon lange nicht mehr. Zum 20. Bandjubiläum treiben sie ihren Ausdruckwillen nun mittels Überzeichnung, Irritation und Negation, der dem linksintellektuellen Regie-Theater entlehnt ist, erneut auf die Spitze.

Drama und Komödie liegen während der 70 Minuten nah beieinander, schließlich umkreisen Tocotronic ein sprachgewaltiges Geflecht rund um Fragen nach Körper und Geist, nach Vergänglichkeit und Befreiung, nach der Dekonstruktion von Kitsch und Geschlecht. Klingt nach schwerem Stoff, jawohl, ist aber für eine Band, die sich im Zweifel immer für ein Dagegen entschieden hat, letztlich eine höhere, durchaus humorvolle Lektion in Sachen Willensfreiheit.

Von der Theatralik, der von Lowtzow in seinem Nebenprojekt Phantom/Ghost nachhängt, ist mehr denn je in Tocotronic eingesickert. Man muss sich den Sänger auf "Wie Wir Leben Wollen" als eine Art Ensemble-Schauspieler mit lauter überzeichneten Rollen vorstellen: Er singspielt den schmachtenden Jüngling, die exzentrische Diva, den pathetischen Revolutionär, den weise brummenden Erzählonkel.

Aber auch die 17 Lieder, sie tänzeln zwischen fast schlagerhaftem Gitarren-Pop mit sattsamer Pedal-Steel und Element-Of-Crime-Pastiche, exaltiertem Musiktheater sowie klassisch dringlichen Toco-Rockismen mit adretten Chören und wattigen Wall-Of-Sound-Eskapismen der ersten Shoegaze-Generation.

Das hehre Ziel von Moses Schneider und Tocotronic, nämlich eine historische Aufnahmetechnik in ein zeitgenössisches, überkomplex dröhnendes Klangbild zu überführen, verliert beim Hören jedoch relativ schnell an Bedeutung. Denn der wohlig verhallende Midtempo-Sound des Albums ist im Grunde nicht mehr als ein warm ausgeleuchtetes, räumliches Bühnenbild, auf dem sich eine maskierte Band eher mittels ihrer Kunstsprache denn ihrer fortwährenden musikalischen Selbstinterpretation ausagiert. Aus den Versen und Metaphern entsteht nämlich erst die eigentliche Dynamik, der (Aber-) Witz und die Wirkungsmächtigkeit der Songs.

Sie machen "Ich will für dich nüchtern bleiben", "Neutrum", "Die Revolte ist in mir" und "Wie wir leben wollen" zu euphorischen Oden für die Akademiker-Disko, in der man wohl auch "Exil" als Individualitätspostulat versteht und mitfistelt: "Sieh mich an / Ich bin ein bleicher Mann der tanzt / Ich bin anders als die anderen".

Die Summe dieser pop-philosophischen Betrachtungen hebt dieses Album mit jedem Hördurchgang aufs Neue in höchste Höhen oder schleudert es in tiefste Tiefen zurück, wenn man partout nur einen überangestrengten Zugang zu der eigenwilligen Poesie Dirk von Lowtzows finden mag. Es könnte also durchaus etwas quietschen, dieses massive, matt glänzende Scharnierwerk. Womöglich öffnet sich damit aber auch eine Tür in eine noch güldenere Zukunft von Tocotronic.

Trackliste

  1. 1. Im Keller
  2. 2. Auf dem Pfad der Dämmerung
  3. 3. Abschaffen
  4. 4. Ich will für Dich nüchtern bleiben
  5. 5. Chloroform
  6. 6. Neutrum
  7. 7. Vulgäre Verse
  8. 8. Warte auf mich auf dem Grund des Swimmingpools
  9. 9. Die Verbesserung der Erde
  10. 10. Exil
  11. 11. Die Revolte ist in mir
  12. 12. Warm und grau
  13. 13. Eine Theorie
  14. 14. Höllenfahrt am Nachmittag
  15. 15. Neue Zonen
  16. 16. Wie wir leben wollen
  17. 17. Unter dem Sand

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52 Kommentare

  • Vor 11 Jahren

    Es kam, was zu erwarten war: Ein typisches Tocotronic Album.
    Ob man das nun mag, steht auf einem anderen Papier.
    Ich bin kein Toco-Hater, aber auch kein absoluter Fan, daher finde ich dieses Werk einfach nur "nett". Mehr kann man darüber auch kaum sagen, es gibt weit schlechtere Vertreter der deutschsprachigen Musik, daher geht die Band als solches locker durch. Die intelektuell-verschwurbelten Texte sprechen eigentlich auch eine Klientel an, zu der ich sicherlich nicht gehöre, aber auch darin kann man etwas finden, vorausgesetzt man will es auch.
    Unterm Strich ein solides Output, ohne besondere Höhen oder Tiefen - eben dafür habe ich keinen Platz im CD-Regal.

  • Vor 11 Jahren

    Also das Album läuft hier bei mir seit Tagen auf Dauerrotation. Allein "Swimmingpool" "Wie wir leben wollen" und "Neue Zonen" sind Songs, die sich in die Riege der besten Toco-Songs einreihen. Ja, das ist natürlich alles Geschmackssache und demzufolge ist es unsinnig, darüber diskutieren zu wollen. Da hast Du schon recht.

  • Vor 11 Jahren

    @SK (« Bin eher ernüchtert als enttäuscht. Hatte die Band mit k.o.o.k. einenn Neustart hingelegt und den Stil mit Kapitulation perfektioniert, ist mittlerweile doch eher Stilstand eingekehrt. Man bekommt, mit ein paar kleinen Änderungen, Business as usual. Das sie bei zwei drei Tracks noch auf eoc machen, verstehe ich nicht. Das erste mal, das mich die Band und ihr Output zu einem großen Teil kalt lassen. Aber vielleicht bin ich auch nur raus gewachsen. 3/5 »):

    Ganz meine Meinung, seit Kapitulation wirkt das Ganze irgendwie ein wenig lustlos.

  • Vor 11 Jahren

    Nun gut, mit etwas Verspätung habe ich auch mal ins Album rein gehört, und will auch mal allgemein was loswerden:

    Ich selbst bin insbesondere ein Fan des Albums "Es ist egal, aber", wobei ich vor allem den Kontrast von Noise-Sound und den wunderbar bittersüßen Melodien schätze, welche garniert sind mit Texten, die im positiven Sinne wunderbare Alltagslyrik sind.

    Sound, Melodie und Inhalt ergaben dabei eine unwiderstehliche Kombination: ein ständiger Kampf von Harmonie und Dishamrmonie, von den Problemen des Verkopften, die kontrastiert wurden von Emotionsausbrüchen: Emotion vs. Intellekt.

    Diese wunderbare Synthese ging für mich insbesondere seit dem Album "Kapitulation" verloren, da, wie in der Kritik schon angemerkt wurde, die Band in die pure Abstraktion abglitt. Der Intellekt hatte nun vollends gesiegt: Der Kampf endete nicht in einem Gleichgewicht, sondern man rettete sich in das Reich der kalten Abstraktion. Als Rettung empfand ich das aber nicht, da der Sound nun einseitig intellektualisiert wurde, wodurch das Herz, das Gefühl, das Erleben des Inhalts verloren ging. Die Kälte, vor der sich die junge Band in ihren frühen Alben noch fürchtete, wogegen sie anschrammelte, hatte sie nun vollends übermannt. Ich meine, sicherlich als reine Kunstmusik mag dieser Stil seine Berechtigung haben, aber er ist nicht mehr das, was Rock ausmacht: Guter Rock braucht Herz, und das ist in den nun überkünstelten Sphären ihrer neuen Alben so gut wie verloren gegangen. Die Spähre des Fühlens, Erlebens kann man nunmal nicht denken und planen, vielmehr ist das überhöhte Denken der Tod des Gefühls. Ich hoffe, sie nehmen den Kampf wieder auf!