29. April 2021

"Ich habe für Marianne gebetet"

Interview geführt von

Nick Caves Wunderwaffe Warren Ellis hat ein Album mit Marianne Faithfull aufgenommen. Im Interview erzählt er, wie es dazu kam, dass Cave auch darauf zu hören ist.

Warren Ellis ist fremd gegangen. Als hochbegabter Multiinstrumentalist mit Catweazle-Erscheinung Ende der 90er Jahre fest von Nick Cave verpflichtet, ist der Bärtige seither nicht mehr von dessen Seite wegzudenken. Wer Cave schon einmal live gesehen hat, dürfte die extrovertierte Performance des Teufelsgeigers nicht vergessen haben. In den Nullerjahren vertiefte sich Ellis in Soundtrackarbeiten, bei denen ihm meist ebenfalls Cave zur Seite stand. Für den Soundtrack zum Western "The Proposition" erhielt das Duo 2005 mehrere Auszeichnungen.

Im Jahr zuvor lernt er über Cave Marianne Faithfull kennen. Gemeinsam sind sie auf ihrem Album "Before The Poison" neben Damon Albarn und PJ Harvey vertreten. Der Kontakt bleibt bestehen, 2018 sind Ellis und Cave integraler Bestandteil ihres letzten Albums "Negative Capability". Morgen erscheint mit "She Walks In Beauty" ein neues Album der 60s-Ikone. Es beinhaltet Gedichte der Romantik, für die sich die 74-Jährige explizit Ellis als musikalischen Spiritus Rector wünschte. Musikalisch begegnet man schwebenden, flirrenden Soundscapes, wie man sie von Ellis gewohnt ist. Das Album erscheint nur drei Monate nach seiner Lockdown-Kollaboration "Carnage" mit Nick Cave.

Wir erreichen Warren Ellis Anfang März nach knapp zehnminütiger Verspätung via Zoom in seiner Heimat Paris. Nachdem die Verbindung steht, erscheint sein prägnantes Gesicht in einem abgedunkelten Raum. Ellis sitzt vor einer höhlenartig gemauerten Wand, was der allgemeinen Vorstellung seines irdischen Daseins als Sound-Eremit recht nahe kommt.

Warren, schön dich zu sehen. Ich hoffe, du bist gesund.

Ich muss mich entschuldigen. Ich habe mich bis eben wieder in das Album mit Marianne fallen lassen und darüber völlig die Zeit vergessen. Ja, es geht es mir gut, ich bin gerade wieder nach Paris gekommen. Alle warten jetzt darauf, dass es endlich losgeht mit dem Impfen. Ich habe keine Ahnung, wie es sonst weitergeht. Das Leben hier ist herunter gefahren. Es gab einen Punkt, an dem es einfach zu viel wurde, zu viele Informationen, obwohl sich eigentlich nichts geändert hatte, wodurch dann diese Panik aufkam. Ich versuche seither diese Dinge zu filtern. Ich trage eine Maske und halte mich an alle Auflagen. So wie ich das sehe, müssen auf dem schnellsten Wege alle Impfstoffe ausgeliefert werden, so dass auch viele Läden wieder öffnen können.

Das ist auch hier die große Hoffnung. Die Sehnsucht, das alte Leben zurück zu bekommen, ist groß. Wie erfolgreich bist du darin, den Corona-Alltag mittels deines Berufes auszublenden?

Ab dem Moment, als mir klar wurde, wie ernst es mit dieser Pandemie ist, die für so viel Verwirrung, Panik und Chaos sorgt, konnte ich die Bullshit-Politik von Trump und den anderen Idioten nicht mehr ertragen, die nur mit dem Finger auf Menschen mit Haltung zeigen. Ich beschloss, mich aus dieser ganzen Sache heraus zu nehmen und stattdessen Dinge zu erschaffen. Sich auf das Gute zu besinnen. Ich weiß, dass ich in einer privilegierten Position bin. Viele Menschen in meiner engen Umgebung leiden. Menschen, die ich kenne, Menschen, die ich nicht persönlich kenne, Menschen, mit denen ich arbeite. In dieser schweren Phase hatte ich das Glück, Aufträge zu bekommen, die Gutes in sich tragen. Wie diese Platte mit Marianne.

Wann nahm diese Idee, Gedichte zu vertonen, ihren Anfang?

Marianne trägt diese Idee schon seit Ewigkeiten mit sich herum, ohne dass es jemals richtig konkret wurde. Ich erhielt sieben ihrer Gedichte kurz nach ihrer Covid-Diagnose im März letzten Jahres. Ihr Manager rief mich an und sagte, die Situation sei sehr ernst. Niemand rechnete damit, dass sie die Krankheit überleben würde. Ich sah in diese Gedichte hinein und Mariannes Art, sie zu lesen ... es war wie eine große meditative Erfahrung. Allgemein kann ich sagen: Ich hatte in dieser schweren Zeit, die wir alle durchleben, großes Glück. Ich konnte nach London reisen, um mit Nick an "Carnage" zu arbeiten, ich habe Dokus gedreht, ein Buch geschrieben und mit Marianne an dieser Platte gearbeitet.

Jetzt hast du gleich mehrere Fragen meiner Liste beantwortet oder zumindest angerissen. Covid ist nun mal immer noch die naheliegende Einstiegsfrage.

Völlig verständlich. Die Covid-Bedrohung ist da und jetzt geht es für uns alle darum, herauszufinden, wie wir zukünftig damit leben können. Es war sofort klar, dass es nicht schnell wieder verschwindet. All die Lockdown-Folgen, gerade auch psychischer Natur, sind verheerend und herzzerreißend. Ich möchte nicht über politische Entscheidungsprozesse urteilen, aber haben diese vergangenen zwölf Monate uns alle extrem geprägt.

"Vertrauen bedarf keines Augenkontakts"

Du hast die Musik für Mariannes Album alleine im Lockdown aufgenommen. Nach eurer gemeinsamen Arbeit für ihr Album "Negative Capability" vertonst du nun ihre Gedichte. Hat ihre Sprechstimme einen ähnlichen kreativen Prozess bei dir ausgelöst wie seinerzeit ihre Gesangsstimme?

Aber natürlich. Marianne ist eine großartige Vorleserin, sie ist absolut unvergleichlich. Sie rangiert auf einer Stufe mit Richard Burton. Bei den meisten Menschen endet es in der Katastrophe, wenn sie ihre eigenen Gedichte vortragen. Aber Marianne könnte eine Speisekarte vorlesen und es wäre absolut atemberaubend. Wenn sie spricht oder liest ergeben sich fast noch mehr Interpretationsebenen als bei ihrer Gesangsstimme. Die Art, wie sie sich diese Gedichte zu eigen macht, ist besonders: Sie füllt sie mit Leben, indem sie sie von jeder einzelnen Buchseite heraus löst. Einige Gedichte der Romantiker kannte ich noch aus der Uni und fand sie eher unzugänglich. Aber Marianne glaubt an alles, was sie liest und das spürt man als Zuhörer. Es ist ihre Autorität.

Ihre Stimme ist wirklich beeindruckend. Wüsste man es nicht, würde wohl niemand vermuten, dass sie eine so schwere Krankheit überlebt hat.

Sie hatte vor der Diagnose schon sieben Gedichte eingesprochen, sie war nicht in bester Verfassung. Aber man hört ihren unbändigen Wunsch in der Stimme, es zu schaffen. Als ich mit dem Projekt begonnen habe, musste ich davon ausgehen, dass dies ihre letzten Aufnahmen sind. Ich habe für sie gebetet, dass sie es schaffen würde, aber die Zeichen standen schlecht: Da war ihr Alter, ihre Gesundheit, man kennt ja ihre Geschichte. Doch wie durch ein Wunder ging es ihr nach 15 Tagen stetig besser. Und drei Wochen später schickte sie mir wieder Aufnahmen, vier neue Gedichte und drei von denen, die ich schon hatte. Sie sprach sie neu ein, weil sie mit ihnen nicht zufrieden war.

Deine bevorzugte Arbeitsweise im Studio, so liest man, sei stundenlanges Spielen und Improvisieren, möglichst nur über Augenkontakt zu deinen Mitmusikern. Für diese Platte war jeder Teilnehmer bei sich zuhause.

Das stimmt nicht ganz. Im Studio verständigen wir uns vielleicht hier und da mal mit Blicken, etwa wenn einem etwas richtig Großartiges eingefallen ist. Aber das Gros der Arbeit basiert auf Instinkt und auf dem Dialog mit Menschen. Vertrauen bedarf keines Augenkontakts. 90 Prozent der aufgenommenen Musik entsteht, ohne dass man sich anschaut. Das anschließende Feedback, der Austausch mit den anderen ist das Wichtigste.

Und wenn niemand im Studio ist?

Heutzutage sind wir es alle gewohnt, remote zu arbeiten. Ob ich mit Filmen in Hollywood oder Theaterproduktionen in Island zu tun habe, wir können heute gut auf Entfernung miteinander arbeiten. Das ist nichts Neues.

Vertrauen kommt nicht über Nacht. Ist es heute für dich einfacher, mit Marianne und Nick zu arbeiten als vor 15 Jahren?

Ganz klar, mein Vertrauen in Nicks Klavierspiel basiert auf einem 25 Jahre andauernden Arbeitsverhältnis. Wir tauschen uns regelmäßig aus. Relativ am Anfang der Studioarbeit rief er mich an, um zu fragen, wie es mir im Lockdown ergehe und ich erzählte ihm von dieser ungewöhnlichen Platte, die Marianne vorschwebt. Er war sofort interessiert und wollte es hören. Ich schickte ihm die Songskizzen rüber, er drehte es auf und wir hörten sie gemeinsam an. Sein Kommentar war: "Das ist wirklich unglaublich, darf ich auch etwas spielen?" Natürlich sagte ich ja und so nahm er in seinem Studio etwas auf. Auch hier gab es also Feedback. Ich bekam ein Urteil von einem Menschen, dessen Meinung mir wichtig ist.

"Ich habe ihre Stimme stundenlang aufgedreht"

Kannst du die Arbeit an "She Walks In Beauty" mit den Nick Cave-Alben vergleichen?

Es war meditativer als sonst. Stundenlanges Spielen und Herumprobieren. Herausfinden, was die Texte benötigen und was noch ergänzt werden muss, damit es zeitlos wird. Diese Gedichte im Studio zu hören, abgeschottet von dem Krieg und all dem Chaos, der draußen herrschte, war wie Balsam. Ich habe ihre Stimme einfach stundenlang aufgedreht und versucht, Atmosphären zu erschaffen. Manchmal kamen auch frühere, bereits aufgenommene Ideen dazu. Aufnahmen in Kirchen oder in großen Gebäuden.

Du hast die Aufnahmen mit Nick in London erwähnt. Wie war es, im Vergleich dazu ein Album mit ihm im Lockdown aufzunehmen?

Ich spreche heute nicht über "Carnage".

Diese Gesamtsituation mit Marianne im Krankenhaus und du als alleiniger Verantwortlicher über die musikalische Gestaltung baut sicher auch Druck auf.

Den Druck mache ich mir selbst. Bei jedem Projekt. Hier war es sicher so, dass diese düsteren Wolken am Himmel mich noch mehr bestärkt haben, die richtige Atmosphäre zu finden. Mariannes Musik ist alterslos, sie ist eine einzigartige Künstlerin, die auch im hohen Alter noch relevant ist. Dem musst du dich stellen.

Hast du Marianne während des Aufnahmeprozesses auch mal sehen können, da ihr beide in Paris lebt?

Nein, aber Marianne lebt auch schon seit einer Weile wieder in London. Nach ihrem schlimmen Sturz und ihrer Hüftoperation hat sie ihre Wohnung aufgegeben. Zu meinem großen Leidwesen, denn es war eine wunderschöne Zeit, als wir uns so einfach in dieser sehr geschmackvollen Wohnung auf einen Tee treffen konnten. Sie wollte wieder näher an ihrer Familie sein und das ist natürlich verständlich. Sie fehlt mir. Gleichzeitig existiert nun dieses Album, das sich wie ein Geschenk anfühlt. Sie erwacht aus dem Koma, überlebt Covid, geht nach Hause und nimmt "The Lady Of Shallot" auf, ein Epos über elf Minuten. Ich meine, das ist wirklich unvergleichbar. Sie ist einfach die Beste.

Hattest du musikalische Inspirationen für das Soundbild?

Ich wusste jedenfalls, was ich nicht wollte. Bis man spannende Spoken-Word-Platten findet, braucht man Durchhaltevermögen. Vieles verliert sich schnell, nutzt sich ab. Ich habe mich an Gil Scott-Herons "I'm New Here" orientiert, dessen Zeitlosigkeit mich immer wieder aufs Neue fasziniert. Ein etwas jüngeres Beispiel ist die Lou Reed-Kollaboration "Lulu" mit Metallica. Auch hier lösen sich Bilder, die ein starkes Gewicht und eindringliche Wirkung haben, auf faszinierende Weise in der Musik auf. Ursprünglich wollte ich mit mehreren Musikern aufnehmen, aber das hat sich schnell zerschlagen.

Ich finde es beeindruckend, das man deine musikalische Klangfarbe mittlerweile sofort heraus hört. Seit "Push The Sky Away" prägst du meiner Ansicht nach den Sound von Nick Cave auf eine unverwechselbare Art, auch dort findet man diese meditativen Aspekte. Zugleich ist auch Cave ein Interpret mit ausdrucksstarker Stimme, der der Musik noch einmal einen speziellen Stempel aufdrückt.

Ich finde nicht, dass man das vergleichen kann. Schon was die Instrumentierung angeht. Mit Nick sind wir oft auf voluminöse, reiche Soundscapes aus und verwenden gerne Streicher. Bei dieser Platte war mir sehr schnell klar, dass ich keine Streicher haben will und keinesfalls ein Cembalo. Wenn du diese Stimme einmal gehört hast, willst du sie ganz besonders einbetten. Ich orientierte mich auch an Film-Soundtracks, mehr denn je. Dennoch war es eine Arbeit, die ich so nicht kannte.

Vor dir ist die nackte Stimme und du musst sie einkleiden. Wenn ich dafür Akustikgitarren und Cembalo benutzt hätte, wäre es zu normal gewesen. Das durfte nicht passieren. Ich wollte ursprünglich auch kein Cello auf den Aufnahmen, aber nun ja, Marianne bestand darauf. Beim Cembalo blieb ich hart. Sonst hätten sie sich einen anderen suchen müssen. Aber es hat sich gelohnt. Ich bekomme nicht genug von diesem Album, so oft ich es auch höre. Ich glaube wirklich, es ist meine bislang beste Arbeit.

Du siehst also keine musikalischen Parallelen zu "Ghosteen" oder "Skeleton Tree", was bestimmte Soundpatterns betrifft?

Überhaupt nicht. Was diese Alben verbindet, ist meine ständige Suche nach musikalischer Kommunikation, nach einem Dialog, der immer anders ausfällt, ob es sich um Marianne handelt, um Nick, die Dirty Three, Tinariwen, oder die Leute bei einer Skateboard-Doku. Man muss Dinge neu denken, um sie nach vorne zu bringen. Hier war es mein Job, dieser besonderen Stimme zu dienen, die diese wunderbare Poesie vorträgt. Als die Ausgangssperre beendet war, habe ich viele Radtouren mit der Platte unternommen und entdeckte immer wieder neue Details in bestimmten Zeilen. Es ist ihre Aura, sie ist immerhin Marianne Faithfull. Generell gilt: Du spürst als Hörer, wenn etwas authentisch ist. Auch wenn es misslingt. Es war hier ungemein wichtig, nicht im Weg zu stehen.

Innerhalb weniger Monate sind nun zwei Alben mit deinem Namen auf dem Cover erschienen. Siehst du das als eine Art Würdigung für deine lebenslange Hingabe an die Musik?

Der Name auf dem Cover ändert nichts an meiner Arbeit, die ich in ein Album stecke. Es ist eine schöne Wertschätzung, aber es ist nie so wichtig wie das Kreieren selbst. Wer am Ende dann die Würdigung erhält, ist mir egal. Ich weiß, was ich tue und nur darauf kommt es an. Ich brauche keine Schulterklopfer. Natürlich bin ich sehr stolz, dass mein Name neben zwei unglaublichen Menschen auf dem Cover steht, mit denen ich seit langem arbeite. Doch die größte Bestätigung für mich ist die Tatsache, dass ich seit 30 Jahren dabei bin und noch weitermachen darf. Dass ich noch die Fähigkeit besitze zu erkennen, dass Dinge in Bewegung bleiben. All das andere, die Auszeichnungen und der ganze Scheiß, darüber sollen sich andere freuen. Ich brauche das nicht. Ich möchte mit Menschen arbeiten, die das Beste aus mir herausholen. Dadurch entsteht eine gemeinsame Geschichte. Das ist alles, worauf es mir ankommt.

Ich kann es kaum erwarten, wieder auf Konzerte zu gehen. Die Tournee von Nick Cave wurde abgesagt, bei Marianne gibt es vermutlich keine Pläne. Wie siehst du deine Zukunft als Bühnenkünstler?

Ich weiß wahrscheinlich nicht mehr als du. Man muss geduldig bleiben. Ich vermisse es natürlich, auf der Bühne zu stehen. Aber es ist unangebracht, sich darüber zu beklagen, während Menschen ihre Arbeit verlieren oder ihre Kinder nicht mehr ernähren können. Ich hörte, dass Marianne gerne in zwei, drei Metropolen auftreten würde. Sie ist einfach sehr stolz auf das Album und will es präsentieren. Es würde mich am allerwenigsten wundern, wenn man sie irgendwann wieder auf einer Konzertbühne antrifft. Doch jetzt freue ich mich einfach auf den Moment, an dem Konzerte wieder möglich sind.

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