13. Oktober 2023

"Wer definiert eigentlich, was Musik ist?"

Interview geführt von

Saxofon, Synthesizer, Beats und Klang-Samples aus der Natur - Laura Misch hat ihren ganze eigenen Stil gefunden. Seit über zehn Jahren ist sie als Musikerin und Produzentin unterwegs. Auf ihrem Debütalbum "Sample The Sky" ließ sich das Naturtalent unter anderem vom Zwitschern der Vögel inspirieren.

Laura Misch kommt aus einer talentierten Familie. Ähnlich wie ihr Bruder Tom schlägt auch ihr Herz für softe Beats, das Sampeln und das innovative Verweben von Jazz und Pop. Ihr gemeinsamer Song "Follow" wurde mehrere Millionen Mal gestreamt. Doch die Saxophonistin, Produzentin und Sängerin hat bereits zur Genüge bewiesen, dass sie dem Schatten ihres Bruders entwachsen ist. Nach mehreren EPs erscheint nun ihr Debütalbum "Sample The Sky". Ich treffe Laura im Teams-Call. Mit ihrer warmen Ausstrahlung und entwaffnenden Offenheit erzählt sie von dem, was ihr Herz höher schlagen lässt. Im Augenblick ist das vor allem Quality Time im Grünen.

In deinem Debütalbum "Sample the Sky" beschäftigst Du dich besonders mit der Beziehung zwischen Kunst und Natur. Warum ist dir dieses Thema wichtig?

Es ist wichtig für mich, weil ich in einer Stadt lebe und es ziemlich einfach ist, von der Natur abgeschnitten zu werden. Weil ich elektronische Musik mache, arbeite ich viel an meinem Laptop. Bei meinem letzten Projekt wurde mir klar, dass es wirklich an der Zeit war, in die Natur hinauszugehen und mich mit ihr zu beschäftigen. Dazu hat auch das wachsende gesellschaftliche Bewusstsein für die Klimakrise und unsere Abkopplung von der Natur beigetragen. In mir wuchs der Wunsch, in der Stadt, in der ich lebe, Naturräume zu finden. Anstatt also die Natur als etwas weit Entferntes zu betrachten, versuche ich sie mitten in der Stadt zu finden.

Wo findet man das in London?

Überall. Es ist ganz erstaunlich. Ich glaube, London ist eine von den grüneren Städten, die es gibt, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht. Da gibt es viele Fragmente von Wäldern, die früher den gesamten Südosten Englands bedeckten. Ich lebe im Süden Londons, wo wir große Waldflächen haben. Aber ich interessiere mich aber auch für kleine Pop-up-Gemeinschaftsgärten, die zum Beispiel in Sozialsiedlungen und auf verlassenen Grundstücken entstehen, und für "Guerilla Gardening", bei dem die Leute den Straßenrand oder die Mitte eines Kreisverkehrs bepflanzen. Es gibt eine Bewegung zur Wiederbegrünung der Stadt. Man kann also überall Natur finden.

Steht deine Liebe zur Natur manchmal im Widerspruch zu deiner Liebe zur Technik? Handelt es sich dabei nicht um Gegenteile?

Nein, ich denke, dass die Technik zur Erforschung der Natur eingesetzt werden kann. Wissenschaftler benutzen zum Beispiel ein Mikroskop, um das Innere eines Blattes zu betrachten. Und die Menschen, die sich für Musik und Töne interessieren, benutzen Mikrofone, um Dinge zu hören, die das menschliche Ohr allein nicht so leicht wahrnehmen könnte. Ich sehe die Technologie als eine Möglichkeit, um sich mit der Natur auseinanderzusetzen und um sich von der Natur inspirieren zu lassen und sie nachzubilden. Auf dem Album haben wir zum Beispiel viel mit Synthesizern gearbeitet, und viele dieser Klänge wurden von Naturgeräuschen inspiriert.

Wie kann ich mir das genau vorstellen? Achtest du bei dem Erschaffen der Synth-Sounds auf die Frequenz der Natur-Klänge?

Ja, manchmal schauen wir uns das Frequenzspektrum des Klangs an und bilden es genau nach. Aber es gibt auch andere Möglichkeiten, um sich von der Natur inspirieren zu lassen. Der Produzent Arca hat für Björks "Utopia" Vogelgeräusche erzeugt, die wie eine Mischung aus einem echten Vogel und einem Synthesizer klingen. Auf meinem Song "City Lungs" gibt es auch einige Synths, die von Vögeln inspiriert sind. Aber es ist nicht so wie beim Fotorealismus. Ich habe dabei keinen "Klangrealismus" angestrebt, denn dann hätte ich genauso gut eine Feldaufnahme verwenden können. Mir geht es um eine Mischung aus Realität und Fantasie.

In deinen Songs kombinierst du Synthesizer, Saxofon, Beats und Naturaufnahmen. Wie gehst du beim Schreiben eines Songs vor? Was kommt zuerst, die Natur oder die Melodien?

Für mich ist das kein linearer Prozess. Es ist eher so, dass ich alles auf einmal mache, irgendwie. Aber manchmal entwickelt sich der Song aus einem bestimmten Beat oder einer Melodie. Meistens fange ich jedoch nicht mit dem Songtext an. Ich interessiere mich zunächst für die Klangpalette, bevor ich zum Text komme. Songwriting mit der Natur ist für mich außerdem eine tägliche Praxis. Wenn ich zum Beispiel morgens durch die Stadt gehe, nehme ich verschiedene Geräusche sehr bewusst wahr. Auf diese Weise sammle ich Ideen, auf die ich später zurückgreifen kann.

Ist das also wie eine Datenbank in deinem Kopf?

Ja, aber weniger statisch. Ich bin nicht sehr organisiert, daher ist es eher wie ein Kaleidoskop, ein bisschen chaotischer.

Hast du im Moment einen Lieblingssound aus der Natur?

Ja, als Saxophonistin interessiere ich mich im Moment besonders dafür, wie der Wind auf verschiedene Texturen reagiert, zum Beispiel das Rascheln von Blättern und das Rauschen der Baumkronen. Verschiedene Bäume klingen unterschiedlich.

Auf YouTube gibt es viele ASMR-Videos mit Naturklängen, hörst du dir auch so etwas an?

Ich muss sagen, dass ich nicht viel YouTube schaue, aber ich höre mir die ASMR-Geräusche des Alltags an, zum Beispiel die Waschmaschine oder die Bauarbeiten des Nachbarn - ASMR aus dem echten Leben.

Was du sagst erinnert mich ein wenig an den Komponisten John Cage, der das Gewöhnliche als Kunst betrachtete. Wenn man eine leere Leinwand hat, kann alles zu Kunst werden. Auf der Leinwand der Stille wird alles zu Musik. Siehst du das auch so?

Ich denke, dass ich in meiner musikalischen Praxis immer noch ziemlich an die Idee von Melodien und Strukturen gebunden bin. Wenn ich über die Produktion des Albums spreche, könnte man meinen, dass es viel abstrakter sei, als es tatsächlich ist. Aber es hat tatsächlich eher eine Pop-Struktur. Ich fühle mich zu vielen strukturellen Aspekten der Kreativität hingezogen. Aber der Gedanke ist interessant: Wer definiert eigentlich, was Musik ist? Ich glaube, das ist für jeden etwas anderes. Irgendjemand interpretiert vielleicht das Zirpen einer Grille als Musik. Für mich können Naturgeräusche definitiv musikalisch sein, aber ich bin vor allem an Kreationen interessiert, die einen melodischen Inhalt oder einen Rhythmus haben.

"Eigentlich ist unsere Existenz etwas Wundersames"

Du hast bereits mehrere EPs veröffentlicht. Dein Debütalbum ist nun der nächste große Meilenstein. Welche Ziele gehst du als nächstes an?

Ich denke jetzt viel mehr über Kollaborationen nach und darüber, Teil der Künstlergemeinschaft in London zu sein. Ich möchte in diese Beziehungen investieren und etwas zurückgeben. Aber ich würde auch gerne auf einige der Ideen aufbauen, die ich bei der Entstehung dieses Albums hatte. Die Aufnahmen zu "Sample The Sky" entstanden erstmals in einem Tonstudio, vorher nahm ich meine Songs zuhause auf. Jetzt bin ich vor allem daran interessiert, viel mehr draußen aufzunehmen und weniger an ein Studio gebunden zu sein.

Oft wird das Saxophon eher mit Jazz assoziiert. Indem du verschiedene andere Elemente, wie Beats und experimentelle Synths, hinzufügst, sorgst du dafür, dass man dieses Instrument in einem außergewöhnlichen Kontext wahrnimmt. Gibt es jemanden, der dich dabei inspiriert hat?

Ja, da gibt es so viele unglaubliche Künstler. Zum Beispiel Bendik Giske, ein norwegischer Saxophonist. Sein Stil ist sehr von Techno inspiriert. Er arbeitet viel mit Loops und sein Klang ist sehr rhythmisch, perkussiv und roh. Colin Stetson ist ebenfalls ein phänomenaler Saxophonist. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, aber ihn live zu erlben war eine der verrücktesten Lebenserfahrungen, die ich je gemacht habe: Seine Musik ist wie ein Klangstrudel, der einen mitreißt. Außerdem lasse ich mich von Nubya Garcias Arbeit inspirieren.

Auf deinem Album gibt es einen Song mit dem Titel "Hide To Seek". Darin singst du von einem "summer of surrender". Der diesjährige Sommer ist gerade zu Ende gegangen. Wie war dieser Sommer für dich? War es auch ein "Sommer des Loslassens"?

(lacht) In gewisser Weise, ja. Ich musste die Vorstellung davon, wie das Leben sein würde, wirklich loslassen. Mein persönliches Leben, die Veröffentlichung von Musik, die Zusammenarbeit mit anderen Leuten und den Wunsch, dabei jeden Aspekt zu kontrollieren. Das war eine Art des Loslassens. Die Idee hinter dem Song "Summer Of Surrender" ist, dass man sich expansiver fühlt und eine größere Vision hat als das, was man unmittelbar vor sich sieht.

In deinen Liedern geht es viel darum, dass wir alle Teil von etwas Größerem sind. Wann hast du das für dich erkannt?

Ich glaube, das war mir schon immer bewusst. Ich habe immer nach Erfahrungen gesucht, die mir dabei helfen, meine Verbundenheit mit dem Leben und der Natur zu stärken. Aber um ehrlich zu sein: Dieses Bewusstsein kommt und geht. Es gibt Zeiten, in denen ich von einer Sache, die ich gerade tue, oder von einem starken Gefühl oder Verlangen eingenommen bin. Wenn man aufhört, draußen in der Welt und in der Natur zu sein, hört man auf zu sehen, wie alles voneinander abhängt und miteinander verbunden ist. Aber eigentlich ist unsere Existenz so etwas Wundersames: Dass wir aus all diesen Zellen bestehen, dass wir Luft atmen und dass wir lebendige Materie sind, die eines Tages zum Erdboden zurückkehren wird.

In deinem Lied "Portals" singst du ebenfalls über dieses Konzept der Verbundenheit mit dem Universum. Was bedeutet dieser Song für dich?

In dem Lied geht es um den Tod meines Großvaters. Ich habe es über den Moment geschrieben, als er seinen Körper verließ. Meine Oma, meine Mutter und ich standen an seinem Sterbebett. Eine Zeile des Songs geht so: "Du gehst den Weg weiter, den du gekommen bist, Portale öffnen sich, während du langsam hindurch treibst, umgeben von unserer Liebe." Es ist ein Lied darüber, wie er sich von seinen körperlichen Limitationen verabschiedete und plötzlich überall war. Das war ein trauriger, aber auch feierlicher Moment. Anders kann ich es nicht beschreiben. Das Lied erinnert auch daran, wie er immer in seinem Garten war, mit den Händen in der Erde und über die Figuren, die er zeichnete. Das tat er gerne. Und er hat sich immer um die Umwelt und seine Mitmenschen gekümmert. Das Lied ist eine Ode an ihn.

"Ich wollte meinen eigenen Sound finden"

Vor einigen Jahren hast du mit deinem Bruder Tom den Song "Follow" veröffentlicht. Kannst du dir vorstellen, irgendwann wieder mit ihm Musik zu machen?

Ja, aber ich denke, es war erstmal wichtig für mich, meinen eigenen Sound zu finden. Ich habe lange Zeit versucht, mich als Produzentin zu beweisen, weil ich Angst hatte, dass die Leute denken, ich würde nur Saxophon spielen und nichts anderes. Ich habe meine EPs selbst produziert. Aber bei meinem Album wurde mir klar, dass ich nicht mehr selbst produzieren muss und dass ich mit anderen zusammenarbeiten kann. Ich hatte das Gefühl, dass ich den Punkt erreicht habe, an dem ich mich genug bewiesen habe. Aber Tom spielt tatsächlich auf dieser Platte mit. Im Song "City Lungs" spielt er Gitarre.

Wie hast du dich seit der Veröffentlichung deines ersten Songs weiterentwickelt?

Ich hoffe, dass man meinen Songs eine größere Tiefe und einen reiferen Sound anmerkt. Ich denke, auf meinem Album kann man hören, dass ich mich auf eine Reise begeben habe. Ich habe verschiedene Wege des Musikmachens und -aufnehmens erkundet. Als ich mit der Musik anfing, habe ich alles auf meinem Laptop in meinem Schlafzimmer produziert. Mittlerweile habe ich so viele verschiedene Erfahrungen gesammelt, dass meine Ausdrucksmöglichkeiten viel breiter geworden sind. In meinen Live-Shows, auf die ich mich derzeit vorbereite, gibt es zudem mehr Offenheit und Raum. Als ich anfing, war ich ziemlich schüchtern.

Du hast in der letzten Zeit viel mit mobilen Aufnahmegeräten aufgenommen, die teilweise in Kleidungsstücke integriert waren. Wird das Teil der Show sein?

Nein, die tragbaren Geräte sind wirklich wunderbar, aber sehr zerbrechlich. Aber ich würde gerne mit einigen Entwicklern zusammenarbeiten, um mehr tragbare Geräte für die Improvisation zu entwickeln.

Glaubst du, dass die Zukunft der Musikaufnahme darin liegt, dass wir sie immer tragbarer machen?

Ja, denn wenn man sich die Geschichte der Audio-Aufnahmen ansieht, kann man feststellen, dass die Aufnahmegeräte immer kleiner geworden sind. Ich interessiere mich vor allem für die nahtlose Integration der Technologie, die eine größere Beweglichkeit ermöglicht. Mir ist dabei wichtig, dass wir dabei mehr in der Welt unterwegs sein können und neue Wege finden, unsere Sinne zu nutzen, anstatt ständig über einen Laptop gebeugt zu sein.

Wärst du dafür offen, KI-Technologien einzubeziehen?

Ja, ich bin grundsätzlich offen dafür. Aber ich bin eher daran interessiert, mich mit der natürlichen Welt auseinanderzusetzen und möchte nichts tun, das mich weiter von ihr entfernt.

Wenn du auf die Produktion deines ersten Albums zurückblickst: Was ist eine Erkenntnis oder eine Erinnerung, die du aus diesem Prozess mitnimmst?

Ich denke, meine große Erkenntnis ist, dass der kreative Prozess für mich nicht aus der Isolation oder aus dem Herumsitzen und Warten kommt. Die guten Ideen entstehen, wenn man in der Welt unterwegs ist, Menschen trifft und Dinge fühlt und mit den Sinnen wahrnimmt. Außerdem habe ich gemerkt, dass ich mich um Nachhaltigkeit in allen Dingen kümmern muss, ob nun in einem größeren Rahmen oder einfach nur im täglichen Leben. Eine wichtige Frage ist: Wie kann ich so viel Sorgfalt wie möglich in mein tägliches Leben investieren? Ich muss mir immer wieder bewusst machen, dass diese Achtsamkeit meine Kreativität nährt. Denn bei der Produktion dieser Platte hatte ich auch mehrere Burnout-Phasen. Für die nächste Platte muss ich daher über die Nachhaltigkeit auf persönlicher Ebene ebenso nachdenken wie über die ökologische Botschaft, die meinem Album zugrunde liegt.

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LAUT.DE-PORTRÄT Laura Misch

Laura Misch wird im November 1992 in Südlondon geboren. Ihre musikalische Begabung teilt sie mit ihrem drei Jahre jüngeren Bruder Tom. Beide Geschwister …

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