17. Juni 2004

"Die US-Behörden rauben unsere Grundrechte!"

Interview geführt von

Die drei Brüder von Living Things sind so Typen, denen man sofort ansieht, dass sie in einer Band spielen. Schwarze Klamotten, Lederjacken, ein bisschen Kajalstift. Doch wenn sie dann anfangen, von ihrem Elternhaus zu reden und von ihrer Vorstellung von guter Rockmusik, glaubt man seinen Ohren kaum zu trauen. Fazit des folgenden Gesprächs: Mutti ist die Beste!

Ist es das erste Mal für euch in Europa?

Lillian: Ja, wir sind das erste Mal zum performen hier. Wir waren schon einmal hier, um das Video zu "Bombs Below" zu drehen. Dafür sind wir nach Prag gegangen. Das war ziemlich aufregend. Wir haben in einer alten Zuckerfabrik gedreht, die im Zweiten Weltkrieg ausgebombt worden war. Das war phänomenal.

Warum habt ihr in Prag gedreht?

Lillian: Wir haben dort einfach den perfekten visuellen Hintergrund für den Song gefunden. Es hat einfach gepasst. Für uns hat es einfach Sinn gemacht, an einem Ort zu drehen, der Geschichte und Krieg erlebt hat. In den USA findest du solche Orte natürlich nicht. Und die Regisseurin, Floria Sigismondi, hat schon einige irre Videos unter anderem für Marylin Manson gemacht, sie hat schon einmal in Prag gearbeitet. Sie dachte, dass diese Location in Prag am besten zu ihrer Idee, wie der Song aussehen sollte, passen würde.

Ihr selbst seid ja aus St. Louis, einem Ort der in den letzten Jahren mehr als Hip Hop-Hochburg von sich reden gemacht hat.

Lillian: Ja, das ist schade. Denn Chuck Berry kommt aus St. Louis. He's the King of fucking Rock'n'Roll. Es hat schon eine sehr deepe Rock'n'Roll-Geschichte. Miles Davis ist auch von da, Ike und Tina Turner. In den letzten dreißig Jahren hat sich dort allerdings nicht viel passiert, und dann kam dieses Hip Hop-Ding. Wir sind also in diesem schrecklichen, trockenen Ort aufgewachsen. Wir nennen es gern St. Louis, Misery [Misery bedeutet Elend, angelehnt an St. Louis, Missouri, d. Red.]. Es ist ein mieser Ort zum Leben. Sehr konservativ, rechtslastig, möchte ich sagen. Die moralischen Werte von uns und unseren Eltern, die im sozialen Bereich immer sehr aktiv waren, haben da nicht so gut hingepasst.

Vor allem, wenn man in einer kleinen Vorstadt wohnt.

Lillian: Oh ja, wir haben in fast jedem Vorort von St. Louis gewohnt. Unsere Nachbarn fanden unser Engagement einfach nicht gut. Unsere Mutter hätte einem Nachbarn fast einmal sein Haus abgefackelt. Sie hat dann doch nur den Garten angezündet. Diese Typen hatten ein Ku-Klux-Klan-Zeichen in ihrem Fenster hängen. Ein guter Grund für sie also.

Habt ihr aus diesem Verständnis heraus eure erste EP "Turn In Your Friends And Neighbors" ["Schwärzt eure Freunde und Nachbarn bei der Polizei an", d. Red.] genannt?

Lillian: Genau. Denn im Moment sieht es in den USA doch so aus: jeder ist nur damit beschäftigt, sich um sich selbst zu kümmern. John Ashcroft, der Bundesstaatsanwalt hat gesagt, dass du einen Nachbar oder einen Freund, der sich auf irgendeine Art antiamerikanisch äußert, sofort den Behörden melden sollst. Und dann kommen sie und berauben dich auf unbestimmte Zeit deiner Grundrechte. Wir dachten, dass das eine fast schon ironische Situation wäre.

Darüber sind sich viele Leute in den USA wahrscheinlich gar nicht so im Klaren.

Lillian: Doch, sie kümmern sich mittlerweile mehr um solche Dinge. Die Leute bekommen ja immer mehr Angst, sich zur amerikanischen Politik zu äußern. Sogar diejenigen, die früher immer sehr laut waren. Die Mehrheit liebt dieses Land, das Problem ist, dass die Politiker, die die Macht in der Hand halten, Monster sind.

Wie ist es für euch, als Brüder in einer Band zu sein? Wenn ich mir vorstelle, ich und mein Bruder wären in einer Band, das würde Mord und Totschlag geben. Ist es besser als mit Freunden in einer Band zu sein?

Lillian: Der Vorteil ist, dass du deinen Bruder verprügeln und am nächsten Morgen mit ihm am Tisch sitzen und Müsli essen kannst. Du kannst dann einfach so tun, als wäre nichts geschehen. Wenn du einen Freund verprügelst, dann redet der Ewigkeiten nicht mehr mit dir. Wir müssen uns ja an Thanksgiving noch in die Augen sehen können.

Wie steht es denn um eure Bandchemie. Versteht ihr euch vielleicht sogar besser, weil ihr Brüder seid?

Eve: Das ist mal so mal so. Manchmal habe ich schon das Gefühl, als würden wir uns besser verstehen als andere Bands.

Lilian: Wir brüllen eigentlich die ganze Zeit nur rum. So sind wir erzogen worden. Wenn du deine Meinung rüberbringen willst, musst du halt losschreien. Das sieht dann für Außenstehende vielleicht so aus als würden wir streiten. Tun wir aber nicht.

Wer von euch hat denn als Erster Musik gemacht?

Eve: Bosh war das. Unser Jüngster.

Wolltest du von Anfang an eine Band gründen?

Bosh: Nein, ich habe in sehr frühem Alter, so ab vier Jahren, schon Drums gespielt, und die anderen haben die anderen Instrumente dazu gelernt. Wir sind dann halt irgendwie zusammen gekommen. Es ist einfach passiert, wir mussten nie groß darüber reden. Ich habe früher auf alles eingedroschen, was in Reichweite war. Irgendwann haben mir meine Eltern dann ein Drum-Set gekauft.

Lillian: Dafür haben sie unsere CD-Sammlung verbrannt.

Wie bitte?

Lillian: Naja, weil sie wollten, dass wir uns auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrieren und nicht so sehr auf satanischen Death-Metal. Wenn ich mir früher eine Anthrax-CD gekauft habe, hat meine Mutter sie gegen ein Buch von William Borroughs eingetauscht.

Ein guter Tausch.

Lillian: Auf jeden Fall. Aber damals hat uns das natürlich sehr frustriert. Aber rückblickend war es das, was mich dazu befähigt hat, ein Songwriter zu werden. Ich denke, wenn ich nie gelesen hätte, wäre ich nicht in der Lage, Lyrics zu schreiben.

Ihr würdet also sagen, eure Mutter war euer größter Einfluss?

Lillian: Ja! Sie hat unsere CD nicht mal weggeschmissen. Sie hat sie aufgehängt. Sie unterstützt uns sehr. Weil sie sieht, dass wir mit unserer Musik etwas verändern wollen. Wir sind ja nicht die Band, die auf der Bühne rockt, cool aussieht und ihre beschissenen Bandfotos macht, und das war's dann schon. Sie hat immer gesagt, wenn wir etwas mit Kunst machen, müssen wir etwas zurückgeben und die Leute sich ihr eigenes Bild darüber machen lassen.

Und dann war da noch dieser Pakt, den ihr mit eurer Mutter geschlossen habt. Der besagte, dass ihr so lange im Keller üben könntet, wie ihr Musik mit den richtigen Inhalten macht.

Lillian: Stimmt. Wir konnten 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche spielen, so lange wie wir bedeutungsvolle Dinge schreien.

War sie denn zufrieden mit euren Resultaten?

Lillian: Ja, sehr sogar. Als wir noch klein waren, hat sie die Lyrics für uns geschrieben. Sie hat dann so was geschrieben, wie, dass wir alle Feministen wären, und das jeder Mann eine Frau wäre, und jede Frau ein Mann. Solche Sachen. Das hat uns tatsächlich sehr geformt. Sie war die wahre Patti Smith.

Wie schreibt ihr eure Musik? Was für Vorbilder habt ihr?

Lillian: Meine drei größten Einflüsse sind Silvia Plath, Frida Kahlo und Tupac Shakur. Ich liebe diese drei. Bei Frida ist es das Visuelle, bei Silvia ist es die Lyrik, und bei Tupac die Leidenschaft. Er hatte diesen Drive, den wohl niemand so sehr wie er hatte. Seit Bob Marley. Aber mein größtes Vorbild ist Silvia Plath. Immer wenn ich Songs schreibe, frage ich mich, was sie machen würde, wenn sie Musik schriebe. Vielleicht sind meine Texte deswegen so wenig eindeutig.

Wenn man euer Album hört, könnte man tatsächlich denken, dass es sich um eine normale Rockband mit weitgehend unpolitischen Texten handelt. Ist es eure Absicht, bewusst nicht erzieherisch wirken zu wollen?

Lillian: Absolut. Wir wollen keine Prediger sein, und schon gar keine Meinungsdiktatoren. Wir wollen nur auf ein paar Dinge aufmerksam machen, die uns wichtig sind. Und dann hoffen wir, dass unsere Zuhörer entweder einer Meinung mit uns sind, oder sich ihre eigene Meinung bilden. Für mich war es schon wichtig, ein gutes Rockalbum zu schreiben, bei dem man mitsingen kann. Und die Lyrics aber eben nicht nur davon handeln, wie ich am besten meinen Schwanz in ein Mädchen stecke.

Auf eurer Homepage finden sich viele Links zu politischen Seiten im Netz. Auch eine Art, seine Meinung kund zu tun.

Lillian: Dass sind die Seiten, die wir nutzen, um uns zu informieren, und so können wir diese Information an unsere Leute weitergeben. Wir wollen unsere Homepage so gestalten, dass alle ihre Links reinstellen können.

Geht es euch denn um die Bush-Regierung?

Lillian: Nein, das geht viel weiter. Die Bush-Regierung stellt ja nur ein Problem dar. Es ist im Moment wohl das dringenste Problem. Darum veranstalten wir jeden Abend auf der Bühne ein Bush-Burning.

Ein was?

Lillian: Ein Bush-Burning. Wir verbrennen ein Foto von ihm. Wenn wir in Europa sind, ist die Bush-Sache natürlich leicht. Aber wir sprechen ja auch andere Dinge an, wie zum Beispiel den Drogenmissbrauch. Es gibt so viele legal erhältliche Drogen, wie Prozac zum Beispiel. Aber es macht die Leute auch kaputt. Das sind universelle Probleme. Ich meine, warum sollte ein Tagträumer Pillen gegen seinen "Zustand" nehmen? Wenn es keine Tagträumer in dieser Welt gäbe, gäbe es keine Kunst. Alle Künstler sind Tagträumer.

Das klingt ja nicht sehr Rock'n'Roll.

Lillian: Wir predigen die freie Wahl der Drogen. Wir wollen nicht, dass man von einem Lehrer oder einer Mutter oder von einem Bullen dazu gezwungen wird, Drogen zu nehmen. Wenn du Heroin nehmen willst, dann mach das. Drogenkonsum als freie Entscheidung unterstützen wir, erzwungenen Drogenkonsum natürlich nicht.

Und du bist mit 18 schon mittendrin. Sollte sich Deine Mutter sorgen um dich machen?

Bosh: Natürlich machen sich unsere Eltern Sorgen um uns, aber sie wissen, dass wir hier sind, um eine gute Message zu verbreiten. Sie wollen, dass wir das hier machen.

Eve: Es ist eine coole Art, erwachsen zu werden.

Bosh: Sie sagen nicht: 'Geh aufs College', sie sagen: 'Geh, entdecke die Welt'.

Lillian: Wir sind wie Wanderprediger. Wir kommen in deine Stadt und versuchen dich zu überzeugen. Wenn ja, dann kommst du mit, wenn nicht, dann bleibst du zu Hause.

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LAUT.DE-PORTRÄT Living Things

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