"Good evening, we're Tokio Hotel": In Mannheim ging ein denkwürdiges Open Air über die Bühne - mit vielen Hits, aber nicht ohne Pannen.
Mannheim (mis) - "Willkommen bei der Afterhour von Regenbogen 2 Rhein-Neckar - wir spielen für euch nochmal die Hits des heutigen Abends von den Red Hot Chili Peppers und Iggy Pop", klingt es ab 23 Uhr aus dem Autoradio, während 35.000 Fans, die Hälfte davon in RHCP-Shirts, die Straßen um das Maimarktgelände fluten.
Das ist schön, hätte da nicht noch eine dritte Band gespielt, die um 18.30 Uhr bei über 30 Grad komplett schwarz gekleidet, teilweise langärmlig, die Bühne betreten hätte. Eine Anekdote, die die Verbindung der drei Bands zum Mannheimer Publikum sehr gut illustriert: The Mars Volta sind auf dem Papier zwar auch eine Rockband, aber mit vergleichsweise komplizierten Riffs und im Gegensatz zu Iggy Pop ohne altersgegerbte Lederhaut und auch noch komplett hitbefreit.
"We're Tokio Hotel"
Radiotauglich ist daher nicht das Adjektiv, das einem zu den Texanern als erstes einfällt, und so ist es eher eine Art verschworene Nerd-Splittergruppe, die die Brillanz dieses "Monsters of Rock"-Triple-Line-Ups zu schätzen weiß und den Platz vor der Bühne dem Schatten der Volksfest-ähnlich aufgebauten Bierzelte auf dem Areal vorzieht. Nicht, dass The Mars Volta ihren Elfenbeinturm-Prog hochnäsig zelebriert hätten - Sänger Cedric Bixler-Zavala ging sofort auf Tuchfühlung: "Good evening everybody, we're Tokio Hotel" begrüßte er die Menge.
Was danach folgt sind 30 prallvoll gepackte Minuten Prog-Jazz-Irrsinn mit Latino-Note im Abgang, dargeboten von einem hyperventilierenden Frontmann. Einzelne Songs zu erkennen, ist hier eine Disziplin für sich, The Mars Volta dampfen Strukturen ein oder dehnen sie aus, ihre Setlist besteht je nach Zählweise aus drei oder vier Songs, dabei sind in jedem Fall "L'Via L'Vìaquez" von "Frances The Mute", Highlight des Nachmittags, sowie zu Beginn "Drunkship Of Lanterns" vom gerade 20 Jahre alt gewordenen Kultdebüt "De-Loused In The Comatorium".
Bemerkenswert: Die deutsche Schlagzeugerin Linda-Philomène Tsoungui, auch schon bei Mine auf der Bühne gesichtet, die den verschlungenen Wegen von Chefzwirbler Omar Rodriguez-Lopez variantenreich und songdienlich folgt. Ein 30-minütiger Summer Jam, der wenig Wünsche offen lässt, auch weil man am Auftreten der sieben Bühnenmusiker*innen nie erraten könnte, ob sie gerade vor 35 oder 35.000 Menschen spielen. Zum Schluss bedankt sich Bixler-Zavala für den Support der Red Hot Chili Peppers und gibt dem Publikum noch hilfreiche Ratschläge mit auf den Weg: "Do your homework, look left and right before you cross the street, wash your ass." Don't mess with Texas. Die leise Hoffnung auf einen Gastauftritt von Flea war da längst Makulatur.
Auch Iggy Pop betritt bei gleißendem Sonnenlicht zu "Five Foot One" die Bühne. Dass der Mann mittlerweile 76 Jahre alt ist, merkt man nach wie vor nicht: Allein sein legendäres Erscheinungsbild mit nacktem Oberkörper versetzt die Menge in Feierlaune - völlig egal, dass die musikalische Untermalung ein selten gespielter Track des 1979er Albums "New Values" darstellt. Die zwei Stooges-Klopfer "T.V. Eye" und "Raw Power" sorgen zwar für ordentlich Druck in den vorderen Reihen, doch erst bei "The Passenger" brechen alle Dämme, und Iggy darf selig lächelnd den Publikumschor dirigieren, der den absolut festivaltauglichen Refrain grölt: "La-la-la-laaa La-la-la-laaa."
Wenn du danach noch Tracks wie "Lust For Life" und "I Wanna Be Your Dog" in petto hast, ist dir sowieso jedes Rockpublikum ergeben. Selbst RHCP-Drummer Chad Smith lässt sich dieses Schauspiel am Bühnenrand nicht entgehen. Als sich Iggy beim genannten Stooges-Oldie für seine berüchtigte Dog-Performance binnen Sekunden in die Horizontale begibt, befürchtet man kurz, er könne versehentlich über ein Kabel gestolpert sein, doch alles bestens, hier ist eben ein Mann mit fünfzigjähriger Bühnenerfahrung am Start. Musikalisch begeistern die zwei Herren am Bläsersatz: Trompete und Posaune verleihen selbst einem stumpfen Rocktrack wie "Frenzy" noch Soul-Vibes, zumal das Duo in den Pausen edelste Gesangsharmonien abliefert.
Abgefeiert wird dafür selbstverständlich Sir Iggy, der nach "Search And Destroy" mit hochgerecktem Arm die Bühne verlässt und diesen selbst auf dem Weg ins Backstage nicht runternimmt. Danach wird die Menge ungeduldig, denn es steht der Hauptact an, der nach dem letztjährigen Gig in Hamburg das einzige Deutschland-Konzert in der Kurpfalz gibt. Da will auch die Mannheimer Polizei ihre Sachkenntnis offenlegen.
????LOOK AROUND
— Polizei Mannheim (@PolizeiMannheim) June 26, 2023
????Auch die @FwMannheim und das @roteskreuz_de sind hier für Eure Sicherheit bei #RHCP.
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????CARRY ME HOME?
????Sanitätsdienst z.B. rechts vor der Bühne (Fahne mit dem roten Kreuz), ansonsten auch überall auf dem Gelände unterwegs ???? pic.twitter.com/zC7Q3EYz2F
Wer auf eine 17 Jahre lange Wartezeit verweist, übergeht zwar wissentlich die Ära Klinghoffer, doch das ist längst Folklore im RHCP-Universum. Nobody weird like John: An allen Hits der Band ist Frusciante beteiligt gewesen, daher wird niemand so angehimmelt wie er, und selbstverständlich erklingt kein einziger Song aus den Zeiten der Aushilfsgitarristen Klinghoffer oder Navarro. Selbst Hits der aktuellen Besetzung müssen weichen: Anstelle von "Can't Stop" empfangen die Kalifornier mit dem aufpeitschenden "Around The World" - ein würdiger Start.
Doch schon bald knistert es im Gebälk: Während "Scar Tissue" missfällt Anthony Kiedis ein Detail der Show, er diskutiert anschließend mit Flea und Drummer Chad Smith, nach "Snow (Hey Oh)" dann sicher eine Minute lang mit Frusciante. Offenbar funktioniert die Akustik nicht, zumindest fummelt er mehrmals an seinem In-Ear-Monitoring herum. Die gute Laune des Openers ist jedenfalls wie weggeblasen, bei den folgenden drei Songs verlässt Kiedis unmittelbar nach seinen Gesangparts die Bühne oder setzt sich hinter Smith auf die Drumtreppe.
"Mann-fucking-heim"
Glücklicherweise haben die Peppers mit Flea aber einen weiteren Entertainer in ihren Reihen, der zudem das notwendige Gespür dafür hat, wann sein Sänger mal einen schlechten Tag erwischt hat. Da Kiedis in den folgenden rund 70 Minuten kein Wort mehr ans Publikum richtet - abgesehen von obligatorischen Danksagungen - reißt der kleine Mann die Show an sich.
Ob Wortspiele wie "Mann-fucking-heim", irrwitzige wie unverständliche Zungenbrecher-Reime zur Auflockerung, überschwänglichen Dank an die Supportbands oder Groove-Lektionen in Kombination mit Smith: Den Abend in Mannheim rettet einzig und allein die Drum'n'Bass-Fraktion. Selbst Frusciante bleibt angesichts der unerbittlichen Power seiner Kollegen eher blass, legt sich im letzten Drittel des Konzerts aber nochmal ins Zeug und sorgt ebenfalls für eine solide Vorstellung.
Flea rotiert
Zumal die Setlist wenig Grund zur Klage bietet: Oldies wie "Soul To Squeeze" und das furiose "Me & My Friends" stehen einträchtig neben neueren Stücken wie "Eddie" und "Here Ever After", vor allem "Whatchu Thinkin'" könnte sich zukünftig im Programm etablieren. Und während Kiedis buchstäblich jeden Songtext vom Teleprompter abliest, rotiert Flea selbst bei Midtempo-Pop-Nummern wie "Snow (Hey Oh)" unablässig von einer Bühnenseite zur anderen. Die gigantische LED-Wand hinter der Band sorgt alleine schon für einen besonderen Showeffekt, der die Unlust des Anthony K. beinahe alleine wettmacht.
Selbstverständlich gehen die Anfangsakkorde von "Californication" im ohrenbetäubenden Jubel unter und selbst "By The Way" wird abgefeiert wie ein Alltime-Classic - der er letztlich auch ist. Dass Frusciante sein "Californication"-Solo in den Sand setzt, ist dann noch eine kleine Überraschung gegen Ende, ebenso wie die Tatsache, dass Kiedis stimmlich erstaunlich passabel abliefert, wenngleich er auf athletische Höchstleistungen, wie gesagt, verzichtete.
"Jetzt spielen wir euch 'Under The Bridge', das die Red Hot Chili Peppers eben im Konzert tatsächlich ausgelassen haben", ereifert sich später SWR3, unempfänglich für die Tatsache, dass diese Band auch nach 40 Jahren nach ihren eigenen Regeln spielt.
Setlist The Mars Volta:
Drunkship of Lanterns
L'Via L'Viaquez
Graveyard Love
Drunkship of Lanterns
Setlist Iggy Pop:
Five Foot One
T.V. Eye
Modern Day Rip Off
Raw Power
The Passenger
Lust For Life
I Wanna Be Your Dog
Frenzy
Search And Destroy
Setlist RHCP:
Intro Jam
Around The World
Scar Tissue
Snow (Hey Oh)
Here Ever After
Suck My Kiss
Eddie
Soul To Squeeze
Me & My Friends
These Are The Ways
Throw Away Your Television
Tell Me Baby
Whatchu Thinkin'
Californication
Black Summer
By The Way
Zugaben:
I Could Have Lied
Give It Away
1 Kommentar mit 2 Antworten
Nah. Schwachsinn! Ich war selbst Augenzeuge dieses Happenings in den ersten Reihen und ich nehme die Peppers beherzt in Schutz. Das ist und war niemals eine Gruppe die während eines Live-Auftritts viel Kontakt zum Publikum sucht. Wer ein 4-köpfiges Animatoren-Team braucht welches dem Publikum Tanzinstruktionen gibt, der soll auf einen Campingplatz an die Adria fahren. RHCP waren da, sie waren pünktlich und sie haben eine starke Setlist von Anfang bis Ende großartig und auf hohem Niveau gespielt. Die improvisierten Jams von Flea und Frusciante waren das absolute Highlight!
Wenn, dann hat sich die Band einfach nur situationsbedingt an den komatösen Spirit des germanischen Publikums angepasst. Das war einfach nur peinlichXD. Ein paar Köpfe haben sich in der ersten Reihe bewegt und das wars. Der Rest der versammelten, smartphonetragenden Gesellschaft machte den Eindruck einer scheintoten Zombie-Horde... möglicherweise waren die Leute noch müde und erschöpft nach dem stressigem Wochenende in der Gartenlaube.
Du warst anscheinend auf einem anderen Gig als ich. Um mich rum ging ordentlich die Post ab. Nix Zombie. Mosch Pit vom feinsten. Die Band war tatsächlich etwas seltsam und das Kiedis hat den halben Abend vom Teleprompter abgelesen hat, war wohl kaum zu übersehen. Wirkte stellenweise etwas bocklos. Die „atmosphärischen“ Störungen am Anfang waren tatsächlich seltsam, da hat man gut eine Minute intensiv diskutiert. Eines ist klar. Die Herren sind schon ganz schöne Diven. Vor dem Set ist ein Techniker mit dem Zollstock rumgerannt und hat die korrekte Höhe der Mikros gemessen. Hab ich persönlich noch niebgesehen. Musikalisch war es aber trotzdem ein grandioser Gig.
Vielleicht kam Kiedis gerade von Lolita Island zurück und war noch etwas durcheinander?
Naja, immerhin klappte es vom Teleprompter. Obama hat es vorgemacht; vielleicht die Blaupause fürs Showbusiness.,,