1. Dezember 2011

"Nichts ist unmöglich"

Interview geführt von

Seit nunmehr vier Jahren wartet die Nightwish-Anhängerschaft auf ein neues musikalisches Lebenszeichen ihrer Heroen. Doch die Mannen um Mastermind Tuomas Holopainen ruhten sich in der Zwischenzeit keineswegs aus.Ganz im Gegenteil, denn kaum war seinerzeit das Video zu "The Islander" abgedreht, steckten die Bombast-Metaller inklusive Regisseur Stobe Harju bereits ihre Köpfe zusammen, um sich über ein neues Schaffen auszutauschen: Bühne frei für "Imaginearum"! Nun ist also so weit. Die Fan-Gemeinde der Finnen freut sich dieser Tage auf den ersten Teil des größten Nightwish-Projekts seit der Bandgründung anno 1996.

Das Ganze hört auf den mystischen Namen "Imaginaerum" und beinhaltet nicht nur das siebte Studio-Werk der Skandinavier, sondern ebenso einen gleichnamigen Fantasy-Film, der im nächsten Jahr in die Kinos kommt und der als Grundlage für das langersehnte neue Audio-Material dienen soll.

Zwei der fünf Bombast-Nordlichter, Keyboarder Tuomas Holopainen und Bassist und Sänger Marco Hietala beehrten die Hauptstadt für einen exklusiv anberaumten Promo-Tag und luden zudem zur Pre-Listening-Session des neuen Albums. Erwartungsfroh stellten sich die Beiden den Fragen der angereisten Journaille und plauderten in der Folge über geleistete Überzeugungsarbeit, die Angst vorm Tod und persönliche Glücksmomente.

Euer letztes Album "Dark Passion Play" setzte im Bereich Symphonic-Metal neue Maßstäbe. Viele dachten, das könne man in Sachen Opulenz und Epik nicht mehr toppen und erwarteten vom nächsten Output eher einen Rückschritt. Nun sitzen wir hier und reden über "Imaginaerum", einem Projekt, das alles Vorherige abermals in den Schatten stellt. Ist hiermit das berühmte Ende der Fahnenstange erreicht?

Marco: Ich denke nicht. Das ist ja das Schöne an Musik. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten Sounds und Arrangements zu verbinden, dass es immer noch eine Steigerung geben kann. Es ist so wie mit der Konstellation der Sterne. Du musst halt nur aufpassen, dass du den Überblick und die Kontrolle behältst und dich nicht in deinen Visionen verlierst. Wenn man das schafft, ist alles möglich. Es gibt keine Grenzen.

Ihr habt also noch den Überblick?

Tuomas: Das hoffe ich zumindest (lacht). Ich meine, die Gedanken, ob und vor allem wie das vorherige noch zu toppen sei, begleiten uns eigentlich schon seit "Once". Dann kam "Dark Passion Play", wo wir das theatralische Element nochmals steigern und intensivieren konnten. Und nun haben wir mit "Imaginaerum" ein weiteres Level erreicht. Das ist schon bemerkenswert, zumal die letzten Jahre nicht immer einfach waren für die Band.

Ich denke, du meinst dabei in erster Linie die Ausstiegs-Posse um eure Ex-Sängerin Tarja Turunen. Inwieweit hat sich die Band nach dem Ausstieg von Tarja mittlerweile wieder gefestigt?

Tuomas: Ich glaube, wir sind an dieser Erfahrung gereift. Nicht nur als Band, sondern auch jeder einzelne als Person. Das ganze Theater hat uns seinerzeit ziemlich mitgenommen und uns im ersten Moment um Lichtjahre zurückgeworfen. Keiner wusste wie und ob es mit Nightwish weitergeht. Mit Anette (Anette Olzon, die neue Nightwish-Sängerin) haben wir aber die richtige Wahl getroffen, obwohl sie lange Zeit am meisten von uns allen gezweifelt hat.

Demnach musstet ihr bei Anette viel Überzeugungsarbeit leisten?

Marco: Es ging dabei nie um ihre Qualität als Sängerin. Wir wussten alle relativ schnell, dass sie die perfekte Stimme für unsere Zwecke hatte. Sie hatte einfach Angst vor den öffentlichen Reaktionen. Tarja war jahrelang das Aushängeschild der Band und genoss viele Sympathien unter den Fans. Plötzlich steht dann jemand Neues an ihrer Stelle. Das ist im ersten Moment für alle Beteiligten keine einfache Situation.

Wir haben viel mit ihr gesprochen, sie aufgemuntert und versucht, ihr die Angst und die Zweifel zu nehmen. Das hat auch sehr schnell und sehr gut geklappt. Es ging uns nicht darum, einen Tarja-Klon zu finden. Wir haben bewusst versucht eine Stimme ausfindig zu machen, die sich von der Vergangenheit unterscheidet und der Band ein neues Gesicht verpasst, ohne die Basis aber gänzlich zu vergessen.

"Das Kind wohlauf, die Platte großartig: Was will man mehr?"

Bei den Aufnahmen zu "Dark Passion Play" stand das Material bereits weitestgehend, bevor Anette ihre Parts einsang. War sie dieses Mal intensiver an der Entstehung des Albums beteiligt?

Tuomas: Sie war an den ersten Song-Skizzen beteiligt. Die Geburt ihres zweiten Kindes fiel in die Zeit, als wir uns auf den Weg in unser Probe-Camp machten. Sie stieß dann wieder zu uns, als es darum ging, die Gesangs-Parts einzusingen. Natürlich hätten wir sie letztes Jahr im Camp gerne dabei gehabt. Es war eine tolle Atmosphäre, ganz familiär und entspannt. Dieses Camp wird normalerweise von Naturfreunden, Aussiedlern und Pfadfindern genutzt. Es gab viele gemütliche Hütten und jeder hatte sein eigenes kleines Häuschen. Abends kamen die Familien dazu, wir haben gegrillt und viel Spaß gehabt. Ein toller Mix aus Arbeit und Erholung.

Anette hätte sich dort bestimmt wohl gefühlt. Letztlich hat ihr Fehlen aber keinerlei Probleme dargestellt hinsichtlich der Qualität des Endproduktes. Sie hat die Gabe mit ihrer Stimme jedem einzelnen Song eine ganz individuelle Note zu verleihen. Das hat sie dann bei den Aufnahmen auch eindrucksvoll bewiesen. Das Kind ist wohlauf, die Platte ist großartig: Was will man mehr? (Lacht)

Demzufolge ist das Thema Tarja ein für alle Mal gegessen?

Tuomas: Ich habe im Laufe der Jahre gelernt, dass selbst die unmöglichsten Dinge passieren können. Im Moment ist aber kaum etwas weiter weg, als der Gedanke an eine Rückkehr von Tarja zu Nightwish.

Ok, dann lass uns wieder zum aktuellen Tagesgeschehen zurückkehren. Ihr habt für "Imaginaerum" abermals mit einem kompletten Orchester (London Symphony Orchestra) gearbeitet. Mittlerweile dürfte das für euch ja fast schon zum Alltag gehören. Ihr habt mit denselben Leuten bereits während der "Once"-Aufnahmen zusammengearbeitet. Ist es dennoch immer wieder aufs Neue faszinierend für euch zu sehen, wie sich ein klassisches Ensemble mit euren Werken auseinandersetzt?

Tuomas: Absolut. Man kann diese Momente gar nicht richtig in Worte fassen, wenn die nackten Song-Fragmente plötzlich von dermaßen berauschender Opulenz ummantelt werden.

Marco: Bei diesen Leuten wird Professionalität neu definiert. Du kannst gar nicht so schnell gucken, wie sie deine Songs verinnerlichen. Ich meine, unsere Lieder sind ja nicht gerade spartanisch arrangiert. Du musst dir vorstellen, die Aufnahmen begannen um zehn Uhr früh. Das Orchester erschien um viertel vor zehn. Sie setzten sich hin, schauten auf ihre Notenblätter und spielten los, als hätten sie sich wochenlang vorher schon mit dem Material beschäftigt. Du stehst dann nur da und machst große Augen.

Große Augen werden auch eure Fans machen, wenn das Audio-Material von "Imaginaerum" im nächsten Jahr einen kompletten Spielfilm untermalen wird. Durchlebt ihr gerade eine Art emotionalen Interessenkonflikt, auf welche Veröffentlichung von "Imaginaerum" ihr euch mehr freut?

Marco: (Lacht) Nein, nicht wirklich. Wir freuen uns gleichermaßen auf die Veröffentlichung des Albums als auch auf die Film-Premiere im Frühjahr 2012. Normalerweise fällt die Spannung immer etwas von einem ab, sobald ein neues Album einige Wochen draußen ist. Bei uns ist es dieses Mal etwas anders, denn wir haben noch ein gewaltiges Paket in der Hinterhand.

Ich glaube, dass dieses Gefühl der Band auch für die kommende Tour gut tun wird. Letztlich ist es ja so, dass beides, das Album und der Film, zwar zusammengehören, wir aber bewusst so gearbeitet haben, dass die Platte und jeder einzelne Song darauf auch für sich alleine stehen kann. So haben wir nicht das Gefühl, dass noch etwas fehlen würde, wenn wir das Album veröffentlichen.

Tuomas: Ein Album zu veröffentlichen ist eine Sache. Wenn man das Ganze dann aber noch in ein abendfüllendes Fantasy-Spektakel einbinden kann, kriegt man schon Gänsehaut nur beim Gedanken daran. Zu sehen und zu erleben, wie das Film-Projekt sich entwickelte und welche Ausmaße es annahm, war schon eine beispiellose Erfahrung für alle Beteiligten.

Das kann ich mir gut vorstellen. Vier Jahre lang hat die Umsetzung gedauert. Kam euch irgendwann einmal der Gedanke alles hinschmeißen zu wollen?

Tuomas: Die ersten beiden Jahre hatten wir, ehrlich gesagt, kaum Zeit, uns mit solch fundamentalen Fragen auseinanderzusetzen, da wir uns auf Tour befanden. Zu dieser Zeit entstanden lediglich erste Song-Ideen, Screenplays, Skizzen und Zukunftsvisionen, wie denn vielleicht alles am Ende aussehen könnte. Erst in den letzten beiden Jahren haben wir uns wirklich intensiv mit der Umsetzung beschäftigt. Und ja, es gab einige Momente, wo das ganze Projekt auf der Kippe stand.

Wir reden hier von einem Unterfangen was von der Finanzierung gesehen weit über allem liegt, was wir jemals gemacht haben. Dahingehend die richtigen Entscheidungen zu treffen und einen Weg zu finden, mit dem alle glücklich sind, war nicht immer einfach. Doch als dann alles in trockenen Tüchern war, gab es kein Zurück mehr und die Maschine fing an zu laufen (lacht). Der Moment als wir das erste Mal am Set erschienen, war für mich persönlich der schönste und wichtigste während der ganzen letzten vier Jahre. Plötzlich ging es wirklich los, ein tolles Gefühl.

Ging es dir ähnlich, Marco?

Marco: Ja, definitiv. Wobei ich die Zeit in unserem Sommer-Camp noch beeindruckender fand, als sich alle Songs plötzlich zu einem Ganzen entwickelten und diese faszinierende Gesamt-Geschichte entstand.

"Ich habe Angst vor dem Tod"

Der Film handelt von der Brücke zwischen Leben und Tod. Es geht um das Älterwerden und die damit verbundene Kraft der Erinnerungen, und um die Hoffnung, in den dunkelsten Stunden Licht zu sehen. Wie sieht es bei euch aus? Habt ihr Angst vor dem Älterwerden?

Tuomas: Ich habe Angst vor dem Tod, nicht vor dem Älterwerden. Ich lebe so gerne auf diesem Planeten, und es graut mir davor, irgendwann einmal Lebewohl sagen zu müssen, da ich am liebsten für immer leben würde. Ich erlebe so viele schöne Dinge Tag für Tag. Es ist schon eine Schande, dass dem irgendwann einmal nicht mehr so ist, zumal ich sehr skeptisch bin, ob sich nach dem Ableben weitere Türen öffnen.

Marco: Ich kann mich dem nur anschließen. So lange mich keiner vom Gegenteil überzeugt, versuche ich, jeden Tag zu genießen und mit Gehalt zu füllen, bis sich das letzte Tor schließt (lacht).

Der Film wurde in Montreal, Kanada, gedreht. Als ich hörte, dass ihr einen Film in Angriff nehmen wollt, dachte ich zuerst an Neuseeland.

Tuomas: Ja, das habe ich schon oft gehört. Neuseeland wäre natürlich auch gut gewesen. Aber wir mussten, wie gesagt, auch die Finanzen im Überblick behalten, und in Kanada ist die Produktions-Firma beheimatet. Insofern lag es nah, dort nach einer geeigneten Location zu suchen.

Marco: Für mich persönlich ist mit der Kanada-Entscheidung ein Traum in Erfüllung gegangen. Es ist ein wunderschönes Land mit unvergleichlichen Orten, die du sonst nirgends auf der Welt findest. Persönlich gibt es für mich nur zwei Länder auf dieser Welt, wo ich leben könnte: Finnland und Kanada.

Ihr spielt auch selber im Film mit. Wie war das für euch?

Marco: Das war schon eine interessante Erfahrung, aber man sollte unseren bescheidenen Beitrag nicht überbewerten. Wir haben keine Dialoge und spielen auch sonst als Personen nur eine eher untergeordnete Rolle. Es geht primär um die Musik. Wir machen in dem Film eigentlich genau das, was wir sonst auch machen: Musik. Es ging dabei hauptsächlich darum, eine Verbindung herzustellen, zwischen Musik und Film.

Wie bereits erwähnt, treibt ihr es auch dieses Mal in Sachen Opulenz und Epik wieder bis zum Äußersten. Wann ziehen sich bei euch die Mundwinkel hinsichtlich neuer Songs am höchsten? Bedarf es der kompletten Fertigstellung eines Tracks oder entstehen die ersten Glücksmomente bereits beim eigentlichen Songwriting zuhause vor dem Kamin?

Tuomas: Um ehrlich zu sein, gibt es für mich keinen intensiveren Moment als den, wenn ich das erste Mal merke, dass eine Song-Idee funktionieren könnte. Ich kann mich beispielsweise erinnern, als ich den Song "Storytime" schrieb und mich das erste Mal mit dem Refrain befasste. Der Augenblick, wenn du merkst, dass etwas Großes entsteht, ist für mich persönlich mit nichts zu vergleichen. Das ist mein Antrieb bei jedem Song, den ich angehe; diesen Moment zu erreichen.

Natürlich ist es ein ebenso erhabenes Gefühl, wenn sich auf diesem Fundament letzten Endes ein gewaltiges Gesamtbild entwickelt, mit fetten Gitarren, tollem Gesang und orchestraler Begleitung. Doch über all dem stehen die Sekunden, wenn sich das erste Mal das Gefühl breit macht, etwas Funktionierendes geschaffen zu haben.

Das Ergebnis dann auf die großen Bühnen dieser Welt zu tragen, dürfte sicherlich ähnlich befriedigend für euch sein. Was dürfen die Fans auf der kommenden Tour von euch erwarten?

Marco: Es wird ein intensives Spektakel, keine Frage. Der Film kommt zwar erst im nächsten Jahr raus, doch wir werden sicherlich schon einige Clips davon auf Tour präsentieren können. Wie das am Ende genau aussehen wird, wissen wir selbst noch nicht genau, da die Arbeiten noch nicht abgeschlossen sind. Aber es wird auch visuell Einiges geboten. Das kann ich schon einmal versprechen.

Hattet ihr je daran gedacht, eine One-Album-Tour zu machen, um den Inhalt von "Imaginaerum" noch deutlicher in den Fokus zu stellen?

Marco: Nein, denn das wäre uns zu einseitig. Natürlich wird das Hauptaugenmerk auf dem neuen Album liegen. Aber wir werden auch viele alte Songs spielen. Wenn ich auf ein Konzert von einer Band gehe, die ähnlich viel Material hinter sich herzieht wie wir es tun, würde ich mich langweilen,nur mit den Ergüssen eines einzigen Albums konfrontiert zu werden.

Der nächste Kollege scharrt schon mit den Füßen. Habt vielen Dank für die Zeit.

Marco: Sehr gerne.

Tuomas: Wir haben zu danken.

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