10. Oktober 2024

"Die Südstaaten sind kein freundlicher Ort"

Interview geführt von

Acht Jahre nach ihrem Debütalbum "A Moment Of Silence" meldet sich die Band aus Atlanta mit "Greetings From Suffocate City" zurück. Auf der Bühne und in ihren Musikvideos kombinieren die Emo-Rocker tiefsinnige Songtexte mit theatralischen Elementen. Ihre Message: Leben und leben lassen.

Lee Jennings sitzt im Tour-Trailer vor seinem Laptop. Der grünhaarige Frontsänger von The Funeral Portrait ist per Zoom zugeschaltet. In ein paar Stunden steht er gemeinsam mit seinen vier Bandkollegen als Vorband von Ice Nine Kills auf der Bühne. Sie teilen sich das Vorprogramm mit dem umstrittenen Marilyn Manson. Unterschiedlicher könnten die beiden Support-Acts jedoch nicht sein. Denn obwohl auch The Funeral Portrait mit Düsternis und Gruselelementen spielen, sind sie im Vergleich zu Manson eher der Goldene Retriever der Emo-Szene.

Hi Lee, für viele eurer Fans steht The Funeral Portrait für die Einstellung, Spaß zu haben, sich selbst auszudrücken und das Leben zu lieben. Dem gegenüber steht euer doch sehr morbider Bandname. Wie bringt ihr diese beiden Gegensätze unter einen Hut?

Die meisten Leute, die sich für düstere Musik interessieren, haben mit Depressionen oder ähnlichen Dingen zu kämpfen. Unsere Songs handeln davon, wie man Depressionen und Ängste begegnet und sein Leben in vollen Zügen lebt. Uns geht es darum, dass es in Ordnung ist, darüber zu reden. Oft ist man sich nicht bewusst, wie viele andere Menschen auf dieser Welt mit den gleichen Dingen zu kämpfen haben. Wir wollen zeigen, dass wir im selben Boot sitzen. Manchmal vergessen Fans, dass wir auch nur Menschen sind. Nur weil wir Musik machen, heißt das nicht, dass wir über den Dingen stehen.

Die Songs eures neuen Albums "Greetings From Suffocate City" handeln oft davon, dass man sich wie ein merkwürdiger Außenseiter fühlt und dem Glück, wenn es anklopft, nicht so recht traut. Wann hast du dich selbst als Außenseiter gefühlt?

Als wir aufwuchsen, wurden wir immer dafür ausgelacht, dass wir anders und seltsam waren oder die Dinge mochten, die wir mochten. Mit den Songs wollen wir der jüngeren Version von uns selbst gerne sagen: "Macht weiter, bleibt so wie ihr seid!" In der modernen Musik geht es oft nicht mehr um Verletzlichkeit. Es geht mehr darum, cool zu sein. Ich wollte, dass unsere Band zu dem Zeug zurückkehrt, mit dem wir aufgewachsen sind. Der Entstehungsprozess des Albums hat lange gedauert. Wir haben uns hingesetzt und die Songs immer und immer wieder überarbeitet, um sie so zu gestalten, wie wir sie haben wollten. Mit der ersten Version der Platte war ich nicht wirklich zufrieden. Es fühlte sich nicht so sehr nach uns an, wie es jetzt der Fall ist.

Was hat dir an der ersten Version nicht gefallen?

Es gab ein paar Songs, die sich einfach nicht mehr echt anfühlten. Einige Songs haben wir über ein vorübergehendes Gefühl geschrieben, mit dem wir heute nichts mehr anfangen können. Wenn ich diese Lieder für den Rest meines Lebens spiele, möchte ich lieber über Dinge singen, mit denen ich auch in Zukunft etwas anfangen kann. Songs, die uns dauerhaft repräsentieren.

Glaubst du, dass es überhaupt möglich ist, Lieder zu schreiben, die für euch immer aktuell sein werden? Sind nicht alle Songs in gewisser Weise Momentaufnahmen?

Ich denke schon, wenn man sich auf andere Dinge konzentriert, als das Problem oder Gefühl, das man gerade durchmacht. Viele Dinge sind temporär. Mir geht es darum, sich daran zu erinnern, was man alles schon überwunden hat, statt sich an einer aktuellen Herausforderung festzubeißen. Denn man weiß nicht, wie lange ein Gefühl anhält.

"Wir haben mehr zu bieten als nur Musik"

Du hast an anderer Stelle gesagt, dass ihr mit diesem Album einen sicheren Raum für Menschen schaffen wollt, um schwierige Emotionen zu verarbeiten. Wo habt ihr selbst so einen sicheren Raum gefunden?

Ebenfalls in unserer Musik. Wir schreiben unsere Musik wie gesagt nicht nur für andere, sondern in erster Linie für uns selbst. Das ist uns sehr wichtig. Wenn wir auf die Bühne gehen und diese Songs spielen, ist das manchmal wie eine Therapiesitzung. Wir können einen Haufen Emotionen auf einmal loslassen. Es ist ein cooles Gefühl, dass wir mit den Emotionen unserer Songs so in Kontakt sind. Es ist eine kollektive Erfahrung, die wir mit unseren Fans teilen.

Eure Fangemeinde nennt sich selbst die "Coffin Crew", die Sarg-Crew. Und gemeinsam mit ihnen habt ihr diese ausgefeilte Bandmythologie geschaffen. In euren Musikvideos und auf der Bühne tauchen Figuren auf, die ihr Icons nennt. Wie seid ihr auf diese ganze Geschichte gekommen?

Wir suchten nach etwas, das unsere Songs in anderer Form repräsentiert. Wir haben zunächst mit einer Reihe von Ideen experimentiert. Als es an der Zeit war, unsere erste Single und das erste Musikvideo herauszubringen, dachten wir: "Was wäre, wenn wir unsere Songs mit Charakteren unterstreichen?" Unsere Fans haben sich das zu eigen gemacht. Einige von ihnen kommen als diese Figuren verkleidet zum Konzert. Das schafft ein besonderes Gemeinschaftsgefühl. Es sind dann nicht mehr nur fünf Jungs auf einer Bühne, sondern eine ganze Community mit den Fans. Wir haben ein bisschen mehr zu bieten als nur Musik. Ich denke, das ist bei moderner Musik sehr wichtig: Es ist eine Mischung aus Musik und Marke, eigene Kreativität unter Einbeziehung aller beteiligten Menschen.

Auf "Greetings From Suffocate City" handelt der Opener von dem Fantasieort "Suffocate City" (Erstickungsstadt). Habt ihr euch dabei von David Bowies "Suffragette City" inspirieren lassen?

Ja, ein bisschen. Wir haben versucht, eine thematische Welt für unsere Platte zu finden, die die Basis für alle Songs sein sollte. Bowie ist eine große Inspiration für die Platte und für uns als Band. Wir haben versucht, einen Song zu finden, der zur Stimmung des Albums passen würde. "Suffocate City" fühlte sich an wie das, was zu dieser Zeit passierte. Wir haben diese Platte während Covid geschrieben, als sich so viele Dinge veränderten. Es fühlte sich fast so an, als ob das Leben uns einen nach dem anderen ersticken würde. Aber auf dem Album ist Suffocate City eigentlich ein positiver Ort. Ein Ort des Glücks, der Authentizität und der Geborgenheit.

Angenommen, du würdest eine Postkarte aus Suffocate City an einen Freund schreiben, was würde darauf stehen?

"Ich wünschte, du wärst hier". Am Ende des Tages kannst du nur selbst nach Suffocate City reisen. Du kannst niemanden dazu zwingen, und letztendlich niemanden außer dir selbst glücklich machen. Du kannst sie nur dazu einladen. Man kann ihnen alles Gute wünschen und sich wünschen, dass sie sich zu einem gesellen können.

Auf der Platte gibt es einen Song namens "Dark Thoughts". Glaubst du, dass es besser ist, dunkle Gedanken anzunehmen oder sie zu bekämpfen?

Ich denke, es ist ein bisschen von beidem. Es geht darum, mit sich selbst im Reinen zu sein und das zu akzeptieren. Es war eine tolle Erfahrung, diesen Song in den sozialen Medien zu posten. So viele Leute haben sich davon angesprochen gefühlt. Wir schreiben unsere Songs in erster Linie für uns selbst, um unsere Gefühle auszudrücken. Es war cool zu sehen, dass so viele Leute das Gleiche fühlen und das selbe durchmachen wie wir.

Apropos dark thoughts: Ihr haltet euch nicht zurück, wenn es darum geht, auf die Probleme der amerikanischen Gesellschaft hinzuweisen. Die Präsidentschaftswahl steht bald an. Hast du dabei düstere Gedanken oder bist du optimistisch?

Ich denke, es ist so oder so. Wir sind keine wirklich politische Band, aber für uns war es schwer zu realisieren, dass, egal wie die Wahl ausgeht, es immer irgendeine Art von verkorkster Situation geben wird. "Dark Thoughts" passt definitiv zu meinen Gefühlen über das, was gerade in den USA passiert.

Welcher Aspekt der Gesellschaft nervt dich am meisten?

Die Vorstellung, dass jemand anders darüber entscheiden will, was man mit seinem eigenen Körper macht oder darüber, wen man lieben darf. Das ist kein Problem, das auf die USA beschränkt ist, sondern das gibt es weltweit. Lasst die Menschen einfach leben. Dafür treten wir als Band ein. Wenn die Regierung, Freunde oder Lehrer dir etwas anderes sagen, dann müssen wir protestieren. Lasst jeden sein Leben leben, solange er niemandem weh tut.

"Wir wollen die Heuchelei aufzeigen"

Der Song "Dopamine" klingt einen Hauch optimistischer. Wie bist du darauf gekommen?

Ich habe diesen Song darüber geschrieben, wie es ist, einem Hochgefühl hinterherzujagen, sei es Spaß, Liebe oder gesellschaftliche Anerkennung. Das setzt Dopamin frei. In dem Song geht es um die Jagd nach diesem Gefühl und die Angst, es wieder zu verlieren. Es klingt zunächst wie ein positiver Song, aber auf einer tieferen Ebene ist er ernster.

In eurem Song "Voodoo Doll" beschreibst du, was passiert, wenn die Jagd nach Dopamin zu weit geht. Hast du diese Erfahrung selbst gemacht?

Ja, ich glaube, jeder in unserer Band wurde schon einmal mit diesem Thema konfrontiert, entweder im eigenen Leben oder es betraf jemanden im Freundes- oder Familienkreis. In diesem Song geht es darum, wenn Drogensucht auf eine schreckliche Art und Weise endet. Aber der Song könnte genauso gut von anderen Süchten handeln, zum Beispiel von einem krankhaften Verlangen nach Liebe. Es geht darum, mitzuerleben, wie jemand in den Abgrund stürzt und nicht zu wissen, wie man dieser Person helfen kann. Man kann Menschen nicht kontrollieren, sie müssen sich selbst helfen wollen.

Das Thema Glück steht auch im Track "Happier Than You" im Mittelpunkt. Der Titel erinnert mich an die englische Redewendung "holier than thou", die eine arrogante Einstellung religiöser Menschen beschreibt.

Ja, auf diesen Spruch haben wir uns hier auch bezogen. Wenn man in der Kirche aufwächst, ist man von Menschen umgeben, die sich für etwas Besseres halten und behaupten, sie wüssten, was das Beste für dich ist. 90% dieser Leute sind jedoch selbst todunglücklich. Der Song soll ein bisschen provozieren. Wir wollen damit die Heuchelei aufzeigen. Sie predigen die gute Nachricht, aber handeln nicht danach. Und dazu sagen wir: Fickt euch doch.

Ist die ganze Band religiös aufgewachsen?

Etwa die Hälfte der Band, bei mir war es auf jeden Fall so. Religion ist einfach nichts für mich. Es ist okay, wenn es für andere Leute das Richtige ist. Es ist nur nicht in Ordnung, wenn es einem aufgedrängt wird, zum Beispiel von einem Partner oder einem Familienmitglied. Das ist dann der Punkt, wo eine Grenze überschritten wird.

Ihr spielt viel mit religiösen Begriffen. Manchmal benutzt ihr sogar sektenhaft anmutendende Wörter. Zum Beispiel nennt ihr eure Konzerte "devotion ceremonies" ("Hingabezeremonien"). Ist das eine Methode, euch von dem religiösen Ballast der Jugend zu befreien?

Ja, vor allem für unsere Fans und diejenigen, die aus den Südstaaten kommen. Das ist normalerweise kein freundlicher Ort für Menschen, die anders sind, zum Beispiel Menschen mit grünen Haaren. Je nachdem, wo man hingeht, muss man da schon vorsichtig sein, sonst wird man schnell negativ angemacht. Wir befassen uns viel mit den Wachstumsschmerzen, die man als junger Mensch in Amerika durchleidet.

Gibt es ein Ideal oder eine Sache, die es wert ist, sich ihr hinzugeben oder das Leben zu widmen?

Ja, man selbst. Sich selbst treu zu sein und zu lieben ist das Einzige, was wirklich zählt. Den Rest kann man auf dem Weg herausfinden. Man kann Jahre damit verbringen, jemanden zu lieben, und dann wacht er oder sie eines Tages auf und hasst dich. Aber man kann auch jahrelang an sich selbst arbeiten, sich selbst lieben, und nach Jahren wacht man irgendwann mit dem Gedanken auf: "Ich liebe mich immer noch". Sich selbst treu zu bleiben ist das Wichtigste.

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