4. Juli 2015
"Wir haben uns enorm weiterentwickelt"
Interview geführt von David HutzelCalexico sind echt schon lange unterwegs. So lange, dass selbst meine Mutter, mit der ich ansonsten in stetigem musikalischen Generationenkonflikt stehe, inzwischen auf die Band aus Tucson aufmerksam geworden ist. Kürzlich hat sie sich gar das neue Album "Edge Of The Sun" zugelegt, wohl ihr erster Tonträger-Erwerb seit der Queen Best-Of Anfang der 90er.
Nur die laut.de-Redaktion hat es in der 20-jährigen Geschichte von Calexico nicht hinbekommen, mal ein Interview mit der Band zu führen. Immerhin hat Kollege Benassi im Jahr 2004 Howe Gelb interviewt, mit dem die Calexico-Gründer Joey Burns und John Convertino einst bei Giant Sand spielten. Burns nahm sich nun Zeit für ein Gespräch, während sich die anderen sechs Bandmitglieder an einer frischen Lieferung Blue-Jeans erfreuten, die die zwei Inhaber eines kleinen Labels extra für die Denim-Liebhaber nach Heidelberg kutschierten.
Ich würde das Interview gerne mit einem Thema beginnen, das uns alle mehr denn je betrifft. Trotz Globalisierung bekommen wir in letzter Zeit vor Augen geführt, welch große Rolle politische Grenzen immer noch spielen. Das hast du sicher auch über die Nachrichten wahrgenommen: Jeden Tag riskiere Flüchtlinge ihr Leben, um nach Europa zu kommen. Zwischen den USA und Mexiko hat man damals einfach einen Zaun gebaut. Deine Band trägt das Überschreiten von Grenzen als ein Kernthema mit sich, dazu muss man sich nur das Wort "Calexico" vor Augen führen. Wie sehr setzt es dir deshalb zu, was derzeit überall auf der Welt passiert?
Unabhängig von meinem Beruf bringt mich das natürlich zum Nachdenken. Auch aus der Perspektive eines Vaters oder einfach nur eines Menschen, der auf dieser Welt lebt, bin ich besorgt. Denn hier geht es um die Zukunft. Und jeder, der sich darüber Gedanken macht, beschäftigt sich zurecht mit den Nachrichten und den Geschehnissen, ob nun im eigenen oder einem anderen Land. Als Musiker reisen wir sehr viel umher, sehen viel und reden mit den Leuten. Das hilft mir persönlich dabei, größere Zusammenhänge zu begreifen. Ich denke, dass jeder von uns noch zu lernen hat. Ich bin Musiker und kann nur meinen persönlichen Eindruck einer sehr komplexen Sachlage schildern. Aber speziell die Sache mit den Flüchtlingen ist ja über eine ganze Weile gewachsen. Da hängt meist eine lange Geschichte dran. Und hier kommt die Musik ins Spiel: Sie kann helfen, wenn es darum geht, Dinge der Vergangenheit aufzuspüren und sie in Zusammenhang zu bringen, um sie in einem Kunstwerk zu verarbeiten. Musik kann Themen, die schwierig zu diskutieren sind, zusammenfassen und so greifbar machen. Und ich rede hier nicht von Musik, die mit platten Parolen arbeitet, sondern mehr über solche, die emotionalisiert und die Geschichte des Einzelnen erzählt. Ich persönlich bin interessiert an allen Geschichten, egal aus welchem Kontext. Denn jede einzelne hält etwas darüber parat, wer wir wirklich sind. Vielleicht ist es durch diese Art von Selbstreflexion irgendwann möglich, Lösungen zu finden. Musik kann hierbei sehr behilflich sein, aber auch Kultur, Essen und Trinken und einfach Leute, die ihrer Passion nachgehen. All das kann und muss ein bisschen zu einer besseren Welt beitragen – es gibt ja nicht eine universale Lösung für alle Probleme auf der Welt.
Wie kann Musik dazu beitragen, dass die Kluft zwischen verschiedenen Kulturen nicht noch größer wird?
Was zuerst kommt, ist, dass wir als Musiker selbst Fans verschiedenster Genres und Kulturen sind. Wir haben Glück, denn wir kommen viel herum und erfahren das alles aus erster Hand. Leider können wir nicht uneingeschränkt alle Orte der Welt bereisen. Dabei wünsche ich mir das sehr. Dann könnte ich vielleicht so einiges besser begreifen. Aber darum geht es ja primär gar nicht. Wir wollen nicht die Anführer irgendeiner Bewegung sein. Wir konzentrieren uns vielmehr auf die Kleinigkeiten, zum Beispiel einen guten Song für uns selbst zu schreiben. Musik eignet sich nun mal gut als Verbreitungsmedium. So kann etwas viele Menschen an verschiedensten Orten erreichen, ohne dass du sie persönlich kennst. Das ist doch ein guter Anfang! Wir durchleben gerade schwierige Zeiten, die künftig wohl noch schwieriger werden. Nur gerade deshalb machen wir das hier: Weil es sich heilend anfühlt – für uns und für andere.
"Es bewegt mich zutiefst, wenn Menschen ihr Leben erst riskieren müssen, um zu überleben"
Euer mittlerweile neuntes Album "Edge Of The Sun" ist im März erschienen. Um die Songs dafür zu schreiben, habt ihr euch ein paar Tage nach Coyoacán, einem Stadtteil von Mexiko-Stadt, zurückgezogen. Mir ist klar, dass ihr der mexikanischen Kultur sehr verbunden seid, aber warum habt ihr euch gerade diesen Ort ausgesucht?
Aus demselben Grund, warum ich so gerne reise: Um neue Dinge zu entdecken. Wir lieben die mexikanische Kultur und haben dort im Haus eines guten Freundes von uns gewohnt. Es ist wunderschön und er hat ein Studio darin. Außerdem ist das Viertel geprägt von beeindruckender historischer Architektur. Wie hätten wir diese Möglichkeit auslassen können? (lacht) Natürlich ist es sehr schwierig, auf eine solche Reise zu gehen, wenn du Familie hast – wir touren ja schon oft genug! Meine Frau hat mich dabei aber unterstützt und mich schließlich für diese zwölf Tage gehen lassen. So waren wir in der Lage, sehr viel zu arbeiten. Nicht nur, weil uns die Kultur dort so viel Inspiration gab, sondern auch deshalb, weil wir so einmal mehr Zeit in einer Stadt verbringen konnten als nur die üblichen 24 Stunden, wenn du auf Tour bist. Wir haben sehr viele Leute getroffen: Zum Beispiel waren wir im Studio von Pedro Reyes, einem mexikanischen Künstler, der aus konfiszierten Waffen der Drogenkartelle Musikinstrumente gefertigt hat. Das ist ein sehr aussagekräftiges Motiv, insbesondere für diesen Teil der Welt, weil die Kartelle dort so viel Einfluss haben. Dort gibt es sehr viel Korruption und das ist traurig, weil das einen so großen Teil der dortigen Geschichte ausmacht.
Ich finde, dass man diese diversen Erlebnisse "Edge Of The Sun" durchaus anhört. Handelt es doch sehr viel von Bewegung, vom Unterwegs sein – und vom Ankommen. Dennoch fand unser Autor... Naja, sagen wir, er konnte der Platte nicht allzu viel abgewinnen. Ich selbst würde es dir gegenüber vielleicht salomonischer ausdrücken: Eure Songs stagnieren auf gewohnten Niveau. Stellt so ein Satz eher eine Beleidigung oder ein Kompliment für dich dar?
Weder das Eine noch das Andere. Aus meiner Sicht haben wir gerade unseren Höhepunkt erreicht, was das Songwriting und die Performances angeht. Klar hat natürlich jeder eine andere Meinung darüber. Unser erstes Album "Spoke" war Lo-Fi, von sehr bescheidener Qualität und die Lyrics waren okay. Im Vergleich dazu haben wir uns natürlich ziemlich weiterentwickelt – zumindest aus meiner Sicht! Nur hat da jeder seine eigene Meinung und das ist schließlich auch gut so. Ich kann es verstehen, wenn Leute unsere Musik nicht mögen. Sie ist nun mal nicht für jeden gemacht. Unsere Musik ist sehr vielfältig und teilweise unterscheiden sich die einzelnen Songs sehr stark. Darin liegt auch für uns die Herausforderung, weil wir dabei immer noch Fehler machen. Aber das ist doch okay. Nun schau dir mal an, wie vielseitig unsere fünfte Platte "Feast Of Wire" war – ein ziemlich solides Werk, wie ich finde. Nur fanden die Kritiker es nicht sonderlich gut, als das Album herauskam. Damit hatte ich damals kein Problem. Viele sagen aber inzwischen in der Rückschau, dass genau das ihre liebste Calexico-Platte sei. Unter anderem deshalb bereitet es uns nach wie vor sehr viel Freude, Musik zu machen. Ich denke, dass wir auch weiterhin sehr gute Arbeit liefern. Den Song "Bullets & Rocks" von der aktuellen Platte halte ich zum Beispiel für einen unserer besten Songs. Durch das, was er verkörpert und zu vereinen versucht – nämlich das, worüber wir eingangs geredet haben. Er erzählt die Geschichte von Menschen unserer Zeit, in der es immer mehr Extreme gibt: Sei es bei der Verteilung von Reichtum oder in dramatischen Situationen der Veränderung, in denen Menschen ihr Leben riskieren müssen, nur um das Überleben ihrer Familie zu sichern. Das ist doch unglaublich! Auch, wenn ich die Thematik nicht im Detail begreife, bewegt mich das natürlich zutiefst. Allein deshalb kann das natürlich auch Teil künftiger Calexico-Songs werden. Um zurück zu deiner Frage zu kommen: Es gibt immer Menschen mit verschiedenen Meinungen, und vielleicht ändern sich diese Einstellungen ja, wenn sie eine unserer Shows besuchen.
Du scheinst ja über die Jahre sehr resistent gegenüber Kritik geworden zu sein! Wie schaffst du es, das nicht an dich ranzulassen?
Die Dinge verändern sich laufend. Es ist dann schön, Menschen zu sehen, die Sachen anders angehen als man selbst, und sie aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Dazu gehören Kritiker genauso wie die Jungs von eben, die diese nachhaltigen Jeans produzieren. Es gibt mir Hoffnung, dass es Leute gibt, die Dinge einzig aus Leidenschaft tun und deshalb zu deren Ursprung zurückkehren. Ich glaube, unsere Herangehensweise als Band ist dem durchaus ähnlich. Dadurch, wie wir im Ensemble auftreten und welchen Themen wir uns annehmen. Ich folge nur meinem Herzen: Wir werden kritisiert und gelobt, aber das ist doch Teil des Jobs. Das macht mir nichts mehr aus. Was mir aber besonders am Herzen liegt, ist die Kritik meiner Familie. (lacht) Ihr Feedback nehme ich mir dann besonders vorsichtig auf.
Gibt es denn Menschen innerhalb deiner Familie, die dein musikalisches Schaffen kritisieren?
(lacht) Sie sind eben sehr ehrlich! Meistens kommen natürlich nur positive Worte, aber ich liebe meine Familie für ihre Aufrichtigkeit. Meine ganze Familie ist so verrückt und nett, ich liebe sie einfach allein für ihre Gesten der Aufmerksamkeit (lacht). Da gehört dann eben auch Kritik dazu, egal ob sie negativ oder positiv ist. Klar ist das manchmal hart, aber im Endeffekt ist es doch viel schöner zu sehen, dass deine Familie sich darum schert, was du machst.
"Es wäre cool, mal mit Ozzy Osbourne abzuhängen"
Ihr betreibt diesen kulturellen Austausch zwischen den USA, Mexiko und allen Ecken der Welt, in der Calexico-Platten gehört werden, jetzt schon seit mehr als 20 Jahren. Hat das dich als Person eigentlich verändert?
Du sprichst hier natürlich eine lange Entwicklung an. Aber am Anfang steht die Erkenntnis, dass du dich andere Menschen gegenüber öffnest. Dazu musst du dir natürlich erst darüber im Klaren werden, wer du selbst eigentlich bist. Das ist die Basis für alles Weitere. Unabhängig davon gibt es einen Teil von mir – wie bei vielen anderen Menschen auch – der allein meinem Ohr folgt. Das habe ich bisher immer getan: Ich habe keine Ahnung, warum ich portugiesischen Fado oder rumänischen Gypsy-Style mag. Man sollte sich auf gewisse Dinge einlassen, ohne viele Fragen zu stellen. Dadurch öffnet man sich irgendwann ganz automatisch – das fühlt sich sehr gut an. Besonders jetzt, da ich die Möglichkeit habe, Alben zu veröffentlichen und aufzutreten. Gestern haben wir in Nijmegen gespielt und eine befreundete Band eingeladen. Sie haben einerseits die Show eröffnet, andererseits haben wir unsere Zugabe mit ihnen gespielt. So wurde das hoffentlich auch fürs Publikum ein ganz besonderes Erlebnis. Inzwischen nehme ich vielleicht mehr Chancen wahr als früher und versuche, das Beste daraus zu machen.
Früher hatte eure Musik immer so eine Art Konsens-Charakter für mich. Ihr wart eine der wenigen Bands, die ich im Auto meiner Mutter anwerfen konnte, ohne dass sie sich beschwerte. Im Gegenteil: Sie hört euch inzwischen auch gerne. Hast du eine Idee, warum eure Musik so viele Menschen anspricht oder sogar verbindet?
Darüber habe ich mir tatsächlich schon öfters Gedanken gemacht. Eigentlich seitdem ich in den 90er-Jahren bei The Friends Of Dean Martinez gespielt habe. Wir haben Lounge-Musik gemacht und schon damals kamen unsere Freunde auf uns zu und sagten, dass sie unsere Platte gemeinsam mit ihren Großeltern und Eltern angehört hätten. Ähnliche Reaktionen gab es dann auf die zweite Calexico-Platte "The Black Light". Ich glaube, es liegt vielleicht daran, dass unsere Musik so abwechslungsreich und dynamisch ist. Und natürlich nimmt sie auch Bezug auf die Klassiker der Musikgeschichte. Die vielen Instrumentals helfen sicher auch dabei, der Musik genügend Raum zu verleihen: Der Gesang tritt in den Hintergrund und es gibt nur die Instrumente und den Moment. Auf jeden Fall bin ich froh, dass du diese Erfahrung mit deiner Mutter teilst (lacht).
Ich finde, die vereinende Kraft eurer Musik spiegelt sich im Publikum eurer Shows wieder. Schaut man sich euren Tour-Kalender an, dann scheint ihr auch großen Spaß daran zu haben. Ihr tourt so unglaublich ausdauernd! Jetzt bist du Mitte Vierzig. Verliert man da nicht langsam die Lust an der ganzen Sache?
Nein, denn ich liebe das Touren einfach. Und das eigentlich schon, seitdem ich gemeinsam mit John Calexico gegründet habe. Es gibt dir einfach die Möglichkeit, etwas anderes zu machen. Einige der Bandmitglieder haben inzwischen eine Familie, also ist es auch eine Herausforderung, das Touren mit der Zeit zu Hause abzustimmen. Ich kann es trotzdem nur noch mal betonen: Wir machen das aus Leidenschaft. Jeder von uns mag alle Aspekte daran, auf Tour zu sein. John Convertino [Drummer der Band], Jairo Zavala [Gitarre] und Sergio Mendoza [Keyboard] beispielsweise gehen jeden Tag zwei Stunden laufen. Unser Bassist Ryan fährt jeden Tag zwei Stunden Fahrrad. Wir kommen herum. John ist in Köln ja auf dieses Jeans-Label gestoßen und hat sich darin verliebt, so dass sie uns heute diese Ladung Denim-Jeans vorbei gebracht haben. Ich freue mich wirklich jedes Mal, täglich Leute zu treffen. Egal, ob du sie neu kennen lernst oder schon eine Weile lang kennst. Oder mit Journalisten wie dir eine halbe Stunde lang zu reden. Ich mag jeden einzelnen Teil meines Jobs. Natürlich vermisse ich meine Familie immens und es ist sehr hart für mich, so lange weg zu sein. Aber das, was ich jetzt mache, ist meine Berufung, seitdem ich ein Kind bin. Ich bin froh, dass ich das zum Job machen konnte. Das ist für mich nicht selbstverständlich. Die Sache macht mich immer noch sehr glücklich, andernfalls würde ich das wohl kaum machen. Wenn es nur bedeutet, Kleinigkeiten zu verändern – wie zum Beispiel jeden Tag die Setlist zu variieren. Oder letzte Nacht, als wir mit dieser befreundeten Band gespielt haben. Wir coverten diesen alten Song von Hank Williams, "The Angel Of Death", und einen von Dylan. Solche Dinge halten dich auf Trab und machen das Touren immer wieder aufs Neue spannend.
Wo du gerade mit Hank Williams und Bob Dylan wohl zwei eurer größten Vorbilder ansprichst: Wenn du die Wahl hättest, entweder in einer Desert-Death-Metal-Band mit Ozzy Osbourne oder in einer Tex-Mex-Dubstep-Band mit Taylor Swift zu sein – wofür würdest du dich entscheiden?
(Lacht) Oh Gott. Ich denke, dass ich wohl zur ersten Option tendieren würde. Es wäre sicher cool, mit Ozzy Osbourne herumzuhängen, weil er einfach so ein verrückter Typ ist und so viele Leute inspiriert hat. Aber jetzt, da ich Töchter habe, würde ein Teil von mir auch mal Taylor Swift begegnen wollen. Einfach um zu sehen, wie es ist, Vorbild für so viele Frauen und Mädchen zu sein. Aber aus meiner Perspektive wäre das Death Metal-Abenteuer sicher reizvoller. Das Witzige ist, dass viele Mariachispieler, die ich kenne, tatsächlich große Fans von Ozzy sind. Als wir live noch mit Mariachi-Band unterwegs waren, haben wir das oft gehört. Unser kleinster gemeinsamer Nenner war dann immer Led Zeppelin, weil wir das alle mochten. Wir haben damals auch ein Led Zeppelin-Cover mit den Mariachis gemacht. Das war ziemlich lustig.
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