Seit Ende der 90er Jahre brodelt und grollt es im Londoner East End. Im ohnehin in alle Richtungen wabernden, uferlosen Feld des UK Garage schleicht sich die Punk-Attitüde ein. Aus finsteren Basslines, scheppernden Snares, Hall, Samples und Stimmfetzen ballt sich eine nicht gerade kuschelige Soundwolke zusammen, in der Raps in aberwitziger Geschwindigkeit explodieren. Was ist das denn, bitte? Sublow, Dubstep, Eskibeat ... Bei Rephlex, dem Label von Richard D. James, bezeichnet man die Melange als "Instrumental Dance Music". Letztlich bleibt dem stinkwütend brüllenden Genrebaby der Name "Grime" anhaften.
Bei "Grime", so erklärt das allgemein anerkannte Oxford Advanced Learner's Dictionary, handle es sich um "Schmutz der sich in Schichten über Dingen ausbreitet". Schmieriger Ruß in den Gehörgängen? Na, vielen Dank. Matthew McKinnon von der kanadischen CBC bringt es auf den Punkt: "Grime ist schneller als Hip Hop, düsterer als Pop und kommt nirgendwo auch nur in die Nähe von Rock." Darüber hinaus britisch wie der Union Jack, rammt Grime gewaltsam eine Markierungsnadel in die musikalische Landkarte: London Is On The Map.
Aus dem aktuellen R'n'B schleichen sich zunehmend Melodien und Gesang in den Garage ein. Grime eliminiert diese verwässernden Einflüsse. Erste Grime-Klänge drischt um die Jahrtausendwende die So Solid Crew in den Äther. Zu den wegweisenden Tracks zählen das komplett auf einer Playstation 2 produzierte "Pulse X" von Musical Mob, sowie Wileys "Eskimo". "Wot Do U Call It?" Wiley, führender Kopf der Crew Roll Deep, bevorzugt den Begriff "Eski". Kurz für "Eskimo" trage diese Genrebezeichnung der im Grime transportierten emotionalen Kälte Rechnung. Wileys eigenes Label firmiert unter dem Namen Eskibeat.
Neben Wiley gilt ein weiterer junger Mann als Gründervater der neuen Strömung: Ehemals ebenfalls in den Reihen von Roll Deep zu Hause, schwingt sich Dizzee Rascal zum Star der Szene empor. Nach seinem Debüt-Track "I Luv U" zieht sein Album "Boy In Da Corner" erstmals die Aufmerksamkeit eines breiteren Publikums auf sich. Bisher fand Grime fernab vom Mainstream in Clubs oder aber - der klassische Verbreitungsweg abartiger Sounds - bei Piratensendern wie Raw Blaze oder Rinse FM statt. Dizzee Rascal aber kassiert für "Boy In Da Corner" den Mercury Prize 2003. Wiley legt 2004 mit "Treddin' On Thin Ice" nach. Lethal Bizzle steuert mit "Pow! (Forward)" eine wahre Hymne bei: Zehn Vokalisten teilen sich dreieinhalb Minuten Laufzeit, Gelegenheit zum Atmen bleibt da kaum.
Mit "Crews Control" erscheint bei einem Sublabel von Warner ein Sampler, der allerdings eher die Vorläufer von Grime beleuchtet. Als Einführung in das Genre und seine Protagonisten eignet sich statt dessen die Kollektion "Run The Road", die Anfang 2005 bei 679 zusammengestellt wird. Neben exklusiven Beiträgen von Roll Deep, Kano, Durrty Goodz, Ears and Wonder, Plan B und No Lay finden sich hier Tracks von Dizzee Rascal und The Streets. Der große Wurf des Jahres 2005 stammt dann schon gar nicht mehr aus einem Londoner Keller: Virus Syndicate tragen die Welle von Manchester aus mit "The Work Related Illness" weiter.
"Für amerikanische Ohren, die mit dem Real Thing aufgewachsen sind, hört sich Grime auf eine verstörende Weise falsch an - das Herausplatzen der MCs hat keinen Flow, die asymmetrischen Zahnlückengrooves scheinen halb fertig und defekt." Diesen Blödsinn verbreitet Simon Reynolds im britischen Observer und der Berliner tageszeitung. Wer den zu 140 Beats per Minute abgefeuerten Rhyme-Salven der Grime-MCs den Flow absprechen möchte, der putze sich doch bitte den Ruß aus den Ohren.